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Tod im Höhlensee
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eBook243 Seiten3 Stunden

Tod im Höhlensee

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Über dieses E-Book

Hauptkommissarin Beate Maiwald muss routinemäßig in einem Fall von Selbsttötung ermitteln; ein älterer Mann hat sich in der Wohnung seiner Geliebten mit Tabletten das Leben genommen.
Nach und nach tauchen Ungereimtheiten auf, die Beate Maiwald stutzig machen. Ist es Zufall, dass die drei im Ausland lebenden Söhne zum Zeitpunkt der Tat in der Stadt sind? Ist seine Geliebte wirklich so schüchtern und hilflos, wie sie sich gibt? Welche Rolle spielt die betrogene Ehefrau? Oder hat die Tat mit der Suche des Verstorbenen nach seinem leiblichen Vater zu tun?
Immer wieder finden sich Hinweise darauf, dass es möglicherweise doch kein Selbstmord war. Die Kommissarin ist jedoch mit ihren privaten Problemen so beschäftigt, dass sie Wichtiges übersieht. Eine Katastrophe bahnt sich an.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpielberg Verlag
Erscheinungsdatum30. Okt. 2012
ISBN9783954520183
Tod im Höhlensee

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    Buchvorschau

    Tod im Höhlensee - Ursula M. Muhr

    37

    Kapitel 1

    »Schafft er es?«, fragte Hauptkommissarin Beate Maiwald die Ärztin. Diese zuckte die Achseln. »Bis jetzt kann man gar nichts sagen. Er ist nicht mehr der Jüngste. Wenn er wirklich die ganze Packung genommen hat, dann ist die Giftmenge ausreichend, um einen Ochsen zu töten. Aber vielleicht war die Packung doch nicht mehr ganz voll und wir waren schnell genug, dann hat er eine Chance. Im Moment können wir nur abwarten.«

    Die Kommissarin betrachtete den kahlköpfigen Alten, der mit grauem Gesicht auf dem Bett der Intensivstation lag. Eigentlich sah er jetzt schon aus wie tot. Die Schläuche und Kabel, an denen er hing, die Monitore mit ihren blinkenden Anzeigen, das Geräusch der Beatmungsmaschine – das alles wirkte lebendiger als der Mann, den sie am Leben erhalten sollten.

    Beate Maiwald seufzte. Die Woche fing nicht gut an. Sie dachte sich, was wahrscheinlich alle denken, die so etwas sehen: Hoffentlich erwischt es mich nicht auch mal. Nur nicht so hilflos daliegen – Gott weiß wie lange. Dieser Wunsch nach einem schnellen und schmerzlosen Tod, den fast alle haben und der letztlich den allerwenigsten vergönnt ist. Beate kannte die Statistiken nur zu gut. Für den Mann auf dem Intensivbett vor ihr kam erschwerend hinzu, dass er vermutlich freiwillig gehen wollte. Wie mochte sich das anfühlen, dann so aufzuwachen? Falls er überhaupt wieder aufwachte.

    »Warum sind Sie hier? Die übliche Routine oder gibt es begründete Zweifel an seinem Selbstmord?«, fragte die Ärztin mitten in ihre Gedanken hinein.

    »Beides. Auffällig war die Reaktion seiner Lebensgefährtin – die hat den Notarzt misstrauisch gemacht.«

    »Er vermutet, dass er die Tabletten nicht freiwillig genommen hat?«

    Beate Maiwald zuckte die Schultern. »Es ist alles sehr vage«, sagte sie. »Nichts Greifbares. Der Doc wollte wohl einfach nur auf Nummer Sicher gehen. Ich hatte kürzlich mit ihm zu tun, da hatte er etwas voreilig einen Totenschein ausgestellt. Leider musste er dann einsehen, dass er einen Mord übersehen hatte. Das will er wohl in Zukunft vermeiden.«

    Die Ärztin lächelte. Sie erinnerte sich lebhaft an den Fall, vor allem auch an das, was der Kollege über die Kommissarin gesagt hatte. Zitierfähig war nur der Satz gewesen, dass er den Tag herbeisehnte, an dem diese besserwisserische alte Zicke endlich in Rente gehen würde. Sie hatte ihm förmlich die Anstrengung angesehen, mit der er sich den Begriff ›Besserwessi‹ verkniff. Auf Beates Ruhestand würde er sich im Übrigen nach menschlichem Ermessen noch gute zehn Jahre gedulden müssen. Sie war sich sicher, dass die Kommissarin nicht die Absicht hatte, vorzeitig das Feld zu räumen.

