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Der Abgrund
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eBook237 Seiten3 Stunden

Der Abgrund

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Über dieses E-Book

Nach dem Verlust ihrer Lebensgefährtin Andrea, einer Schriftstellerin, gibt sich Laura dem Alkohol und Depressionen hin. Nach Monaten der Trauer taucht überraschend die Germanistikstudentin Anja auf, die eigentlich nach Andrea suchte - und sich in Laura verliebt. Es könnte eine harmonische Beziehung werden, doch Laura überredet Anja zu einer Reise nach Russland, wo das Abenteuer beginnt: Laura wird entführt, und Anja macht sich im kalten und weiten Sibirien auf die Suche nach der geliebten Freundin. Kann sie es schaffen, die Entführte zu retten?
SpracheDeutsch
Herausgeberédition eles
Erscheinungsdatum29. Apr. 2013
ISBN9783941598652
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    Buchvorschau

    Der Abgrund - Antje Küchler

    Antje Küchler

    DER ABGRUND

    Liebe, Action, Abenteuer und ein Happy End

    Originalausgabe:

    © 2001

    ePUB-Edition:

    © 2013

    édition el!es

    www.elles.de

    info@elles.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    ISBN 978-3-941598-65-2

    »Versprich mir, dass du nicht für den Rest deines Lebens um mich trauerst.«

    Andreas kaum hörbar gehauchte Worte trieben endlich Tränen in Lauras Augen. Um sie herum verschwammen die Konturen all der Apparate, die ihre geliebte Freundin noch am Leben erhielten, das regelmäßige Piep des hörbar gemachten Herzschlages rief in Laura ein Schauern hervor. Sie wusste, dass sich der Impuls jeden Moment in einen Dauerton verwandeln konnte, aber sie wünschte sich sehnlichst, dass es noch nicht so schnell so weit sein würde.

    Einzelne Tränen lösten sich von Lauras Gesicht und tropften auf Andreas Hand.

    »Warum weinst du denn jetzt schon, ich bin doch noch gar nicht tot. Oder vielleicht doch? Sieht so der Himmel aus?«

    Ein trauriges Lächeln huschte über Lauras Gesicht. So war sie, ihre unvergleichliche Andrea, selbst im Angesicht des Todes konnte sie immer noch scherzen. Laura wollte etwas entgegnen, brachte es aber nicht über die Lippen. Es gab so viel, was sie Andrea noch sagen wollte, doch sie saß nur stumm über das Bett gebeugt, Andreas Hand fest umschlungen, und weinte.

    Andreas Atmung wurde schwerer. Sie versuchte, etwas zu sagen, es drang jedoch nur ein heißeres Röcheln aus ihrer Kehle. Laura erstarrte. Die Angst vor dem Dauerton lähmte ihre Glieder, ließ ihren Magen sich krampfhaft zusammenziehen. Jedes einzelne Piep rief in ihr eine kurze Erleichterung hervor, ein kleines Aufatmen für eine halbe Sekunde – dann war die Angst wieder da.

    Lauras Schluchzen erfüllte den Raum. Sie konnte es nicht mehr ertragen. Warum nur, warum? Warum gerade Andrea – ihre geliebte, wundervolle Andrea?

    Plötzlich geschah es. – Der Ton setzte nicht mehr aus.

    Laura schrie verzweifelt auf und ließ sich laut weinend auf das Bett fallen. »Andrea! Nein, bleib bei mir – bitte!« Jegliche Beherrschung, die sie bisher hatte aufbringen können, nicht zuletzt auch, weil es Andrea so wollte, war von ihr gewichen. Trauer und Schmerz erfüllten sie – die Jahre mit Andrea waren die schönsten ihres Lebens gewesen. Wie sollte es nun weitergehen ohne sie? Sie konnte es nicht, sie konnte es nicht, konnte nicht weitermachen, wenn Andrea nicht mehr da war. Sie wollte mit ihr gehen, bei ihr sein, wieder mit ihr vereint. Sie schluchzte erneut zutiefst gequält auf, und krampfte ihre Hände um Andreas Betttuch, um ihre Finger, die anfingen, kälter zu werden. »Andrea«, flüsterte sie. »Andrea«, als ob sie sie damit aufwecken und zurückholen könnte.

    Eine Krankenschwester kam ins Zimmer, warf einen Blick auf das Bett und stellte leise die Apparate ab. Sie ließ Laura noch eine Weile allein und kam dann mit einem Pfleger zurück.

    »Wir müssen sie jetzt wegbringen«, sagte sie berufsmäßig tröstend zu Laura.

