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Der Fluss des Lebens
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eBook313 Seiten4 Stunden

Der Fluss des Lebens

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Über dieses E-Book

Eines Tages laufen sich Anja und Nick scheinbar rein zufällig über den Weg. Von diesem Moment an ist für die beiden nichts mehr so, wie es einmal war. Eine Reihe von äusserst seltsamen Begegnungen führt die zwei jungen Leute rund um den Globus und verwickelt sie in die unglaublichsten Abenteuer. Wie sie bald feststellen, kann das Schicksal nur bis zu einem bestimmten Grad beeinflusst werden.
Oder etwa doch nicht ...?
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum29. Apr. 2024
ISBN9783989838581
Der Fluss des Lebens
Autor

Roger Kappeler

Roger Kappeler erkannte bereits in der Schulzeit, dass seine blühende Fantasie bisweilen mit ihm durchgeht. Das Schreiben ist ihm nie besonders schwergefallen. Während einer sechsmonatigen Indienreise entstanden erste Ideen, aus denen schliesslich die Starchild-Terry-Geschichten hervorgingen. Wie viele Autoren stand er vor der Wahl, sich anzupassen oder bei dem zu bleiben, was ihn als individuellen Autor auszeichnet. Er entschied sich – sie sollte es anders sein – für die Individualität und riskierte damit, dass manche Leser seine Werke zerreissen würden, hoffte jedoch, dass die auf seine Merkmale abgestimmte Lesegruppe grösser wird und ihm treu bleibt, solange er sich selbst treu bleibt. In seinen Fantasy-Romanen vereinen sich Science-Fiction-Elemente mit philosophischen Fragestellungen. Seine Zeilen sind gepaart mit humoristischem, zuweilen flapsigem, der Alltagssprache entlehntem Stil, welcher das stetige Element aller seiner Geschichten darstellt, aber natürlich auch substanzielle Themen des Lebens und Gedanken enthält.

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    Buchvorschau

    Der Fluss des Lebens - Roger Kappeler

    Der seltsame Nick

    Nick war ein scheinbar ganz normaler Mensch, der sein Leben auf ebenso unspektakuläre Weise verbrachte wie die meisten seiner Zeitgenossen auch. Es plätscherte einfach so dahin – Tag für Tag, Jahr für Jahr. Doch irgendetwas an diesem Mann Mitte dreißig war seltsam, äußerst seltsam sogar. Weil Nick selbst nicht so genau wusste, was ihm eigentlich fehlte, ging er eines schönen Tages zum Psychiater.

    «Ich fühle mich in letzter Zeit so unerklärlich seltsam», vertraute Nick dem Therapeuten an, «mein ganzes Leben kommt mir plötzlich so unrealistisch vor. Manchmal denke ich, dass ich bloß eine machtlose Marionette bin, die nach dem Willen eines unsichtbaren Strippenziehers herumhampelt. Oder einfach nur eine erfundene Figur aus irgendeinem verrückten Buch. Können Sie mir weiterhelfen?»

    Der Psychiater zuckte bloß mit den Schultern, während er gleichmütig antwortete: «Wer weiß, vielleicht sind wir ja alle bloß erfundene Figuren in einem gigantischen Puppentheater. Schließlich ist das Leben ist nichts weiter als eine Illusion, ein verrückter Traum, ein dreidimensionales Hologramm, wenn Sie so wollen. Verstehen Sie?»

    «Äh, nein, tut mir leid», entgegnete Nick verwirrt, «ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.»

    «Alles halb so wild. Denken Sie in Ruhe darüber nach, schlucken schön brav die verschriebenen Pillen und kommen Sie in vier Wochen nochmals vorbei. Die Rechnung für die Beratung schicke ich Ihnen nach Hause.»

    Murrend packte Nick die Schachteln mit den Medikamenten ein. Irgendwie fühlte er sich wieder einmal ziemlich verarscht. «Vielen Dank für Ihre weisen Ratschläge», brummelte er beim Hinausgehen. «Jetzt geht es mir wirklich viel besser als vor der Sitzung.»

    Die seltsame Anja

    Zur selben Zeit, im selben Gebäude, zwei Etagen tiefer. Eine hübsche Frau Mitte dreißig befand sich gerade bei ihrer alljährlichen ärztlichen Untersuchung. Obwohl sie gemäß ihrer Ärztin kerngesund war, fühlte sich Anja schon seit einiger Zeit seltsam, äußerst seltsam sogar.

