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Dorfland
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eBook307 Seiten4 Stunden

Dorfland

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Über dieses E-Book

Als Runa am Morgen erwacht, ist nichts mehr so, wie es gestern noch war. Aron und Fera sind spurlos verschwunden, aber nicht nur sie. Ganz Dorfland ist verwüstet und niedergebrannt, und von den Menschen fehlt jegliche Spur. Verzweifelt und auf sich alleine gestellt versucht Runa in ihrem Zuhause zu überleben. Doch ihre Einsamkeit ist nicht von langer Dauer, denn die Bewohner eines alten Zauberbuches ermutigen sie zu einem gefährlichen Abenteuer. Zusammen mit den Hutlingen Heno und Henora und dem Igel Bronto begibt sie sich auf eine Reise ins Ungewisse.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. März 2016
ISBN9783738064032
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    Buchvorschau

    Dorfland - Rebecca Hünicke

    Prolog

    Bewohner Dorflands

    Runa, die Büchernärrin

    Fera, ihre Tante

    Aron, ihr Onkel

    Enna und Jacob Birka, Nachbarn und Freunde

    Olef, der Buchhändler

    Lora, die Magd

    Bewohner in dem Buch „Die Waldgeschichten"

    Bronto, der Igel

    Heno und Henora, die Hutlinge (Sommerwald)

    Teno und Tana (Herbstwald)

    Yuro und Yena (Winterwald)

    Faryn und Fory, die Buntlinge (Frühlingswald)

    Bewohner im Ahornwald

    Jonora, Kind des Waldes

    Greson, der Halunke

    Bewohner in Flussland

    Die Geschwister:

    Esor, der ältere Bruder (Narbengesicht)

    Eson, der jügere Bruder

    Esa, ihre jüngere Schwester

    Amo, der Weise

    Jorond, der Händler

    Zeron, der Herrscher

    Die lodernden Flammen im Kamin erhellten den Raum. Das Knistern und Knacken des glüh- enden Holzes verliehen ihm eine beruhigende Gemütlichkeit. Immer wieder wehten die Fun- ken des Feuers umher, als ob jeder einzelne die Aufgabe hätte, als schnellster am höchsten zu fliegen, nur um dann zu verglühen. Das ewig scheinende Tanzspiel, in dem sie zu ertrinken drohte.

    Das Knacken des berstenden Holzes erklang lauter in ihrem Kopf. Es war so mächtig und be- herrschend. Sie war erfüllt von diesem Klang, der sie mehr und mehr in ihren Bann zog und alles andere um sie herum vergessen ließ. Es gab nur sie, umgeben von ihren liebsten Freun- den, die sie verstanden und immer da waren. Sie entführten sie, verwandelten sie, schenkten ihr ein erfülltes Leben. Durch sie wusste sie, wer sie war.

    Ihre geliebten Bücher waren wie Magie, sie verzauberten alles und jeden. Egal wohin sie wollte, sie wiesen ihr den Weg oder schickten sie in ungeahnte Welten und Abenteuer. Kein Weg schien zu weit und es gab kein Problem, für das sich keine Lösung fand. Auf ihre Bü- cher war Verlass. Nie könnte sie ohne sie leben- ihr Leben hätte keinen Sinn.

    Kapitel 1 Böses Erwachen

    Runa fühlte sich nicht wohl und war in der Bibliothek eingeschlafen. Eigentlich wollte sie in ihre Schlafkammer gehen und sich ausruhen, hatte es aber nicht schaffen können aufzustehen. Das Mädchen ließ sich in den Schlaf entführen, mit dem Wissen, ihr Körper würde es ihr nicht danken, im Sessel zu schlafen.

    Als sie erwachte, glaubte sie ewig geschlafen zu haben. Alles schien wirr in ihrem Kopf. Was waren das für Schreie in ihrem Traum? Und wer hat da überhaupt geschrien? Und warum schienen ihr diese Schreie so real, obwohl sie doch geträumt hatte? Es war kein wohltuender Schlaf gewesen. Runa fühlte sich, als ob ihr der Himmel mit all seinen Gestirnen auf den Kopf gefallen wäre. Alles war nur ein böser Traum.