    »Nein!« Laura schrie erneut auf und warf sich schützend über das Bett und Andreas kühlen Körper. Nein, sie würde sie nicht wegbringen lassen, sie würde sie beschützen, bei ihr bleiben! Sie gehörten doch zusammen. Sie würde sich nicht von ihr trennen – niemals.

    Die Schwester versuchte vorsichtig, Laura wegzuziehen. Hysterisch schlug sie um sich. Beruhigungsspritzen waren die einzige Lösung. Laura fiel in einen komaartigen Schlaf.

    Das Aufwachen kam einem Schock gleich. Kaum, dass sie sich erinnerte, was geschehen war, brach sie wieder in Tränen aus. Noch etwas benommen von den Medikamenten stand sie auf und wankte in die Küche – die Küche, in der Andrea immer die leckersten Mahlzeiten zubereitet hatte –, um ein Glas Wasser zu trinken. Zwar stellte sie sich die Frage, wie sie von der Klinik nach Hause gekommen war, aber die Gedanken kreisten so wirr durch ihren Kopf, dass sie es aufgab. Sie zitterte am ganzen Körper. Draußen herrschten 32 Grad, aber das konnte sie nicht wahrnehmen.

    Stundenlang lag sie dann später da, im Bett, schlaflos, hoffnungslos, bis sie endlich irgendwann in der Nacht aufstand, um nach Schlaftabletten zu suchen. Sie fand eine halbvolle Packung, und die Pillen, die sie nicht mit ihren bebenden Händen quer im Raum verstreute, nahm sie – im Grunde viel zu viel. Doch dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie Andrea hatte geben müssen: Sich nichts anzutun. Weiterzuleben. Über den Schmerz hinwegzukommen. Laura betrachtete das Potential an auf dem Boden herumliegenden Tabletten. Die würden schon ausreichen, dachte sie bei sich. Aber sie rührte keine weitere an. Sie legte sich wieder hin und wurde schließlich vom Schlaf übermannt.

    In den nächsten Wochen sah man Laura einmal auf der Bank, wo sie sehr viel Geld von ihrem Konto abhob, und ab und zu im Supermarkt, wo sie literweise Alkohol kaufte. Ansonsten vergrub sie sich in ihrem Haus, die Rollläden heruntergelassen, ließ niemanden mehr herein und versuchte, ihren Schmerz und ihren Kummer im Alkohol zu ertränken.

    1

    Anja döste in der Hitze vor sich hin. Die Fenster des Seminarraumes standen zwar allesamt weit offen, aber die stickige Luft machte keine Anstalten, nach draußen entschwinden zu wollen. Vorn versuchte die Seminarleiterin, eine literaturwissenschaftliche Interpretation der Leiden des jungen Werther zu liefern, aber die StudentInnen hörten kaum zu, sehnten sich alle nach der Abkühlung durch ein erfrischendes Bad.

    Für Anja war es das letzte Seminar an diesem heißen Junitag. Eigentlich hätte sie gar nicht hinzugehen brauchen, aber aus einem ganz bestimmten Grund versäumte sie keine der Sitzungen. Sie sah nach vorne und begann zu träumen. Die gutaussehende Seminarleiterin kam auf sie zu, lächelte sie an, hauchte »Komm«. Während Anja davon träumte, mit ihrer Angebeteten eng umschlungen dem Konzert der Grillen in einer blühenden Sommerwiese zu lauschen – nicht zum ersten Mal –, entrang sich ihr diesmal ein tiefer Seufzer.

    Ihre Nachbarin stieß sie unsanft an. »Eh, was is’n mit dir los? Hast du Probleme?«

    Verwirrt blickte Anja auf. »Oh – ich – äh – nein.«

    »Falls du es nicht mitgekriegt haben solltest: Das Seminar ist aus. Wir dürfen heimgehen.«

    Unverzüglich leerte sich der Raum, nur Anja zögerte – es gefiel ihr gar nicht, die Frau ihrer Träume schon wieder verlassen zu müssen. Gemächlich schritt sie gen Ausgang, in der Hoffnung, vielleicht von ihr angesprochen werden, sobald sie beide allein wären. Doch wie jedesmal geschah nichts, und wie jedesmal breitete sich Enttäuschung in ihr aus.

    Sie ging zum Auto und träumte auf dem Weg, ein tolles Cabrio zu besitzen, mit dem sie angebraust kommen könnte, ihre Angebetete erblickend, die verzweifelt neben ihrem am Straßenrand liegengebliebenen Auto stand – Reifen platt. Anja würde sofort halten und ganz souverän das Rad wechseln, dabei natürlich arg bewundert, und gerade, als sie die Einladung zum Essen dankend annehmen wollte, prallte sie gegen ihr eigenes Auto. Sie war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen hatte, wo sie hinlief.