    «Manchmal fühle ich mich so abgeschnitten und isoliert vom Leben, als wäre ein Teil von mir bereits abgestorben», klagte Anja besorgt. «Ich funktioniere nur noch rein mechanisch, fast wie ein Roboter.»

    Die Ärztin musterte sie mit treuherzigem Blick. «Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon wieder», antwortete sie gleichmütig, während sie routinemäßig eine Handvoll Schachteln mit irgendwelchen Pillen aus dem Schrank klaubte. «Diese Medikamente werden Ihnen helfen. Nehmen Sie von jetzt an dreimal täglich je eine Tablette von jeder Packung. Wir sehen uns dann in vier Wochen wieder. Die Rechnung für die Beratung schicke ich Ihnen wie üblich nach Hause.»

    Anja nahm die vermeintliche Medizin wortlos entgegen und verabschiedete sich zähneknirschend. Es war absolut zwecklos, mit ihrer Ärztin über ihre Probleme reden zu wollen. Denn sie verstand offensichtlich nur die für Normalsterbliche unverständliche Fachsprache, die vorwiegend aus einer lehrbuchmäßigen Aneinanderreihung von medizinischen Begriffen bestand. Dafür gab es in ihrer klinischen Welt für jedes Wehwehchen die passende Medizin in Form von Pillen und Pülverchen. Von ganzheitlichen Zusammenhängen hatte die gute Frau offenbar noch nie etwas gehört. Aber mit solchem Humbug konnte man schließlich auch kein Geld verdienen, und außerdem war das auch gar nicht im Sinn der Pharmaindustrie.

    Ein seltsamer Zufall

    Frustriert verließ Anja die Praxis, sie fühlte sich jetzt noch mieser als zuvor. Gedankenverloren wartete sie im Treppenhaus auf den Fahrstuhl und als sich die Tür endlich öffnete, rempelte sie aus Versehen einen Mann im Fahrstuhl an, der mindestens ebenso betrübt aus der Wäsche guckte wie sie selbst.

    «Oh, entschuldigen Sie bitte», murmelte Anja verlegen, der bei diesem unglücklichen Zusammenstoß sämtliche Tablettenpackungen aus den Händen geschleudert wurden und rumpelnd zu Boden prasselten. Darauf bückten sich beide gleichzeitig, um die verstreuten Schachteln aufzuheben, wobei ihre Köpfe mit einem krachenden Geräusch zusammenprallten.

    «Verflixt nochmal», jammerte Anja genervt, «heute läuft aber auch wirklich alles schief.»

    Der Mann schaute sie einen Augenblick lang schweigend an, dann musste er plötzlich laut lachen. «Wem sagen Sie das?» platzte es aus ihm heraus. «Manchmal könnte man meinen, das ganze verflixte Leben läuft irgendwie schief.»

    Anja musterte den eigenartigen Mann leicht irritiert, dann musste auch sie plötzlich grinsen. So knieten die beiden lachend auf dem mit diversen Medikamentenschachteln übersäten Boden des Fahrstuhls, bis sich die Tür im Erdgeschoss öffnete. Draußen auf dem Flur standen zufällig zwei ältere Damen, die das skurrile Szenario mit großen Augen beobachteten.

    «Ich wusste gar nicht, dass Fahrstuhlfahren so lustig sein kann», räusperte sich die eine Dame.

    Erst jetzt realisierten Anja und der fremde Mann, dass sie bereits im Erdgeschoss angelangt waren und gerade wie zwei exotische Tiere im Zoo begafft wurden.

    «Fahrstuhlfahren kann sogar extrem lustig sein», entgegnete Anja keck, «vor allem, wenn man sich dabei gegenseitig die Köpfe einschlägt.» Dann schlenderten die beiden vergnügt hinaus, während ihnen die zwei Frauen kopfschüttelnd hinterher schauten.

    Draußen auf der Straße streckte der sportliche Typ der unbekannten Schönheit kameradschaftlich die Hand entgegen. «Ich heiße übrigens Nick», stellte er sich höflich vor. «Diese zufällige Episode von vorhin hat mich ganz schön aufgeheitert.»

