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Winter-Vermächtnis
Winter-Vermächtnis
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eBook492 Seiten6 Stunden

Winter-Vermächtnis

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Über dieses E-Book

Frühjahr 1980. Einige Zeit nach Jamies Tod sieht sich sein Freund, der Psychiater Doktor Spiegelthal, nicht mehr in der Lage, seinen Beruf länger auszuüben. Seiner Schuld bewusst, stellt er sich dem Gesetz und wartet auf das juristische Urteil, während er den Entschluss fasst, die Praxis aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Im Wien der 80er Jahre, zwischen Hochkultur und Rockmusik, schreibt Spiegelthal als Journalist für eine psychologische Fachzeitschrift. Die Arbeit führt ihn zurück an die Universität, wo er vergeblich nach Antworten auf seine Fragen sucht. Auf seiner Seelenwanderung durchläuft er einen tiefen Reifungsprozess, der ihn nach neuen Ansätzen streben lässt; nicht zuletzt durch die Begegnung mit einer jungen Psychologie-Studentin, die ihn für seine Artikel bewundert.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Nov. 2017
ISBN9783746083933
Winter-Vermächtnis
Autor

Richard Isenheim

Richard Isenheim wurde 1997 in Bietigheim-Bissingen geboren, dessen historische Altstadt maßgeblichen Einfluss auf den Schreibprozess nahm. Im Großraum Stuttgart verbrachte er die ersten vierzehn Jahre seines Lebens, bis er mit seiner Familie in den Landkreis Sigmaringen zog. Dort beendete er die Realschule, um anschließend ein technisches Gymnasium zu besuchen. Schon im Alter von dreizehn Jahren begann Isenheim mit der Schreiberei. In seinen Geschichten stehen tiefe Charakterwandlungen, wahre Freundschaften und die Höhen und Tiefen des Lebens im Vordergrund.

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    Buchvorschau

    Winter-Vermächtnis - Richard Isenheim

    Epilog

    III. AKT

    Eins

    Dr. Spiegelthal legte den Notizblock zur Seite. Konzentrierte Züge umspielten sein Gesicht und ließen auf geistige Arbeit schließen, als wäre er voll und ganz in einen Gedankengang versunken. Es war ein vielversprechender, doch gleichermaßen verkrampfter Anblick.

    »Geister?—«

    Auf seinem Gesicht blitzte etwas wie Unbehagen auf, als ihm dieses Wort zu Ohren kam. Sein Blick wanderte in betrübter Miene nach links zu seiner Patientin, die dort auf dem Sofa lag und erzählte. Seine linke Hand, die soeben noch entspannt auf der Armlehne des Sessels ruhte, ging hoch zu seinem Kinn, wo sie vor seinem Mund ihre neue Haltung einnahm.

    Die Stimme der Patientin erhob sich zu einer Rechtfertigung: »Sie werden mich für verrückt erklären, doch ich kann nur erzählen, was ich gesehen habe.«

    Seitens des Psychiaters kam eine beschwichtigende Antwort: »Schon recht, Frau Milan, dazu habe ich Sie schließlich auch gebeten. Und um Ihre Bedenken zu beruhigen, ich halte Sie keineswegs für verrückt. Allgemein erkläre ich niemanden für verrückt, allerhöchstens für therapiebedürftig, gnädige Frau.«

    Es trat eine kurze Pause ein.—

    »Nun, Sie sagen, es wäre Ihnen Ihre tote Nichte begegnet, zu der sie eine tiefere Beziehung hatten. Die Begegnung war in einem Traum, nehme ich an?«

    Die Antwort ließ einen Moment auf sich warten, so als würde die Frau überlegen, ob sie fortfahren sollte oder nicht. »Nein«, sagte sie vorsichtig. »Gerade das ist es ja. Gerade deshalb bin ich hier. Es war helllichter Tag.«