    Es war bereits später Abend an diesem Tag, als Anja dann in ihrem Studentenwohnheimszimmer müde vom Tippen beinah schon den Computer ausschalten wollte und dabei ihre Blicke über den Stapel Bücher glitten, die darauf warteten, von ihr gelesen zu werden. Plötzlich überfiel sie der Gedanke, über das Thema im Internet zu recherchieren, um da vielleicht interessantere Literatur zu finden – und um die Seminarleiterin zu beeindrucken, natürlich.

    Sofort begab sie sich auf die Reise durch virtuelle Welten. Ihre Angebetete würde staunen, und wenn Anja dann ihre Lieblingsstudentin war, konnten sie sich vielleicht einmal treffen, um über das Thema zu diskutieren, nur sie zwei – ganz allein . . .

    Sie gab einen neuen Suchbegriff ein und wartete auf die Antwort der Suchmaschine. Sie kam, aber es waren nur wenige Einträge in der Liste. Offenbar kein sehr interessantes Thema, das sie da recherchierte. Alles, was die Maschine ihr lieferte, kannte sie zudem schon, wie sie mit einem schnellen Blick erkannte.

    Sie ließ ihre Augen hinabgleiten bis an das untere Ende des Bildschirms. Da – ein neuer Name. Andrea Zimmermann. Wer war das? Den hatte sie ja noch nie gehört. Na ja, so weit unten würde es wohl kaum etwas bringen, aber sie klickte dennoch auf den Link – man konnte ja nie wissen.

    Ein Gedicht erschien auf dem Bildschirm. Oh Gott! Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Irgend so eine Möchtegern-Schriftstellerin mit ihren ätzenden Ergüssen. Die gab es mittlerweile ja nun leider zu Tausenden auf dem Internet, wo jeder und jede sich verewigen konnte, unabhängig von Begabung und Qualität. Sie wollte gar nicht erst hinschauen, Gedichte waren ihr ohnehin ein Gräuel.

    Sie fuhr mit ihrem Mauszeiger über den Bildschirm hinauf, um auf den »Zurück«-Knopf am oberen Rand ihres Browser-Fensters zu klicken. Der Mauszeiger blieb in der Mitte stehen, weil sie ihm unwillkürlich mit ihren Augen gefolgt war und ganz nebenbei schnell eine Zeile des Gedichtes gelesen hatte. Du lieber Himmel! Was war das? Das war ja – wunderschön.

    Eine unglaubliche Faszination ging von den Worten aus. So etwas hatte Anja noch nie erlebt. Und schon gar nicht bei einem Gedicht.

    Immer und immer wieder las sie es, vollkommen gebannt von den wenigen Zeilen, die so viel zu sagen vermochten. Nach einer Weile lehnte sie sich zurück. Warum hatte sie diesen Namen noch nie gehört? Andrea Zimmermann. Sie war großartig. Das musste doch schon einmal jemand aufgefallen sein. Hatte noch nie jemand etwas über sie geschrieben? Wer war sie?

    Ihre Recherche blieb eine Weile erfolglos. Beinah hätte sie es aufgegeben, da fand sie im Archiv des Lokalteils einer Tageszeitung einen Artikel über Andrea Zimmermann. In knappen Worten wurde geschildert, dass sie erst mit dem Schreiben begonnen hatte, als sie wusste, dass sie bald sterben würde. Die ersten Werke wurden veröffentlicht, als sie noch lebte, doch nach ihrem Tod wurde nichts mehr herausgegeben, obwohl – wie die Zeitung vermerkte – noch einiges vorhanden war. Als Herausgeberin zeichnete Andreas Lebensgefährtin, Laura Kirow, verantwortlich.

    Anja blickte hoch. Andreas Lebensgefährtin? Gefährtin? Sie war lesbisch? Noch einmal las Anja das Gedicht, und so manche Formulierung erschien nun in ganz anderem Licht.

    Anja ging zu Bett. Morgen würde sie in der Bibliothek nach den veröffentlichten Büchern suchen. Sie wollte unbedingt mehr über diese Frau erfahren. Eine Frau, dazu noch eine Lesbe, die solch ein Gedicht geschrieben hatte. Eine solche Tiefe, eine solche – Menschlichkeit. Dass es so etwas heutzutage überhaupt noch gab, in dieser kalten, gefühllosen Welt. Anja fühlte sich auf einmal nicht mehr so verlassen, wie sie es sonst oft tat.