    «Mich auch», lächelte Anja charmant und schlug in den kräftigen Händedruck ein. «Ich heiße Anja. Und so etwas wie zufällige Episoden gibt es übrigens nicht.»

    Nick wollte gerade etwas erwidern, aber in diesem Moment fuhr der Bus vor und Anja stieg ein. «Tut mir leid Nick, aber ich muss unbedingt diesen Bus erwischen. Denn in zehn Minuten habe ich einen wichtigen Termin, den ich auf keinen Fall verpassen darf», rief sie ihm eilig zu und verabschiedete sich mit einer Kusshand sowie einem überirdisch zauberhaften Lächeln. Dann entschwand ihre anmutige Silhouette in der Menschenmenge der anderen Fahrgäste und kurz darauf brauste der Bus davon.

    «He, Moment mal ... Anja ... Anja», stammelte Nick völlig überrumpelt, während er dem abfahrenden Bus einige Schritte hinterherrannte.

    Anja schaute nochmals aus dem Fenster, wobei sich ihre Blicke für einen kurzen Moment trafen. Dieser Blick kam Nick irgendwie so vertraut vor. Wo hatte er den bloß schon gesehen? Wie angewurzelt blieb er stehen, während sich der gegenwärtige Augenblick in einem undefinierbaren, milchigen Nebelschleier auflöste. Im Geiste drehte Nick das Rad der Zeit zurück bis in seine Kindheit. Bei dieser mentalen Zeitreise war ihm dieser eindringliche letzte Blick von Anja so präsent, dass ihn dessen unbeschreibliche Strahlkraft wie ein Leitstern in längst vergessene Ereignisse zurückführte.

    «Wer bist du? Woher kennen wir uns?» fragte er sich in Gedanken abermals, während er wie in Trance zur Bushaltestelle zurücktaumelte. Ein kurzes Hupen holte ihn abrupt wieder in die Realität zurück.

    «Wollen Sie einsteigen oder nicht?» rief ihm der Busfahrer ungeduldig zu.

    Nick schüttelte verneinend den Kopf. Dann schaute er auf dem Fahrplan nach, in welchem Zeitabstand die Busse fuhren.

    «Wow, ich habe volle acht Minuten hier gestanden und vor mich hingeträumt», ging es ihm durch den Kopf. «Keine schlechte Leistung. Man hätte mich vermutlich ausrauben können, ohne dass ich es mitgekriegt hätte.» Instinktiv fasste sich Nick an die hintere Hosentasche und stellte verwundert fest, dass seine Brieftasche tatsächlich verschwunden war. «Sehr witzig», brummelte er leise vor sich hin, «das Leben ist manchmal wirklich außerordentlich witzig. Was passiert wohl als nächstes? Wahrscheinlich landet ein Flugzeug auf meinem linken Fuß oder ein aus dem Zoo entlaufenes Krokodil beißt mir den Kopf ab.» Seufzend schlenderte Nick die Straße entlang, während er gedankenverloren irgendeine Melodie vor sich hin summte.

    Kurz darauf landete ein Krokodil auf seinem Kopf und einen Augenblick später biss ihm ein aus dem Zoo entlaufenes Flugzeug den linken Fuß ab. (Sorry, Leute, aber ab und zu kann ich mir solche sinnlosen Wortspielereien einfach nicht verkneifen, auch wenn sie meistens völlig fehl am Platz sind. Das nur so als kleine Vorwarnung, denn im Verlauf der Geschichte dürften wohl noch einige überflüssige Späßchen auftauchen, so wie ich mich kenne ...)

    Rückblende Nick

    «Wir Menschen werden als Sünder geboren und wenn wir die von Gott aufgestellten Gebote und Gesetze nicht befolgen, dann schickt er uns zur Bestrafung in das ewige Fegefeuer. So steht es in den heiligen Schriften geschrieben.»

    Mit diesen Worten beendete der Religionslehrer den heutigen Unterricht. Wieder einmal war es ihm hervorragend gelungen, sämtliche Schüler im Kindesalter in Angst und Schrecken vor einem scheinbar rachsüchtigen, zornigen Gott zu versetzen. Einer dieser Schüler hieß Nick. Tief in seinem Herzen fühlte er deutlich, dass diese niederschmetternden, lähmenden Worte nicht der Wahrheit entsprechen konnten. Obwohl Nick lediglich ein unwissendes Kind war, lösten die wöchentlichen Predigten im Religionsunterricht allmählich einen kritischen Denkprozess in ihm aus, der wie eine ins Tal rollende Lawine immer grösser und schwerer wurde.