    Die Ärztin konzentrierte sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Nachdenklich sagte sie: »Ich halte es für unmöglich, jemandem eine größere Menge von diesen Tabletten zu verabreichen, ohne dass er es bemerkt. Erstens sind sie so bitter wie die Not. Und wenn man sie in suizidaler Absicht schluckt, dann darf man auf keinen Fall alle auf einmal nehmen. Sie reizen den Magen und kommen schneller wieder hoch, als sie wirken können. Der häufigste Fehler, der dabei gemacht wird.«

    »Von Ihnen kann man direkt noch was lernen«, antwortete die Kommissarin. Sie mochte die Ärztin, die ihre Menschlichkeit und Anteilnahme immer hinter einer Aura von unnahbarer Eleganz verbarg. »Falls ich mal was in dieser Art vorhabe, dann wird mir dieses Wissen sehr hilfreich sein.«

    Ein prüfender Blick von der Seite war die Folge. Die Ärztin hatte in ihrem Leben zu viel gesehen, um über solche flapsigen Bemerkungen einfach hinwegzugehen.

    »Bevor Sie sich ›etwas in dieser Art‹ vornehmen, sollten Sie mit jemandem reden, der etwas von Ihrem Kummer versteht«, sagte sie leise. »Ich glaube mich zu erinnern, dass ich Ihnen das schon einmal gesagt habe, oder?«

    »Stimmt, haben Sie. Ich hatte es auch ganz fest vor. Und dann doch verschoben, verdrängt und schließlich vergessen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das war nur ein Witz.«

    »Darüber macht man keine Witze«, antwortete die Ärztin streng. »Und jetzt gehen Sie, Sie können hier nichts tun. Der Anblick deprimiert Sie, geben Sie es zu. Ich rufe Sie an, wenn sich irgendetwas ergibt. Der Mageninhalt ist bereits auf dem Weg ins Labor.«

    Beate Maiwald hatte nichts anderes erwartet. Sie nickte dankbar, verabschiedete sich und ging. Der Anblick hatte ihr in der Tat mehr zugesetzt, als sie erwartet hätte. Was hatte sie in ihrem langen Berufsleben schon alles gesehen! Da war dieser alte Mann auf der Intensivstation wirklich nichts Besonderes. Und doch, irgendwie berührte sie sein Anblick tiefer, als sie es jemals zugegeben hätte.

    Ein Wunder ist es nicht, dachte sie resigniert, als sie durch die Krankenhausgänge zum Ausgang ging. Nach allem, was in den letzten Wochen los gewesen war, da konnte man schon dünnhäutig werden.

    Sie fuhr sich mit der Hand durch die blonde Stoppelfrisur und kontrollierte ihr Aussehen in einer der großen Glastüren. Nichts dran auszusetzen, befand sie. Zierlich, sportlich und durchtrainiert, man sah ihr die gut fünfzig Lebensjahre nicht an. Ihre Fältchen waren in dem verschwommenen Spiegelbild nicht zu sehen. Umso besser. Ein Pfleger mit einem Tablett voller Blutproben kam ihr entgegen und grinste, als hätte er ihre Gedanken erraten. Beate grinste zurück.

    Ihr junger Kollege Klaus Hubertson wartete in der Eingangshalle auf sie. Er trank Kaffee, und zwar nicht aus einem der deprimierenden Plastikbecher aus dem Krankenhausautomaten, sondern stilvoll aus einer echten Porzellantasse. Angeregt unterhielt er sich mit der Frau an der Rezeption.

    Beate betrachtete ihn missbilligend. Er wies mit einem Kopfnicken auf die Tasse in seiner Hand. »Da staunst du, was? Ich habe erstens einen Parkplatz gefunden, direkt vor der Tür, und zweitens von dieser Zierde ihres Berufsstandes eine Tasse Kaffee bekommen. Das musst du mir erst mal nachmachen.«

    Die junge Frau lachte. »Möchten Sie auch eine Tasse? Er ist ganz frisch«, bot sie Beate an. Aber die lehnte dankend ab. Sie trank ausschließlich Espresso, allenfalls mal einen Cappuccino, der übliche Filterkaffee jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. »Und das mit dem Parkplatz glaube ich erst, wenn ich es sehe. Zur besten Hauptbesuchszeit direkt vorm Haus? Nie und nimmer.«

    Hubertson zuckte die Schultern, murmelte etwas von ›Mutter-Kind-Parkplatz‹ und trank seinen Kaffee aus. Er gab der Schwester die Tasse zurück, bedankte sich und dann gingen sie hinaus.