    2

    Anja las die wenigen Bücher von Andrea Zimmermann, die sie aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, in den nächsten Tagen mehrmals, so sehr faszinierten sie Stil und Inhalt. Mehr als diese Werke gab es aber anscheinend wirklich nicht. In Anja hatte sich jedoch schon fast eine Sucht nach den Worten Andrea Zimmermanns entwickelt, die die ihr bekannten Texte nicht mehr zu befriedigen vermochten.

    Es gab noch mehr, hatte die Zeitung behauptet. Die ehemalige Lebensgefährtin, Laura Kirow, wohnte in Reiningen im Schwarzwald, das hatte der Artikel ebenfalls verraten. Mit Feuereifer suchte Anja die Adresse aus dem Telefonbuch auf dem Internet heraus. Noch in dieser Nacht schrieb sie einen Brief an Laura Kirow und warf ihn hoffnungsvoll in den Kasten. Dann wartete sie auf Antwort . . .

    Sie wird schreiben . . . bestimmt, dachte Anja – zwei Tage später, drei . . . eine Woche lang, jedes Mal, wenn sie vormittags zum Briefkasten lief, klopfte ihr Herz schnell und erwartungsvoll. Doch nach zwei Wochen gab selbst Anja die Hoffnung auf, Laura Kirow würde sich wohl nicht bei ihr melden. Da der Brief allerdings nicht zurückgekommen war, musste sie tatsächlich noch in Reiningen wohnen. Weshalb meldete sie sich nicht? Hatte sie so viel zu tun? War sie im Urlaub? Fragen über Fragen . . . und langsam verließ Anja die Geduld. Sie musste handeln, und zwar bald. Sie war kein Mensch, der warten konnte.

    Sie wollte mehr erfahren über Andrea Zimmermann, mehr von ihr lesen, mit Laura Kirow sprechen, um zu hören, wie sie gewesen war. Noch einen Brief schreiben? Vielleicht war der erste ja ungeöffnet im Papierkorb gelandet? Ein wenig regte sich der Ärger in ihr, als sie daran dachte, wie lieblos eventuell irgendein Mensch, Laura Kirow oder jemand anders, mit ihrem Schreiben umgegangen war. Diesem Schreiben, das so viel Gefühl enthielt, so viel Sehnsucht. Auch wenn das vielleicht nicht direkt in den Zeilen stand, sondern mehr dazwischen.

    Anja überwand ihre angeborene Schüchternheit und rief bei Laura Kirow an. Der Anschluss sei vorübergehend nicht erreichbar, teilte ihr eine unbeteiligte Frauenstimme auf einem Band mit. Also doch Urlaub? Wie konnte sie das erfahren? Sie wartete weitere zwei Wochen. Vielleicht war der Urlaub ja dann zu Ende. Zwischendurch las sie immer wieder Andrea Zimmermanns Texte, das wenige, was sie hatte, und sehnte sich nach mehr.

    Sie wählte nach Ablauf der zwei Wochen noch einmal Laura Kirows Telefonnummer. Nun wurde ihr ebenso unbeteiligt wie das erste Mal mitgeteilt, dass der Anschluss stillgelegt sei. Laura Kirow war weggezogen? Oh nein! Wie sollte sie sie dann erreichen? Sie musste wissen, wo sie hingezogen war.

    Sie bemühte das Einwohnermeldeamt des Städtchens. »Nein«, sagte ein Beamter am Telefon, der sich Mühe gab, die Frauenstimme auf dem Band der Telekom in Unbeteiligtheit zu schlagen, »sie ist nicht weggezogen. Sie wohnt noch da, soweit ich weiß.« Seine Stimme klang nicht sehr freundlich, fast abschätzig.

    »Meinen Sie also«, Anja schluckte ein wenig, »dass ich sie besuchen könnte?« Sie musste es einfach tun, wenn es keinen anderen Weg gab.

    Eigentlich hätte das dem Beamten ja völlig egal sein können, aber Anja hatte richtig vermutet: In so kleinen Orten kannte jeder jeden, und er offensichtlich auch Laura Kirow. »Wenn sie Sie einlässt«, sagte er etwas verächtlich. »Da ist sie jedenfalls immer.« Er legte auf.

    Das klang komisch. Aber wer konnte schon wissen, was es bedeutete? Da sie sie anders nicht erreichen konnte, blieb ihr wohl keine andere Wahl, dachte Anja seufzend und auch ein wenig aufgeregt: Sie musste zu Laura Kirow hinfahren, um persönlich bei ihr vorzusprechen. Aber war das nicht zu aufdringlich? Was hatte der Beamte gemeint mit »Wenn sie Sie einlässt . . .«?