    Eines Tages, als die Lawine, beziehungsweise sein Unmut, groß genug war, fing Nick an, dem Unterricht regelmäßig fernzubleiben. Er dachte sich, dass dem lieben Gott dieses ewige Rumgejammer auf der Erde vermutlich sowieso ziemlich auf den Keks ging. Anstatt ständig angefleht und angebettelt zu werden, wäre es ihm sicher lieber, wenn die Menschen endlich selbständig dachten und aufrecht wie junge Götter durch das Leben gingen. Aus diesem Grund beschloss Nick, seine Zeit lieber in der freien Natur zu verbringen, anstatt im Religionsunterricht zu verplempern.

    Eines Nachmittags, als der mittlerweile elfjährige Nick wieder einmal die Schule schwänzte und ziellos durch die Gegend schlenderte, traf er zufällig auf eine Gruppe älterer Schüler. Den Jugendlichen haftete der Ruf an, eine flegelhafte Horde gewalttätiger Halbstarker zu sein, die das ganze Gebiet terrorisierten. Nick beobachtete die Rasselbande aus den Augenwinkeln, während er versuchte, sich so unauffällig wie möglich aus dem Staub zu machen. Gerade als er glaubte, aus dem Blickfeld der Rowdies verschwunden zu sein, hörte er eine laute Stimme hinter sich rufen: «He, du da. Wieso bist du nicht in der Schule?»

    Nick spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er tat so, als hätte er nichts gehört und lief eilig weiter. Doch der Anführer der Bande ließ sich nicht so einfach abwimmeln. Mit seinem Moped fuhr er hinter Nick her und schubste ihn im Vorbeifahren mit einem gezielten Fußtritt ins Gebüsch. Die anderen sieben oder acht Jugendlichen grölten laut und klatschten vor Schadenfreude in die Hände.

    Nick lag indessen reglos im Gebüsch, starr vor Schreck. Plötzlich packte ihn eine Hand und zerrte den verstörten Jungen aus dem Gestrüpp.

    «Na, wie hat dir mein kleiner Karatekick gefallen?», sagte der Anführer fies lachend.

    «Das war ... das war wirklich ganz große Klasse», stotterte Nick zitternd.

    «Sehr gut, das wollte ich hören», erwiderte der Grobian triumphierend, «eines Tages wird die ganze Welt vor Sven dem Großen erzittern. Komm mit, du Zwerg, ich werde dich meinen Kumpels vorstellen.»

    Wortlos trottete Nick dem Anführer hinterher wie ein Tier, das soeben zur Schlachtbank geführt wird. «Hey Leute, seht mal, was ich da im Gebüsch gefunden habe», polterte Sven höhnisch. «Unser junger Freund hier scheint aber nicht sehr gesprächig zu sein. Gebt ihm doch eine Zigarette, das wird ihn vielleicht ein wenig auflockern.»

    Einer der Halbstarken kramte eine zerknitterte Packung Zigaretten aus seiner Tasche und steckte eine davon in Nicks Mund.

    Der drehte angewidert den Kopf zur Seite. «Pfui Teufel, ich will nicht rauchen», versuchte er sich zu wehren, «das ist doch ekelhaft. Und außerdem bin ich erst elf.»

    «Ach, halt die Klappe du Muttersöhnchen. Mit elf haben wir schon geraucht und Bier getrunken wie die Weltmeister», prahlte der andere Hohlkopf. Dann hielten sie Nick zu zweit fest und zwangen ihn, eine ganze Zigarette mittels Lungenzügen zu rauchen. Doch bereits nach ungefähr einer Minute bekam Nick einen Hustenanfall und musste sich beinahe übergeben.

    «Du hast den Eintrittstest für unsere elitäre Bruderschaft leider nicht bestanden», meinte Sven sarkastisch, «aber keine Angst, wir werden es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen. Vielleicht bist du bis dann ein richtiger Mann, so wie wir - und kein heulendes Weichei mehr.» Darauf mussten alle lachen, außer Nick natürlich, in dessen Hirn sich dieses demütigende Erlebnis für immer und ewig eingebrannt hatte. Schließlich brausten die rüpelhaften Jungs mit ihren Motorrädern grölend davon, während Nick noch eine Weile lang alleine in der schmalen Seitenstraße stehen blieb.

    Nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, schlich er auf leisen Sohlen davon wie ein getretener Hund. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, bittere Tränen des emotionalen Schmerzes. Der Schmerz verwandelte sich allmählich in unbändige Wut, ehe dieses alles zermalmende Gefühl in puren Hass umschlug. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben spürte Nick diese zerstörerische Abneigung gegen die Welt, die Menschen und letztendlich gegen sich selbst.

    «Wieso ist das ausgerechnet mir passiert? Warum hat mir Gott nicht geholfen? Wieso habe ich mich nicht gewehrt?» Solche und noch unzählige andere Fragen stiegen in seinem Geist auf. In dieser dunklen Stunde veränderte sich einiges in Nicks bisher kindlich naivem Weltbild. Er schwor sich, dass er sich zukünftig für die Armen, Schwachen und Unterdrückten einsetzen wollte – wenn es sein musste, auch mit Gewalt. Damals konnte er natürlich noch nicht wissen, dass man mit Gewalt keine Probleme löste, sondern lediglich neue, noch viel größere schaffte.

    Immer noch außer sich vor Wut trat Nick gegen einen zufällig am Boden herumliegenden Stein und eine Sekunde später riss ihn ein klirrendes Geräusch jäh aus seiner negativen Gedankenwelt. Der Stein war mit voller Wucht in die Fensterfront eines Wohnhauses geprallt, und es dauerte keine Minute, bis der empörte Besitzer draußen auf dem Vorplatz auftauchte. Nick dachte kurz daran, wie ein Feigling davonzurennen, doch dann erinnerte er sich an seine guten Vorsätze von vorhin: er würde nie mehr im Leben vor Konflikten davonlaufen, sondern sich von nun an tapfer jeder schwierigen Situation stellen.

    «Verfluchter Bengel», knurrte der verärgerte Besitzer des baufälligen alten Hauses, «hast du nichts Besseres zu tun, als Scheiben einzuschlagen? Na warte, dafür wirst du mir büßen, du kleiner Schurke.» Ohne zu zögern packte der ältere Mann das wehrlose Kind an den Ohren und zog es grob in den Korridor des Hauses. «Jetzt werde ich dir zuerst einmal die Leviten lesen, bevor ich deine Eltern anrufe, damit sie den Schaden bezahlen.»

    Nick erlebte die ganze Szene wie im Traum. Erstens war ihm immer noch schlecht von der Zigarette vorhin und außerdem gingen ihm Tausende von wirren Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Wer sündigt, muss dafür büßen. So wollen es die von Gott aufgestellten Regeln, hatte ihm sein Religionslehrer jahrelang eingetrichtert, sowie Auge um Auge, Zahn um Zahn.

    Emotionslos stand Nick da und wartete auf die Tracht Prügel, die er vermutlich gleich beziehen würde, während er erneut über die Ungerechtigkeiten des Lebens nachgrübelte. Gerade als der verbitterte Mann mit dem Teppichklopfer zum ersten Schlag ausholte, ertönte eine helle Mädchenstimme im Hintergrund.

    «Papa, bitte schlag ihn nicht. Er hat es bestimmt nicht absichtlich getan.»

    «Geh sofort auf dein Zimmer, Anja. Das hier geht dich nichts an», fauchte er sie barsch an.

    Für einen kurzen, aber zeitlosen Moment trafen sich die Blicke von Nick und Anja. Die beiden waren ungefähr im gleichen Alter. Dieser mitfühlende Blick traf Nick wie ein Blitz mitten ins Herz. Im selben Augenblick vergaß er all seine angestaute Wut, und seine eben noch zermürbenden Hassgefühle verwandelten sich wie durch Zauberhand in Liebe. Es handelte sich nicht um eine billige, oberflächliche Wegwerfliebe im menschlichen Sinn, sondern um ein erhabenes, demütiges Gefühl, dessen unbegreifliche Quelle in weitaus größeren Dimensionen beheimatet war. In diesem bewegenden Moment fühlte Nick in seinem tiefsten Herzen, dass Gott nicht etwa eine chemische Formel oder eine mathematische Gleichung war, sondern das Leben selbst. Zum ersten Mal hatte er wahrhaftig das strahlende Antlitz Gottes erblickt – und zwar in den Augen dieses ihm fremden Mädchens namens Anja.

