Das Leben wohnt nebenan
Von Rebecca Hünicke
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Über dieses E-Book
Das Lichterspektakel ist das ganz persönliche Einläuten der Weihnachtszeit im Zeilenreich der Buchhändlerin Judith Berger. Ihre Freunde Frederick und Diether geraten alle Jahre wieder beim Anbringen der Lichterkette in Streit, und dieses Ritual darf auf keinen Fall fehlen. Genauso wenig wie Marthas tägliche Provokationen, die Mariola schnell mal in eine Handgranate verwandeln.
Die meisten Menschen, die in die Buchhandlung kommen, sind langjährige Kunden, die Judith schnell in ihr Herz geschlossen hat. Sogar jemanden wie Norbert Bayer, der mit inbrünstiger Leidenschaft Eisenbahnbücher verschenkt, die die Beschenkten so schnell wie möglich wieder umtauschen. Auch der Hyäne erfüllt sie ihre Bücherwünsche unter erschwerten Bedingungen, was ihren Freund anschließend dazu veranlasst, die Flucht zu ergreifen. Und so werden fünf Freunde zu Fluchthelfern, um Andreas aus den Klauen der Raubtierdame zu befreien.
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Buchvorschau
Das Leben wohnt nebenan - Rebecca Hünicke
Vorfreude
Manchmal betreten fremde Menschen meine Buchhandlung und fragen mich: „Wo findet denn hier das Leben statt?"
Ganz selbstverständlich antworte ich ihnen dann: „Na hier, bei mir! Bei mir können Sie in jede x-beliebige Stadt oder in das Land Ihrer Träume reisen", dabei lächle ich und breite meine Arme aus, um auf mein vielfältiges Angebot hinzuweisen.
Der eine oder andere Leser versteht mich, aber der absolute Buchvermeider schaut mich mit groß aufgerissenen Augen an, kommt schnell wieder zu sich, weil er meint, mir sein Anliegen besser erklären zu müssen.
„Also, ich meine eine Lokalität, ein Viertel oder so was Ähnliches in dieser Stadt, wo man etwas erleben kann", ist zunächst der erste Versuch seiner Aufklärung.
„Ich habe Sie schon verstanden. Mein Buchladen bietet Ihnen fast alle Erlebnisse, die man sich als Mensch nur überhaupt wünschen kann. Wenn Sie ein leidenschaftlicher Hobbykoch sind, können Sie sich bei mir auf eine kulinarische Erlebnisreise begeben. Suchen Sie den absoluten Nervenkitzel, können Sie sich auf eine mörderische Verbrecherjagd aufmachen. Tauchen Sie gleich hinter sich in das nächste Regal ein. Oder…", und werde händewedelnd und kopfschüttelnd gleichzeitig unterbrochen.
Ein zweiter Versuch wird erfahrungsgemäß nicht mehr unternommen, denn die Zeit scheint er dann doch nicht mehr zu haben. Mit einem meist knappen Tschüss stürmt der Buchvermeider aus meinem Universum.
Der Leser hingegen schenkt mir ein Lächeln, und ich bin geneigt, ihm zu sagen, dass unser Städtchen zwar schön anzuschauen sei und geschichtlich etwas zu bieten habe, aber das einzigartige große Erlebnis habe uns bisher noch nicht besucht und sich hier niedergelassen. Der Leser bedankt sich höflich, gewährt seinen Augen einen schnellen Rundumblick, bevor er dann normalen Schrittes in sein Leben irgendwo da draußen zurückkehrt.
Diese Begegnungen mit Menschen sind nicht alltäglich, denn unser kleines Städtchen ist kein Anziehungsmagnet für Touristen. Lediglich kleine, eher versteckte Hinweise in einem Reiseführer weisen darauf hin, dass irgendwann einmal ein scheinbar wichtiges Schlachtengetümmel der alten Römer und Germanen hier stattgefunden haben soll. Oder waren es die Wikinger und die Germanen? So genau habe ich die kleinen Passagen im besagten Reiseführer noch nicht gelesen. Aber so wichtig finde ich das auch nicht für mein Leben zu wissen. Schließlich lebe ich heute hier, und die Kämpfe sind längst beendet.
Ein Blick auf das Regal hinter meiner Kassentheke zeigt mir, dass mein Kalender sich noch in der Vergangenheit befindet. Der kleine Holzpinn, der täglich ein Buch weitergesteckt werden muss, befindet sich noch im achtundzwanzigsten Buch. Heute ist Donnerstag und mir wird schlagartig bewusst, dass sich an meinem wunderbaren Arbeitsplatz noch kein Teil befindet, was auch nur annähernd auf die neuanstehende Weihnachtszeit hindeutet. Alle möglichen Weihnachtsgeschichten in der x-ten Auflage liegen natürlich für meine Kunden seit vier Wochen bereit, doch die nötige Weihnachtsdekoration, die sie dazu erwarten, die sie wie ein Wegweiser direkt zu ihnen führt, ist noch nicht platziert. Nicht ein kleiner Glitzerstern funkelt in irgendeiner Ecke, sobald ihn ein einziger Lichtstrahl erreicht. Das Dekorieren meines Buchladens wird wohl heute Morgen eine der Hauptaufgaben sein, die mir unmittelbar bevorsteht.