    Sie zog ihre karierte Flickendecke von sich und ließ sie auf den Boden sinken. Mit schmerz- enden Gliedern raffte sie sich auf. Ihr Rücken und ihre Beine ließen sie ihre Unvernunft deut- lich spüren. Der pochende Schmerz, der durch ihren Rücken wanderte bis hoch in ihren Nak- ken, ließ sie kurz aufschreien. Das Bedürfnis in ihr Bett zu gelangen wurde groß.

    Ungelenken Schrittes verließ das müde Mädchen die Bibliothek, schleppte sich die Treppe zur Eingangshalle hinauf, um in ihre Schlafkammer zu gelangen. In Gedanken mit sich und ihren Schmerzen beschäftigt, fiel ihr die Veränderung im Haus zunächst nicht weiter auf. Vielleicht sollte ich mir noch einen Tee mit ins Bett nehmen, der wärmt mich noch ein wenig auf und beruhigt vor dem Einschlafen.

    Runa betrat die Küche und sah das Durcheinander, umgekippte Schemel und zerbrochenes Geschirr. Sie rief nach Fera, ihrer Tante und Aron, ihrem Onkel, wollte wissen, wo sie seien und was passiert war. Trotz der Schmerzen lief Runa durchs Haus, schaute in jeden Raum, quälte sich die Stiege zum Dachboden hinauf und warf jedes Mal einen Blick aus einem der Fenster, aber niemand war zu sehen. Es reagierte keiner auf ihre Rufe, weder ihre Tante, noch ihr Onkel.

    Das Mädchen dachte an den Garten, vielleicht waren sie ja dort. Die Angst, die sie langsam beschlich, ließ sie ihre Schmerzen vergessen. Fast panisch rannte sie aus dem Haus. Erneut rief sie nach ihren Verwandten. Sie wissen doch, dass ich keine Versteckspiele mag. Sie wur- de panischer und fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Das darf nicht sein. Dieser Albtraum darf sich nicht wiederholen. Ich darf Fera und Aron nicht auch noch verlieren.

    Runa spürte, dass das Hämmern und Pochen in ihrem Kopf zunahm. Kalter Schweiß lief ihr über den Rücken und Sterne tanzten vor ihren Augen. Nein! Ich darf jetzt nicht umfallen. Ich muss sie finden. Es ist nur ein schlechter Scherz. Gleich ist alles wieder gut. Fera und Aron würden mich nicht verlassen. Das dürfen sie einfach nicht. Nein, sie nicht auch noch.

    Gegen ihre Ohnmacht ankämpfend und von Ängsten geplagt setzte Runa einen Fuß vor den anderen, Richtung See. Zu ihrem See, der sie an heißen Sommertagen zu sich einlädt, in ihm zu baden oder mit ihren Büchern an seinem Ufer zu liegen, um dort zu lesen.

    Vor einem Jahr ging sie wie so oft schon zum See und machte dort die schrecklichste Erfah- rung ihres Lebens. Der See hatte ihr ihre Eltern genommen. Erst dachte sie, ihre Eltern hätten sich ein komisches Spiel überlegt, so wie sie dort auf der Wasseroberfläche trieben. Aber dann fragte sie sich, warum sie dies tun sollten. Sie mochten keine Spiele, sie mochten es nicht, sich um ihr Kind zu kümmern. Runa hatte sich schon oft gefragt, ob sie sie überhaupt registrierten. Das Zusammenleben mit ihren Eltern war für sie kein Familienleben. Ihre Mut- ter und ihr Vater lebten ein Leben, als ob es sie gar nicht gäbe. Sie war fast immer alleine und auf sich gestellt.

    Mit einem mulmigen Gefühl ging das Mädchen ans Ufer des Sees. Sie sprach ihre Eltern an, sie könnten aus dem Wasser kommen, denn es wäre nicht komisch. Das verwirrte Mädchen konnte sich nicht entsinnen, jemals Spiele mit ihnen gespielt zu haben, das wollte sie jetzt auch nicht mehr. Sie sei jetzt dreizehn Jahre alt, also zu alt für solche Spiele.

    Da erst bemerkte sie die rote Färbung des Wassers und auch, dass ihre Eltern bekleidet auf dem Wasser trieben. Eigentlich hätte sie schreien müssen, aber sie konnte nicht. Der Schock lähmte diese natürliche Reaktion.

    Sie fragte sich, was sie tun solle und warum ihr niemand half. Runa konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange sie dastand und ihre Eltern ansah. Sie weiß nur noch, dass sie ins Wasser ging und ihre Eltern aus dem Nass herauszog.