    Mindestens zehn Autos kreisten auf dem völlig überfüllten Parkplatz. Auch die für Mütter mit Kindern reservierten Plätze waren alle belegt, ebenso die für Dialysepatienten. Wahrscheinlich nicht von der entsprechenden Klientel, sondern von entnervten Besuchern, vermutete Beate.

    Als Hubertson den Wagen aus der Parklücke lenkte, kam eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm und einem Kinderwagen vorbei, die offensichtlich irgendwo ganz hinten einen Stellplatz gefunden hatte. Sie warf einen Blick ins Wageninnere und als sie dort weder ein Kind noch einen leeren Kindersitz sah, wurde sie wütend.

    »Ich hoffe, ihr sitzt bequem auf euren egoistischen Hintern!«, rief sie.

    Bevor ihr noch mehr einfiel, gab Huberston Gas und fuhr weg. »Manchmal wünschte ich, ich wäre bei den uniformierten Kollegen, da kannst du das Auto mitten auf der Autobahn abstellen und jeder macht höflich einen Diener«, knurrte er. Im Rückspiegel sah er noch, wie die junge Mutter ihnen den Stinkefinger zeigte. Dann packte sie entschlossen den Griff des Kinderwagens und stürmte in Richtung Klinikeingang.

    »Wenn du mal Polizeichef bist, dann kriegst du einen Chauffeur, der für dich stundenlang im Kreis fährt. Vorher musst du eben suchen oder beten«, sagte Beate achselzuckend.

    »Suchen oder beten, danke für den guten Rat. Ich bin wie ein Satellit um diese blöde Klinik gekreist. Um diese Zeit hast du keine Chance. Selbst im Parkverbot musst du dich hinten anstellen. Und ich habe keine Lust, zehn Minuten durch die Gegend zu latschen. Ich bin nicht zum Vergnügen hier.«

    »Keiner ist zum Vergnügen hier. Es ist schließlich ein Krankenhaus und kein Wellnesstempel«, antwortete Beate unwillig. Sie hatte immer noch das Bild des alten Mannes vor Augen und Hubertson ging ihr auf die Nerven. Selbst der am weitesten entfernte Stellplatz war allerhöchstens drei Gehminuten von der Klinik entfernt. Das Krankenhaus von Gotha war schließlich nicht die Berliner Charité, sondern eine durchaus überschaubare Institution.

    »Das nächste Mal fahre ich dich auf dem Fahrrad her. Bin gespannt, wie du das finden wirst«, brummte Hubertson und fädelte sich in einen Kreisverkehr ein.

    »Was meint überhaupt der Dok?«, fragte er dann.

    »Der Dok sagt, dass er – oder besser sie – noch nichts sagen kann. Sobald sie Genaueres weiß, ruft sie uns an. Aber es sieht nicht wirklich gut aus.«

    »Was ihm zu wünschen wäre, wenn er es mit Absicht gemacht hat. Reisende soll man nicht aufhalten.«

    »Hubsi, an dir ist ein Philosoph verloren gegangen.«

    Etwas in ihrer Stimme machte ihn stutzig. »Siehst du es anders?«, fragte er aufsässig. Beate antwortete nicht gleich.

    »Stell dir doch mal vor, wie es dir damit ginge«, beharrte Hubertson. »Du überwindest dich endlich, es zu tun – und nach allem, was ich weiß, muss allerhand geschehen sein, bis man so weit kommt – und dann wachst du im Krankenhaus auf und der Dok sagt: ›Ätsch, wir waren schneller. Ich bin nicht der Erzengel Michael, sondern der Stationsarzt.‹ – Wie würdest du dich fühlen?«

    »Bei dir hört sich Selbstmord an, als ginge es darum, beim Sportfest einen Hindernislauf zu gewinnen«, knurrte Beate. »Kannst du dir nicht vorstellen, dass es manchmal nur ein Hilferuf ist? Von jemandem, der keinen anderen Weg mehr sieht, sich bemerkbar zu machen?«

    »Ich denke, dass die Hilferufer das Ganze dann so inszenieren, dass sie eine reelle Chance haben. Ich glaube nicht, dass sie das Risiko eingehen, es könnte wider Erwarten doch klappen«, antwortete Hubertson.