In einer halben Stunde, neun Uhr, öffnet mein Geschäft offiziell. Aber die Eingangstür schließe ich bereits um acht Uhr dreißig auf, weil die wichtigsten Menschen in meinem Leben sich jeden Morgen auf einen heißen Kaffee von mir freuen. Wenn ich sage, jeden Morgen, dann meine ich auch jeden Morgen, das beinhaltet auch sonntags und feiertags.
Ich weiß gar nicht mehr so genau, wann sich dieses tägliche Ritual in mein Leben geschlichen hat, aber zu dem Zeitpunkt war es überlebenswichtig für uns alle: Mariola hatte von einem Tag auf den anderen ihre große Liebe verloren; Diethers Firma hatte Konkurs angemeldet, und er hatte seinen Job verloren; Martha wollte ihrem Leben ein Ende setzen; Fredericks Haus war in der Nacht zuvor völlig ausgebrannt, und sein einziger Besitz bestand nur noch aus dem, was er auf dem Leib trug; und ich… Ich war tieftraurig über die Schicksalsschläge meiner Freunde, sodass ich es mir als Aufgabe machte, ihnen neue Hoffnung und alle Unterstützung zu geben, die ich geben konnte. Das war der Zeitpunkt in meinem Leben gewesen, der mir vor Augen führte, wer meine wahren Freunde, aber auch die wichtigsten Menschen in meinem Leben sind.
Ein kalter Windhauch zieht durch meinen Laden, begleitet von einem Geräusch aus Scheppern und Quietschen. Mit geröteten Wangen, einer beschlagenen Brille und einer knallroten Nase, wie Rudolf das Rentier, kommt Frederick in seiner gelbschwarzen Uniform auf mich zu. Auf dem Tresen erwartet ihn bereits sein dampfender Mickey-Mouse-Kaffeebecher, nach dem er zielsicher greift.
„Guten Morgen, Judy", begrüßt mich Frederick mit der Tasse in der Hand, bevor er seinen ersten Schluck des schwarzen Gebräus nimmt.
„Hi, Freddy. Du bringst heute aber eine eisige Kälte mit herein", erwidere ich seine Begrüßung.
„Es sind bestimmt zehn Grad weniger als gestern", gibt er eine Einschätzung ab.
„Die sieht man dir deutlich an. Gestern Morgen hat deine Nase nicht so rot geleuchtet", untermauere ich damit seine Vermutung.
In großen Schlucken trinkt Frederick seine Tasse leer und sagt noch schnell: „Heute hab ich nix dabei. Vielleicht morgen wieder. Bis später. Danke für den Kaffee."
Bevor mein Lieblingspostbote wieder auf der Straße verschwindet, rufe ich ihn noch einmal zurück.
„Sag Didi doch bitte, er möge dir heute Abend mit der Weihnachtsbeleuchtung für den Laden helfen."
Frederick stutzt und sieht mich mit fragendem Blick an.
„Die Weihnachtsbeleuchtung", wiederhole ich, um ihn wissen zu lassen, dass er mich richtig verstanden hat.
„Ist es mal wieder so weit? Die Zeit, in der wir alle Menschen mal wieder unglaublich lieb haben sollen", sagt er mehr zu sich selbst als zu mir.
„Sei kein Spielverderber. Erinnere dich daran, wie schön es in deiner Kindheit war. Die Vorfreude auf das große Fest, deine strahlenden Augen beim Öffnen der Geschenke, die selbst gebackenen Plätzchen und der köstliche Braten deiner Mutter zum Fest der Liebe", versuche ich ihn mit Erinnerungen auf die besinnliche Zeit einzustimmen.
Mit einem genervten „Ja" und einer erhobenen Hand verlässt Frederick meine Buchhandlung.
Wie sehr Frederick das große Tamtam am Ende des Jahres hasst, behält er lieber für sich. Geduldig lässt er jedes Jahr diese Zeit über sich ergehen, läuft am liebsten mit Scheuklappen durch die Straßen, um seine Briefe zu verteilen, und wünscht niemandem eine schöne Weihnachtszeit und schon gar keine gesegneten Feiertage.
Schöne Kindheitserinnerungen hat Frederick nicht aus dieser Zeit seiner Kindheit. Für ihn ist es die Zeit des Jahres, in der seine Eltern am Häufigsten in Streit geraten waren und sich mit den nächstgreifbaren Gegenständen beworfen hatten.
Je näher Heiligabend gerückt war, desto mehr hatte sein Vater