    Dieser Albtraum darf sich nicht noch einmal wiederholen. Wie gebannt starrte Runa auf den See, ob sich der Abgrund vor ihr erneut öffnete. Der See zeigte keinerlei Veränderung. Ihr schien er so zu sein, wie sie ihn noch gestern gesehen hatte. Das Wasser bewegte sich in sanf- ten Wellen, angetrieben vom Wind, der sein Rauschen aus dem Wald zu ihr herüber wehte. Schreiend und lachend zugleich sackte Runa zusammen und landete auf ihren Knien im ho- hen Gras. Im ersten Moment war sie erleichtert, weil Fera und Aron nicht leblos auf dem Wasser trieben und dann doch wieder panisch, weil sie sie nicht gefunden hatte.

    Ich muss sie finden. Tränen überströmt stützte Runa sich auf ihren Händen auf, stand auf, atmete dreimal tief durch und blickte sich langsam in ihrer Umgebung um. Ich muss nach- denken, ruhig bleiben. Wo könnten sie sein? Was könnte passiert sein? Während Runa ihren Fragen nachging, drehte sie sich dabei mehrmals im Kreis und betrachtete dabei die alten Ei- chen und Kastanien, die das Grundstück wie einen Ring umgaben, als ob ihr Zuhause eine Welt für sich sei.

    Ihre nächsten Nachbarn, das alte Ehepaar Birka lebte in ihrer Nähe. Vielleicht brauchten sie dringend Hilfe und Aron und Fera hatten keine Zeit, eine Nachricht zu hinterlassen oder sie zu wecken. Aber was das Chaos zu bedeuten hatte, war ihr nicht verständlich. Man wirft doch keine Sachen durch die Gegend, wenn man um Hilfe gebeten wird. Was ist nur passiert?

    Wenn Runa Abwechslung von ihren Büchern brauchte und die Natur genießen wollte, strebte sie gerne Spaziergänge an, die stets an Birkas Haus vorbeiführten. Sie mochte die alten Men- schen sehr gerne. Jacob und Enna waren freundliche und gütige Menschen. Enna hatte immer einen liebevollen Blick, der ihre blauen Augen strahlen ließ wie ein Ozean. Ihre kleine spitze Nase, auf der sie eine Brille trug, passte genau in ihr liebevolles Gesicht. Nur die schneewei- ßen Haare und die faltige Haut erinnerten daran, wie alt sie eigentlich war. Obwohl sie bereits über achtzig Jahre alt war, war sie so lebendig wie ein Kind.

    Jacob war für Runa wie ein altes, geliebtes Buch, was man nur anschauen brauchte, um sich verstanden zu fühlen. Er war recht wortkarg und oft mürrisch, aber er war genauso liebens- wert wie Enna. Man musste Jacob einfach kennenlernen, um dies zu verstehen. Er war kaum älter als seine Frau, wirkte aber um so viele Jahre älter und gebrechlicher als sie. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, verfolgte Jacob seine Enna mit seinen großen braunen Augen so liebe- voll, dass man das Gefühl hatte, seine ganze Liebe für seine Frau stecke in einem einzigen Blick.

    Ohne zu wissen, was wirklich geschehen war, ließ Runa das Gefühl der beklemmenden Angst nicht los. Sie musste Gewissheit haben. Mit noch zittrigen Beinen und pochendem Herzen be- schloss sie sich auf den Weg zu ihren Nachbarn zu machen. Nach wenigen Augenblicken hat- te sie den Baumring durchbrochen und blickte in die Ferne, mit der Hoffnung, ein Lebens- zeichen von Aron und Fera ausmachen zu können. Bereits nach einem kurzen Stück Weg er- reichte sie die Abbiegung, die zum Haus der Birkas führte.

    Als Kind befand Runa es für äußerst wichtig, dass jeder der an dieser Gabelung vorbei käme, wisse, zu wem dieser Weg führte. In liebevoller Arbeit hatte sie mit Jacob ein Straßenschild gezimmert, das sie selbst bemalt und beschrieben hatte: HIER GEHT ES ZUR LIEBEN ENNA UND ZUM LIEBEN JACOB- HAUS NR.1 AM STADTRAND. Der Schriftzug ist bereits verblasst, aber noch gut leserlich, nur das Baumgrün, wie Runa die selbst gemischte Farbe nannte, war über die Jahre völlig abgeblättert.