    »Aber es war kein Tagtraum, oder?«

    »Nein, kein Traum. Glauben Sie mir! Auch kein Tagtraum.«

    »In Ordnung, ich wollte nur sicher gehen, Frau Milan. Aber erzählen Sie weiter. Was ist bei der Begegnung passiert?«

    »Na ja, meine Nichte – sie hieß Nadia – stand mir gegenüber. Sie war eine Lichtgestalt! Wunderschön und freundlich. Und plötzlich wurde alles warm und meine Sorgen schienen vergessen zu sein.«

    Spiegelthal schluckte belegt. Die Patientin wurde mit jedem Wort schneller und emotionaler.

    »Sie sah genauso aus wie sie immer aussah. Vielleicht noch ein wenig schöner. Und, und ich glaube, sie wollte mir etwas sagen. Sie sprach nicht, aber sie wollte mir irgendetwas mitteilen. Vielleicht, dass es ihr gut geht und ich mir keine Sorgen um sie machen muss, nachdem sie bei ihrem Unfall … um‘s Leben kam.—«

    Die Patientin kam zum Ende. Spiegelthal wartete einen Moment, um sicherzugehen, dass sie ausgesprochen hatte: »Und… das bereitet Ihnen Sorgen?«

    »Hm«, seufzte die Frau. »Ich habe mit meinem Mann darüber gesprochen. Und ich hätte es mir denken können. Er hat gesagt, ich bin verrückt. Danach habe ich mich nicht getraut, meiner Schwester, also Nadias Mutter davon zu erzählen. Ich hatte Angst, dass sie ausrasten würde. Ich glaube, ich bin verrückt. —«

    Spiegelthal schüttelte den Kopf, wohlwissend, dass sie es nicht sehen konnte. »Sie sind nicht verrückt.«

    Ein erleichtertes Durchatmen. »Das tut gut…«

    »Wir haben die Angewohnheit«, erklärte er fortführend, »alles für verrückt zu erklären, was wir nicht verstehen.«

    »Und verstehen Sie mich?«

    Gerade wollte er »nein« sagen, doch sagte stattdessen: »Ja und nein.«

    Sie wandte sich ein Stück zu ihm. »Das soll heißen?«

    »Nun, Frau Milan«, und er wollte beinahe aufstehen, da er im Gehen besser erklären konnte, »Sie sind nicht die Erste, die von derartigen Wahrnehmungen berichtet. Ich kann Ihnen nur die eine Antwort geben, die mir logisch erscheint – Sie stehen in starker emotionaler Abhängigkeit zu ihrer verstorbenen Nichte. Wenn Sie die Augen schließen und Bilder sehen, sind diese zwar meistens wieder weg, wenn Sie sie öffnen, aber in manchen seltenen Fällen scheint sich das Bild, das Sie in Ihrem Kopf sehen, mit dem zu vermengen, das ihr physisches Auge sieht. Es sind im Prinzip Theta-Wellen, die sich da mit dem elektromagnetischen Licht überlagern, welches auf Ihre Netzhaut trifft.«

    Ein Ausdruck von Unverständnis seitens der Patientin: »A ja … Das verstehe ich jetzt nicht…«

    »Nun«, dachte Spiegelthal nach, um es in andere Worte zu fassen, »das Bild in Ihrem Kopf hat sich so sehr eingebrannt, dass Sie es noch sehen können, wenn Sie die Augen öffnen. Sie kennen sicher das Gefühl, wenn Sie von einem Traum aufwachen und nicht gleich wissen, was in Ihrer Wahrnehmung Realität und was Traum ist. Dabei versucht das Gehirn sich wieder an den Wachzustand anzupassen. In Ihrem Fall ist das ähnlich.«

    »Das heißt, ich bin verrückt…«

    »Nein«, wehrte er wieder ab. »Ihr Unterbewusstsein versucht eben einmal den Tod ihrer Nichte zu verarbeiten und dabei versucht es damit abzuschließen. Andere Menschen verdrängen es einfach.—«

    Die Patientin schwieg.