    »Du bist ein Zyniker. Und wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich das nicht. Schon allein deshalb, weil die wenigsten wirklich eine Ahnung davon haben, was sie da tun. Außerdem kenne ich zwei, die dank irgendwelcher Zufälle gerettet wurden und die das Geschenk dieses zweiten Lebens sehr gerne angenommen haben.«

    »Na gut, ich kenne zwei, die es kurz darauf noch einmal probiert haben, diesmal mit Erfolg. Also sind wir quitt.«

    Beate betrachtete ihren Kollegen. Das Gespräch ekelte sie plötzlich an. Waren sie wirklich so abgebrüht, dass sie über menschliche Katastrophen so flapsig reden konnten? Dieses grauenvolle Scheitern, das nicht nur ein Leben beendete, sondern das alle Überlebenden in einem Chaos von Schuld, Fragen und Vorwürfen zurückließ? Lieber Himmel, dachte sie, was macht dieser Beruf aus uns?

    »Tut mir leid«, sagte Hubertson plötzlich. »Ich meine es nicht so. Das Problem ist – ich kannte den alten Knaben.«

    »Du kanntest ihn? Und das sagst du jetzt erst? Woher?«

    »Er war ein Freund meines Vaters.«

    »War? Was ist passiert?«

    »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich schon seit ewigen Zeiten nichts mehr von ihm gehört habe. Ich nehme an, die beiden haben sich über irgendetwas in die Haare gekriegt. Und das ist schon eine Weile her, also bestimmt mehr als zehn Jahre.«

    »Könnte es auch sein, dass er sich einfach zurückgezogen hat? Rückzug aus allen sozialen Bindungen geht einem Selbstmord oft voraus«, überlegte Beate.

    »Kann sein. Wenn du willst, dann frag ich bei Gelegenheit nach. Ich muss sowieso mal wieder bei dem alten Herrn vorbei, er mault schon.«

    »Mach das bitte«, antwortete sie knapp.

    Hubertson bog in den Parkplatz am Präsidium ein. »Wenigstens hier hat man einen Stellplatz«, murmelte er, als er den Wagen abstellte.

    Beate lächelte. Parkplatzsuche nervte ihren jungen Kollegen tödlich, dabei hatte sie immer gedacht, es sei ausschließlich ein Privileg der Älteren, sich darüber aufzuregen. Die Jungen kannten es ja eigentlich nicht anders. Die meisten ertrugen es mit stoischer Gelassenheit, genau wie die täglichen Staus auf der A4. Nicht so Hubertson. Staus und Parkplatzmangel waren seine Lieblingsthemen, wenn er sich aufregen wollte. Dicht gefolgt von dem Dauerzwist mit seinem Vater.

    Folgerichtig fand er es, im Gegensatz zu ihr, ganz ausgezeichnet, dass die Dienststelle der Kripo in der Schubertstraße lag. Ein zweckmäßiger Neubau an einer der Ausfallstraßen, verkehrsgünstig in jeder Hinsicht. Aber hier war es eben bei weitem nicht so schön wie in der Innenstadt Gothas, mit den vielen Läden, Cafés und Kneipen. Da hätte sie sich auch mal ein schnelles Mittagessen bei ihrem Lieblingsitaliener am Buttermarkt gönnen können oder im Sommer einen Cappuccino in einem der Straßencafés. Aber wenn Beate ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass ihre knapp bemessene Zeit ihr oft nicht einmal einen Besuch in der Kantine erlaubte. Ein belegtes Brötchen vom Bäcker in der Nachbarschaft musste reichen, an manchen Tagen gab es nicht einmal das. Zum Glück hatten sie immer einen ausreichenden Vorrat an Schokolade im Schrank, die half nicht nur gegen Heißhungerattacken, sondern auch gegen Frustrationen aller Art.

    Kapitel 2

    Im Büro holte sich Beate erst einmal einen Espresso. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, legte einen dünnen Aktendeckel vor sich hin und sagte nachdenklich: »Also, mein Lieber, was haben wir?«

    »Bis jetzt gar nichts, wenn du mich fragst. Außer der Aussage von diesem Notarzt, der dein ganz besonderer Fan ist. Er behauptet, dass sich die Lebensgefährtin des Alten sonderbar benommen hat. Das ist schon so ziemlich alles.«

    »Hat ›der Alte‹ vielleicht auch einen Namen?«, fragte Beate indigniert. Es störte sie immer, wenn Hubertson nachlässig über Mordopfer oder Verdächtige sprach. Für sie war es eine Frage des Respekts, dass sie sie korrekt bei ihrem Namen nannte, möglichst mit Herr oder Frau vorneweg. Sie wies ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hin, aber ihre Erziehungsversuche hatten bis jetzt bemerkenswert wenig Erfolg.