    Den Weg, den Runa stets in kurzer Zeit hinter sich gelassen hatte, schien ihr dieses Mal endlos. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Schritt, den sie Richtung Haus machte, auf der Stelle zu laufen und es nie erreichen zu können. Je näher sie dem Haus kam, desto ruhiger erschien ihr die Umgebung. Kein Vogelgezwitscher oder Kindergeschrei war zu hören oder Bauern, die fröhlich pfeifend die Ernte auf den Feldern einholten- nichts zu hören. Solch eine Stille hatte sie unterwegs noch nie erlebt.

    Das Pochen ihres Herzen nahm zu und Übelkeit stieg in ihr hoch, so stark, dass sie be- fürchtete, sich übergeben zu müssen. Mit aller Macht kämpfte sie dagegen an. Sie hatte nur diesen einen Gedanken: Was ist in Dorfland passiert? Um Ihre Übelkeit zu vertreiben, atmete Runa einige Male tief ein und aus und da roch sie es- Feuer. Von Panik erfasst nahm sie all ihre Kraft zusammen und rannte los. Sie rannte auf den Hügel, der für sie eine Abkürzung war, anstatt um das Maisfeld herumzulaufen. Auf der Anhöhe blieb sie stehen und musste mit Schrecken ansehen, dass das kleine Häuschen von Jacob und Enna abgebrannt war. Eine klei- ne Rauchsäule stieg aus den Trümmern empor und verteilte sich triumphierend über ihr Machwerk.

    Hektisch schaute sie sich um und schrie nach den beiden. Runa rannte den Hügel hinab, stolperte und schürfte sich den linken Arm auf. Die Wunde entließ ein blutendes Rinnsal von sich, das ihr den Arm entlang floss und in ihrem Ärmel verschwand. Ohne sich weiter um ihre Verletzung zu kümmern, stand sie auf und lief zum Gartenzaun, der den Krieg des Feuers wie ein Wunder überlebt hatte. Runa bot sich ein groteskes Bild, eine eingerahmte Katastrophe.

    Tränen liefen ihr über die Wangen, die in ihrem Hemd versickerten. Runa stand an der Gar- tenpforte und hielt diese umklammert, als sei es ihre Aufgabe, sie vor dem Umfallen zu schüt- zen. Ohne es zu bemerken, verstärkte sie den Druck ihrer Hände und die Rillen des Holzes zeichneten sich bereits in ihren Händen ab. Nicht auch noch Jacob und Enna. Vielleicht konn- ten sie sich noch mit Fera und Aron in die Stadt retten. Wo sollten sie sonst alle sein? Ohne sich noch weiter umzuschauen, verließ Runa den Schreck geweihten Ort und begab sich auf den Weg in die Stadt.

    Nach wenigen Schritten konnte Runa bereits den Stadtturm mit der kleinen gusseisernen Glocke erblicken, die Harro, der Schmied, gegossen hatte. Der Stadtturm hatte bereits viele hundert Jahre ein Glocke besessen, aber nach einem Überfall vor rund zehn Jahren brauchte der Turm einen neuen Gefährten an seiner Seite. Der Stadtturm ohne seine Glocke wäre für die Dorfländer so, als ob ihnen die Luft zum Atmen fehle. Dieser Turm war ihr Wahrzeichen, ihre Identität.

    Sein Anblick bescherte ihr ein mulmiges Gefühl. Mittlerweile wusste sie schon gar nicht mehr, was sie denken sollte. Vielleicht sollte ich lieber umkehren, zurück in meine Bibliothek? Me- chanisch lief sie auf den Turm zu, ohne Vorsicht, was sie erwarten könnte. Ohne zu wissen, ob ihr gerade der letzte Augenblick ihres Lebens bevorstünde. Was habe ich noch zu verlieren? Das Mädchen hatte noch keine Gewissheit erhalten, was mit ihren geliebten Menschen pas- siert war. Irgendetwas in ihrem Herzen ließ sie spüren, dass sie sie vergeblich suchte.

    Auch in der Stadt machte sie die gleiche Entdeckung wie zuvor bei Jacob und Enna. Überall stiegen Rauchsäulen aus den Ruinen empor. Häuser, die nicht abgebrannt waren, waren fürch- terlich verwüstet, als ob ein schrecklicher Sturm durch sie hindurch gefegt wäre. Zersplittertes Glas bedeckte den Boden und die verendeten Tiere waren von grausamen Verletzungen ge- zeichnet. In manchen Trümmerhaufen ließ sich noch das eine oder andere Teil eines Möbels oder Geschirrs identifizieren.