    «Sie hat Recht, es war keine Absicht», murmelte Nick leise, «aber wenn es Ihnen Spaß macht, wehrlose Kinder zu schlagen, dann tun Sie es eben.» Der Mann schaute den seltsamen Jungen mit zusammengepressten Lippen an, dann besann er sich plötzlich eines Besseren und legte den Teppichklopfer beiseite. Irgendetwas Unerklärliches an der Ausstrahlung dieses Burschen hinderte ihn daran, Gewalt gegen ihn anzuwenden. Wie durch ein Wunder entspannten sich seine grimmigen Gesichtszüge auf einmal, so dass er beinahe schon sympathisch wirkte.

    «Geh nach Hause, Junge», sagte er schließlich, «es ist schon in Ordnung. Kinder stellen halt manchmal Dummheiten an – und ich Depp hätte auch fast eine gemacht.» Darauf huschte sogar ein kurzes Lächeln über sein Gesicht.

    Nick verstand die Welt nicht mehr, aber irgendwie stellte er einen Zusammenhang mit seinem erhabenen Erleuchtungsgefühl von vorhin und dem plötzlichen Sinneswandel des Mannes her. Er sah gerade noch, wie ihm Anja hinter dem Rücken ihres Vaters lächelnd zuwinkte, ehe sie im Wohnzimmer verschwand. «Ich danke Ihnen», erwiderte Nick höflich, dann verließ er den Ort des Geschehens aufrecht und hoch erhobenen Hauptes wie ein echter Kerl.

    Rückblende Anja

    Anja hatte keine einfache Kindheit gehabt. Ihre Mutter starb an einer unheilbaren Krankheit, als sie erst zehn Jahre alt war. Diesen tiefen Einschnitt konnte sie nie richtig verarbeiten, ebenso wenig wie ihr Vater. Aus Angst, dass seinem einzigen Kind ebenfalls etwas Schlimmes zustoßen konnte, hütete er sie wie seinen Augapfel. Mit anderen Worten, sie war unter ständiger Kontrolle und hatte praktisch keine Freiheiten. Mit der Zeit färbte diese krankhafte Angst des Vaters vor dem Leben auch ein wenig auf Anja ab. Obschon sie mit ihren mandelförmigen Augen und den dunklen langen Haaren ein äußerst hübsches Mädchen war, lebte sie sehr zurückgezogen. Sie bereiste die Welt viel lieber in Form von Abenteuerromanen und Filmen, denn das schien ihr weitaus weniger gefährlich als im realen Leben.

    Kein Wunder also, dass Anja eher kränklich veranlagt war. Sie bekam nur schon bei der Vorstellung einen Schnupfen, dass sie bei stürmischem Regenwetter einen Fuß vor die Haustür setzen musste. Oh nein, da verkroch sie sich lieber mit einem spannenden Buch unter der warmen Bettdecke und ließ ihren Geist in fremde Welten abschweifen. In ihrer kindlichen Fantasiewelt war sie natürlich stets die unbesiegbare Heldin, die Drachen bekämpfte, Einhörner bändigte und reihenweise hübsche Prinzen abschleppte. Doch die Realität sah, wie gesagt, leider nicht ganz so verwegen aus. Denn ungefähr alle zwei Stunden klopfte ihr Vater von außen an die Zimmertür und fragte besorgt: «Ist alles in Ordnung Schätzchen? Oder brauchst du irgendwas?»

    «Alles in Ordnung, Papa», pflegte Anja jeweils mechanisch zu antworten. Danach kuschelte sie sich wieder unter die sichere Bettdecke, wo sie in ihrer Fantasie die Welt vor dem Untergang rettete, wilden Barbarenhorden mit einem Nudelholz bewaffnet den Garaus machte oder in einer Nussschale den tobenden Ozean durchquerte. Dass es in diesem Ozean von bösartigen Seeungeheuern, einäugigen Piraten und sonstigem üblen Gesindel nur so wimmelte, braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden. Und vermutlich ebenso wenig, dass die gute Anja im richtigen Leben bereits seekrank wurde, wenn sie ohne Gummiente und Rettungsring in der Badewanne planschte.