    Im Moment allerdings musste sie zugeben, dass auch sie den Namen des Opfers schon wieder vergessen hatte. Ich werde alt, dachte sie erschrocken und schlug den Aktendeckel auf. Er enthielt die kurze Aussage des Notarztes, der den Mann in die Klinik eingewiesen hatte.

    »Kassian«, murmelte sie abwesend. »Hört man nicht allzu oft.«

    »Ich dachte, er heißt Obsetter«, fragte Hubertson verdutzt.

    Beate seufzte. »Das ist der Vorname, du Abgrund an Unwissenheit. Der Nachname ist Obsetter. Kassian Obsetter.«

    »Lieber Himmel, Kassian – ist das die männliche Form von Kassandra? Was denken sich Eltern eigentlich, wenn sie ihren Kindern solche Namen geben?«

    »Also, ich kann an Kassian nichts Verwerfliches finden. Selten, ja, aber klingt doch gut, finde ich. Ursprünglich ein römischer Name. Wird meistens mit C geschrieben. Aber ich finde ihn mit K sogar noch distinguierter.«

    »Distinguiert, also bitte, was denn noch? – Kassian Obsetter. Kassian Obsetter. Ich kann mir nicht helfen, aber den Vornamen habe ich noch nie gehört. Vielleicht ist das ein anderer Obsetter?«

    »Oder er hatte einen Spitznamen?«, schlug Beate vor.

    Hubertson schüttelte abwesend den Kopf. Er grübelte. Schließlich gab er auf. »Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich mich nicht einmal erinnern, ob mein Vater und er sich geduzt haben oder nicht. Ich frage ihn heute Abend. Aber Kassian hab ich noch nie gehört, das wüsste ich. – Was schreibt der Dok?«

    »Nicht viel. Die Lebensgefährtin benahm sich auffällig, seiner Einschätzung nach. Panisch, fast hysterisch.«

    »Das soll auffällig sein, wenn sie ihren Liebsten mit grauem Gesicht leblos in ihrem Bett findet? Wenn du mich fragst, dann ist ein gewisses Maß an Hysterie genau das, was ich erwarten würde. Du nicht?«

    »Das Auffällige seiner Meinung nach war, dass sie zunächst behauptete, sie wäre den ganzen Tag zu Hause gewesen. Und da muss ich dem Dok recht geben, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Selbstmordversuch unternimmt, während der Partner im Zimmer nebenan sitzt, ist eher gering. Das funktioniert allenfalls, wenn sich einer eine Kugel durch den Kopf jagt. Aber Tabletten? Jedes Kind weiß, dass das ein bisschen dauern kann. Als der Dok sie auf diesen Umstand ansprach, fiel ihr plötzlich ein, dass sie doch unterwegs gewesen war. Angeblich hat sie eine Freundin besucht. In der Aufregung hätte sie das vergessen. Klingt nicht sehr glaubhaft, oder?«

    »Was ist mit deiner Theorie vom Hilferuf?«

    »Möglich. Dagegen spricht die Menge der eingenommenen Tabletten, die er vermutlich geschluckt hat. Seine Freundin behauptet, dass die Tablettenpackung ganz neu war. Sie hat das Rezept für ihn vor ein paar Tagen selbst von seinem Arzt abgeholt und dann die Tabletten gleich besorgt. Das war am Freitag. Gestern, also am Sonntag, lag die Schachtel mit fünf leeren Blisterstreifen auf dem Nachttisch, neben dem Wasserglas. Kassian Obsetter müsste also die ganze Packung eingenommen haben. Das wären acht- oder neunundvierzig Tabletten gewesen. Diese Dosis, sagt die Ärztin, hätte einen Ochsen töten können. Allerdings sagt sie auch, dass man diese Tabletten auf keinen Fall jemandem unbemerkt verabreichen kann. Viel zu bitter. Und wenn man alle auf einmal nimmt...«

    »... dann kotzt man. Kenn ich.«

    Beate starrte ihn entgeistert an. »Doch hoffentlich nicht aus eigener Erfahrung?«, fragte sie.

    Hubertson grinste. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, dass er sie erschreckt hatte. »Nein, das war Stoff eines

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