    Die Weberey war den Flammen nicht zum Opfer gefallen, aber ihr Innenleben lag achtlos auf der Straße verteilt. Millys Spinnrad, das mit gefärbter blauer Wolle bestückt war und Lous Webrahmen, auf dem sich bereits das werdende blaue Tuch abzeichnete. Die beiden Schwes- tern liebten ihre Arbeit. Für sie gab es nichts Schöneres, als ihre Mitmenschen in ihre wunder- vollen Stoffe zu hüllen. Ihrer beider Leben war zerstört. Gegenüber der Weberey sah sie le- diglich einen Ofen stehen. Die Bäckerey, die ihn umgab, existierte nicht mehr. Verkohlte Mehlsäcke säumten den Weg, der einst an der Backstube vorbeiführte. Ein Holzschieber lag angekohlt auf der Straße, nichts weiter ließ verlauten, dass hier mal die Bäckerey von Elef, dem Bäckermeister, gestanden hatte.

    Mit Entsetzen musste Runa an Olef, den alten Buchhändler, denken. Sein Buchladen befand sich nicht direkt am Marktplatz. Zu ihm gelangte man durch die Leysegasse, die sich zwi- schen dem Barbier Hareys und Nores Tee- und Kaffeehaus befand. Bitte! Bitte nicht! Der La- den, die Bücher- bitte habt überlebt! Olef, ich brauche doch dich und deine Bücher. Mein Le- ben, meine Träume- ohne sie bin ich nichts. Völlig trunken von dieser Vorstellung lief Runa auf die Leysegasse, ohne nach links oder rechts zu schauen. Sie hatte jetzt nur dieses eine Ziel- Olefs Buchladen.

    Am Ende der Gasse angekommen, hielt sie an und schaute sich um. Vor ihr lagen zertrüm- merte Tische und Stühle, eine Tafel, auf der noch halb das Tagesangebot zu lesen war. Runa befand sich vor Alessas Café. Ich bin zu weit gelaufen, ich kann doch nicht den Buchladen übersehen haben, das kann doch nicht sein, ich würde ihn doch blind finden. Langsam drehte sie sich um, da erst sah sie die Katastrophe. Das Feuer hatte sie nur im Vorbeilaufen vage wahrgenommen, weil sie sich nicht wirklich vorstellen konnte, den Buchladen nicht mehr vorzufinden.

    Erneut liefen ihr Tränen wie Sturzbäche über die Wangen. Ihr Blick war völlig durch sie ge- trübt. Immer wieder wischte sie sie mit den Ärmeln ihres Hemdes fort, aber konnte sie damit nicht aufhalten. Viele neue Tränen folgten. Schluchzend kehrte Runa um und näherte sich Olefs Laden oder dem, was noch von ihm übrig geblieben war- nichts.

    Die uralten Walnussregale, in denen unzählige Bücher ein Zuhause hatten, waren restlos ver- brannt. Olef kannte jedes Buch, teilte jedem liebevoll einen eigenen Platz zu. Nie hätte er auch nur eines in irgendwelchen Kisten gestapelt und vergessen. Jedes wurde jeden Tag von ihm angeschaut, bis es für ein neues Heim bestimmt war. Ein neues Buch, das seinen Weg zu Olef fand, wurde nicht einfach dort abgestellt, wo gerade Platz war. Er machte sich stets mit ihm bekannt und vertraut und überlegte dann, wo es sich wohl geborgen fühlte. Mal gab es zufällig eine Lücke, in die ein Buch direkt passte, aber meistens stellte er seine Bücher um, damit es ein stimmiges Bild ergab und Olef beruhigt sein neues Buch platzieren konnte.

    Olef hatte sich immer einen Sohn gewünscht, dem er seine Liebe und sein Verständnis für Bücher weitergeben konnte. Seine Frau Ola war schon vor langer Zeit gestorben. Ihr und Olef waren gerade zwei gemeinsame Jahre geschenkt worden, bevor Ola an einer unheilbaren Krankheit starb. Ihnen war es nicht vergönnt, bis zu ihrem Tod ein Kind zu haben. Bis heute war der Buchhändler nicht über den Verlust seiner geliebten Frau hinweggekommen.