    Und es war weit, sehr weit. Hier von Chemnitz bis da hinunter in den Schwarzwald – quer durch Deutschland. Doch Anjas Neugier war einfach zu groß. Schließlich packte sie ihren Verstand in die hinterste Ecke ihres Gehirns und anschließend ein paar Sachen zusammen und fuhr in Richtung Süden los.

    Nach ermüdenden acht Stunden Fahrt passierte sie endlich das Ortseingangsschild des Dorfes. Nun musste sie nur noch die Kirchstraße finden, das war die Adresse, Nummer 27. Doch da in solchen Orten alles seine Ordnung hat, war die Kirchstraße natürlich auch genau dort, wo sich die Kirche befand, die sich weit sichtbar aus den Häusern erhob.

    Als Anja das Straßenschild entdeckte, begann ihr Herz, etwas schneller zu schlagen. Gleich würde sie ankommen . . . gleich kam der Augenblick der Wahrheit. Fast schon wollte Reue sie überfallen, und beinah hätte sie gezögert und wäre gar wieder zurückgefahren, da gab sie sich einen Ruck, legte den Gang ein und fuhr langsam die einzelnen Grundstücke ab, bis sie die letzte Zahl vor 27 erblickte – und sich sofort sagte: Nein, das kann nicht sein, hier liegt ein Fehler vor. Lauras Adresse konnte nicht die Nummer 27 sein, das war völlig unmöglich.

    Grübelnd hielt Anja vor dem Haus, stieg aus dem Auto und starrte fassungslos auf das Grundstück: Alle Gärten in dieser Gegend waren ordentlich und gepflegt, die Wände der Häuser so strahlend weiß, als würden sie regelmäßig mit Persil gewaschen. Anja jedoch stand vor einem verwilderten Garten, der Zaun war am Zusammenfallen, das Dach des Hauses wirkte reparaturbedürftig, die Gardinen hinter den Fenstern mussten seit dem vorigen Jahrhundert da hängen – schwer vorstellbar, dass die einmal weiß gewesen sein sollten.

    Vielleicht fünf Minuten stand Anja vor dem Garten, verzweifelt eine Hausnummer suchend. Schließlich fasste sie sich ein Herz und wollte die Gartenpforte öffnen, hielt diese aber nach einem kurzen Ruck schon in der Hand, die Scharniere waren völlig verrostet. Ständig murmelnd »Hier wohnt doch keiner! Das ist nicht Lauras Haus!« ging sie – nein, stieg sie – durch das hohe Gras auf die Haustür zu.

    Die Fragmente einer Klingel versuchte Anja gar nicht erst auf die Probe zu stellen – sie würde eh nicht funktionieren. Also klopfte sie an, erst vorsichtig und verhalten, als sich aber niemand meldete, hämmerte sie stärker gegen die Tür, welche ob des größeren Druckes schließlich aufsprang. Anja erschrak, als sie plötzlich ins Dunkel des Hauses blicken konnte. Ein seltsam modriger Geruch drang in ihre Nase, der sie sofort wieder vor sich hinmurmeln ließ: »Hier kann unmöglich jemand wohnen!«

    Aber die Neugier trieb sie voran, und da war noch irgend etwas in ihr, das ihr sagte, sie solle nicht eher gehen, als bis sie das Haus besichtigt hätte. Sie trat über die Schwelle und hielt erst einmal inne, um ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen zu lassen. Sobald sie sehen konnte, offenbarte sich ihr ein unschöner Anblick: Überall lagen Flaschen herum, teilweise waren sie umgekippt, ohne völlig leer zu sein, und hatten dunkle, übelriechende Flecken in dem Ding, das in seinem früheren Leben wohl einmal ein Teppich gewesen sein musste, hinterlassen. Sämtliche horizontalen Flächen waren mit Gerümpel bedeckt, nicht aufgebrauchte Nahrungsmittel schimmelten vor sich hin, und das Ganze wurde von einer dezenten, mehrere Zentimeter dicken Staubschicht bedeckt.

    Anja packte das pure Entsetzen. So, wie die Wohnung aussah, musste doch jemand darin wohnen, denn einige Sachen wirkten recht neu. Aber wer konnte es in diesem Dreck aushalten? Ein Horrorszenario baute sich vor Anjas geistigem Auge auf, und am liebsten wäre sie sofort weggelaufen, da hörte sie ein Geräusch aus dem Zimmer nebenan. Anja

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