    Aber inzwischen waren all diese eigenartigen Kindheitserinnerungen längst vergessen, denn Anja feierte heute ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag. Aus dem schüchternen Mädchen von einst war nun eine strahlende, selbstsichere junge Frau geworden. Zumindest äußerlich, denn tief in ihrem Innern wurde Anja nach wie vor von starken Selbstzweifeln und emotionalen Schwankungen geplagt. Doch sie hatte gelernt, niemanden hinter die glänzende Fassade blicken zu lassen, selbst wenn diese von Jahr zu Jahr immer mehr abbröckelte.

    Wie viele andere Leute in dieser leistungsorientierten Gesellschaft lebte auch Anja in ihrer eigenen verkorksten kleinen Welt, gefangen in ihrer ebenso verkorksten und vor allem beschränkten Weltsicht. Manchmal glaubte sie, in den schwarzen Fluten der Trägheit und des Pessimismus zu versinken, während sie das Leben wie ein unbeteiligter Zuschauer aus dem Fenster des Büros betrachtete, wo sie arbeitete. Um sich selbst zu motivieren, gaukelte sich Anja oftmals vor, dass sie mit ihrer täglichen Arbeit im Büro etwas Sinnvolles tat, was ihr Spaß machte. Durch diese Selbstverleugnung versuchte sie zu vermeiden, der schrecklichen Ungewissheit und Leere der menschlichen Existenz ins Gesicht zu blicken. Aber es war zwecklos, denn innerlich spürte Anja immer deutlicher, dass sie dieses Spiel der Selbsttäuschung nicht mehr länger mitspielen konnte.

    Doch an diesem speziellen Tag wollte sie sich natürlich nichts von alldem anmerken lassen. Anja freute sich sogar auf das geplante Abendessen mit zwei Freundinnen. Obschon sie abends normalerweise nur ungern ausging, weil es ihr davor graute, im Dunkeln alleine nach Hause gehen zu müssen.

    Ihre beiden besten Freundinnen Susanne und Andrea hatten heimlich eine kleine Überraschung vorbereitet. Und zwar hatten sie das Personal des Restaurants gebeten, den Tisch mit Luftballons und allerlei Firlefanz zu dekorieren. Als die drei jungen Frauen am Abend das gediegene Lokal betraten, führte sie der elegant gekleidete Oberkellner zu besagtem Tisch, wo sich bereits alle Angestellten inklusive Küchenpersonal versammelt hatten, um Anja ein Geburtstagsständchen zu singen.

    Zuerst lächelte Anja gequält, denn das ganze Brimborium war ihr doch eher peinlich. Sie war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen und so viel Aufmerksamkeit zu erhalten. Als ihr zusätzlich noch diverse Geschenke überreicht wurden, konnte sie ihre wahren Emotionen jedoch nicht mehr länger zurückhalten.

    Zu Tränen gerührt fiel sie ihren beiden Freundinnen um den Hals. «Ach, ihr seid ja so lieb», schluchzte sie hemmungslos, «auf so etwas war ich echt nicht vorbereitet. Da habt ihr mich ganz schön erwischt.»

    «Heute sollst du auch mal Hahn im Korb sein», meinte Andrea verschmitzt. «Oder besser gesagt: Henne im Korb. Sonst bist du ja immer diejenige, die anderen Gutes tut.»

    «Genau, aber du kannst beruhigt sein», ergänzte Susanne grinsend, «denn weitere Überraschungen haben wir nämlich nicht geplant.» So verbrachten die drei einen gemütlichen und lustigen Abend miteinander.

    Gegen Mitternacht verließen sie das Lokal und machten sich kichernd auf den Heimweg. Vor allem Anja, die sonst nie Alkohol trank, spürte die Nachwirkung des Rotweins. In ihrem beschwipsten Zustand vergaß sie sogar ihre ansonsten panische Angst vor der Dunkelheit.

    «Das war wirklich ein supertoller Abend, Mädels. Ich danke euch von ganzem Herzen. Bis zum nächsten Mal.»

    Anjas Wohnung befand sich keine zehn Minuten zu Fuß vom Restaurant entfernt und außerdem konnte sie die gut beleuchtete Hauptstraße entlanglaufen. Aus diesem Grund machten sich Susanne und Andrea keine Sorgen, als sie zusammen

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