    Jedes Mal, wenn der reisende Händler bei ihm Halt machte, um ihn mit neuen Büchern zu be- liefern, kehrte der Schmerz über den Verlust zurück. Wie gern hätte er Ola die neuen Bücher gezeigt und ihr daraus vorgelesen. Jedes einzelne Buch war wie ein Kind für ihn. Sie waren alles, was ihm noch im Leben geblieben war. Nun war alles verbrannt, alles war vergebliche Mühe und Arbeit. Unzählige Stunden hatte Olef mit ihnen verbracht, damit ihnen ein langes Leben gegeben war.

    Der Verlust der geliebten Bücher schmerzte Runa erbarmungslos. Alle Träume waren zerstört. Nie wieder werde ich neue Bücher bekommen. Was hat mein Leben noch für einen Sinn? In meinem Leben wird es für mich keine neuen Bücher, keine neuen Träume mehr geben. Das Mädchen hatte ja noch ihre eigenen Bücher, aber diese Träume waren größtenteils gelebt und die, die noch übrig blieben, würden irgendwann aufgebraucht sein. Ein Leben ohne Bücher, die ihr neue Träume schenkten, war für Runa undenkbar.

    Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, huschten Runas Augen über das Trümmerfeld, was einst Olefs Buchladen gewesen war. Nicht ein Buch hatte überlebt. Nicht ein kleines Buch, was Schutz zwischen den größeren Büchern gehabt hätte, um überleben zu können. Nur kleine Papierfetzen blickten zwischen den Steinen hervor. Die Flammen hatten es nicht mehr geschafft, sie ganz auszulöschen. Das kleine Feuer, das in der Mitte des ehemaligen Ladens brannte, hatte auch Olefs Leben zerstört. Die lodernden Flammen bildeten eine Krone- eine Krone des Triumphes.

    Denn dort, wo das Feuer thronte, hatte der alte Eichenschreibtisch gestanden, an dem der alte Büchernarr gesessen hatte, wenn er seine Bücher studierte. Runa kannte kein anderes Bild von Olef, wenn sie an seinem Buchladen ankam. Immer saß er auf seinem Schemel, ein Buch auf dem Tisch, über das er gerade gebeugt las. Dieses Bild schien wie einmal gezeichnet und dann für immer für sie aufgestellt zu sein. Olef trug auch jedes Mal seine grünkarierte Hose, sein beiges Hemd und seine abgetragene Strickjacke, an der schon alle Knöpfe fehlten. Nie wieder würde sie dieses Bild sehen, nie wieder würde sie an Olefs Buchladen ankommen.

    Der Anblick des zerstörten Buchladens ließ sie erschauern und eine Eiseskälte durchfuhr sie. Zitternd nahm sie Abschied von einem Ort, der einer der schönsten für sie war, an dem sie sich wohl und geborgen gefühlt hatte. Nach zwei Schritten stieß Runa gegen einen Gegen- stand, der scheppernd zur Seite rollte. Bei näherer Betrachtung kam er ihr vertraut vor. Sie hob ihn auf, ließ ihn aber sofort wieder fallen, denn er brannte auf der Haut ihrer Handflächen. Reflexartig rieb das erschrockene Mädchen ihre Handflächen aneinander und pustete kühle Luft hinzu, damit ihre Hände schneller abkühlten. Runa zog ihre Hände in die Ärmel ihres Hemdes, damit sie durch den Stoff geschützt waren und hob den Gegenstand erneut auf. Sie spürte die Wärme durch das Hemd an ihre Hände dringen, aber dieses Mal war es erträglich.

    Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war die kleine Messingglocke, die läutete, wenn man die Eingangstür zum Buchladen öffnete. Olef war meistens so in Gedanken versunken, dass er selten bemerkte, wenn jemand seinen Laden betrat und nichts sagte. Nachdem ihr das fünfmal widerfahren war, hatte sie bei Harro, dem Schmied, diese Glocke in Auftrag gegeben und Olef damit bezahlt, als sie mal wieder unbedingt ein Buch kaufen wollte und kein Geld dafür hatte.

    Natürlich sei diese Glocke nicht einfach nur eine Glocke, sondern eine wachsame Glocke. Im- mer, wenn jemand Fremdes seinen Laden betrete, würde sie ihn warnen und er könne dann besonders gut auf seine Bücher Acht geben. Olef fand diese Begründung so rührselig, dass er Runa eins seiner Lieblingsbücher „Die Waldgeschichten" schenkte. Dieses Buch war für den Buchhändler etwas ganz Besonderes, weil sein Ledereinband eine besonders faszinierende Arbeit war. Die Berührung und der ausströmende Duft des Leders hatten immer eine beruhi- gende Wirkung auf ihn.

    Olef hatte Runa dieses Buch geschenkt, mit dem Hinweis, dass es außergewöhnliche Kräfte besäße und sie immer sorgsam mit ihm sein müsse. Es bedürfe eines ganz liebevollen Um- gangs, damit die Magie, die in ihm verborgen sei, nie erlösche. Ehrfurchtsvoll nahm sie das Buch entgegen und konnte gar nicht glauben, dass Olef ihr eins seiner Lieblingsbücher schenkte. Wie gebannt starrte sie das Buch an und hatte das Gefühl in eine andere Welt zu schwinden. Der Traum platzte jedoch schnell, als der Alte ihr das Buch noch einmal aus der Hand nahm und es in ein Tuch wickelte. Er bat sie zum Abschied, niemandem das Buch zu zeigen und auf direktem Weg nach Hause zu gehen. Der Buchhändler richtete noch eine letzte Bitte an sie, „Die Waldgeschichten" mögen einen besonderen, aber nicht zu auffälligen Platz in ihrer Bibliothek bekommen.

    Und nun endete auch diese Geschichte. Runa begab sich mit der Glocke zwischen den Hän- den zurück zum Dorfplatz. Es gab kein Leben mehr in Dorfland, es war ausgelöscht. Jegliches Leben wurde ihm genommen, außer Runas. Was habe ich jetzt hier noch für eine Zukunft? Runa ertrug das grausame Schauspiel, das einem Schlachtfeld glich, nicht weiter und be- schloss nach Hause zu gehen. Ihre Tränen waren versiegt und ihr Hemd fühlte sich an, als ob sie vergessen hätte, es beim Waschen auszuziehen. Ihr linker Arm brannte, sie zog den Ärmel hoch und da erst wurde ihr wieder bewusst, dass sie sich beim Sturz verletzt hatte. Das eingetrocknete Rinnsal Blut signalisierte ihr dies ganz deutlich. Was bedeutet schon dieser Kratzer, wenn sich mein Leben in Luft auflöst?

    Während sie den Ärmel wieder herunterzog, überkam sie ein neues Gefühl der Angst, was ihr die Luft zum Atmen nahm. Runa hatte das Gefühl, von irgendetwas durchbohrt zu werden. Nichts Körperliches, wie ein Pfeil, der sie durchdrang, sondern ein starrer Blick. Wer oder was immer dieses Grauen vollbracht hat, will es mit meinem Tod beenden.

    Während sie so dastand, völlig reglos und darauf wartete, dass der Tod sie an die Hand nahm und den Abgrund zur Hölle öffnete, lief ihr kurzes Leben wie ein Bilderbuch an ihr vorbei. Bis zum jetzigen Zeitpunkt und dann klappte das Buch zu. Ende. Nichts geschah! Weder tat sich der Boden zu ihren Füßen auf, noch kam der Tod und nahm sie an die Hand. Langsam schaute sie an ihrem Körper hinunter, ob sie eine blutende Wunde entdeckte, einen Pfeil, der aus ihr rausragte- da war nichts. Sie konnte sich bewegen, atmen, sehen- sie lebte. Mit rasen- dem Puls drehte sie sich um, es war niemand zu sehen, nur die Rauchsäulen, die weiter zum Himmel emporstiegen, kein Tier, keine Menschenseele. Erleichtert atmete Runa ein und aus. Sie redete sich ein, jemand hätte es auf sie abgesehen. Denkbar wäre es, aber hier gab es nie- manden mehr, außer ihr. Dorfland war tot.

    Plötzlich stürzte vor ihr das Haus des Obst- und Gemüsehändlers ein. Ein markerschütternder Lärm erfüllte die Stadt. Eine große Staubwolke bildete sich über dem eingestürzten Haus, und Runa hatte das Gefühl, am Staub zu ersticken. Sie musste so heftig husten, dass die Anstren- gung sie dadurch in die Knie zwang. Sie hatte noch nie so einen Anfall gehabt, von dem sie glaubte, sich die Seele aus dem Leib zu husten.

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