    »Es gibt viele Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben und die meisten gehen stillschweigend darüber hinweg, weil sie eben –wie Sie– Angst haben, für verrückt erklärt zu werden. Eigentlich ist das ein unbewusster Prozess Ihrer Seele, sich von Dingen beziehungsweise Menschen zu lösen. Im Prinzip eine Art selbst gemachtes Placebo.«

    »Seele?«, warf sie fragend ein. »Warum sprechen Sie von der Seele?«

    »Warum?«, begann er zu erklären, »weil sich Seele und Psyche quasi schenken. Das Wort Psyche kommt aus dem Griechischen ›psyché‹, was übersetzt nichts anderes als ›Seele‹ bedeutet. Die Psychologie heißt demnach ›Seelenkunde‹. Wir Psychologen fühlen uns nur manchmal zu wissenschaftlich, um das Wort Seele zu benutzen, obwohl es eigentlich das gleiche bedeutet.«

    »Was ist die Seele?«, war die nächste Frage.

    Er hatte es erwartet.

    »Das kann keiner so genau sagen.«

    Wieder ein überfordertes: »A ja… «

    »Genau!«, fuhr er rasch fort. »Und solange Sie nicht dauerhaft geisterhafte Erscheinungen sehen, brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen. Im Gegenteil. Sie hatten doch Glück! Ihre Erscheinung gab Ihnen ein Gefühl von Wärme.«

    »Das heißt«, hakte sie nach, »dass alles in Ordnung mit mir ist?!« Damit setzte sie sich auf und blickte ihn an.

    »Na ja, Sie kamen mit dem Vorwand zu mir, verrückt zu sein«, erklärte er. »Meine Diagnose als Arzt ist, Sie sind nicht verrückt. Alles normal!«

    Die Frau senkte den Kopf. »Alles normal…«

    Der Redeschwall des Doktors ging fort: »Manche Menschen verarbeiten Verluste auf diese Weise, andere auf eine andere Weise und noch andere wiederum… gar nicht!—« Mit diesem Satz bremste er sich selbst aus. Es waren nun drei Monate vergangen, seitdem Jamie sich das Leben genommen hatte. Das Grau seiner Iris verlor an Leuchtkraft. Schnell schüttelte er den Kopf. Die Patientin zu seiner Linken stammelte: »Und dafür habe ich jetzt vier Monate gewartet…«

    »Nun, Frau Milan«, erklärte er der sichtlich verwirrten Frau, die zwischen Verwunderung und Verwirrung herumschwankte, »ich kann Ihnen nur sagen, wie ich Ihre Problematik als Arzt einstufe. Seien Sie doch froh über meine Diagnose!«

    »Ja, ja«, stammelte sie noch immer schwer nachdenklich. »Schon gut.«

    Da begleitete er seine Patientin zur Tür. Spiegelthal wiederholte seine Worte, doch mit weniger Euphorie und ernsterer Stimme: »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir Menschen erklären alles für verrückt, was wir nicht verstehen. Das gebe ich Ihnen auf den Weg, gnädige Frau.«

    Mit einem Nicken durchquerte sie die Tür. Spiegelthals Gehör wartete auf den Moment, wenn das Schloss einrastete, dann gab er sich seiner mentalen Entwaffnung hin. Mit einem tiefen Atemzug sank er ein Stück nach vorn, mit der Hand strich er sich über die Stirn, während die Mittagssonne auf sein Profil schien. Kaum hatte er die Augen geschlossen, dachte er an Jamie und die unabgelöste Schuld, die er trug. Diesen Fall mit der Frau, die ihre tote Nichte sah, konnte er nicht annehmen. Schon einmal hatte er versagt. Nicht noch einmal wollte er diesen Fehler begehen. Doch sein Gewissen pochte unaufhörlich gegen die Innenseite seiner Brust. Er hatte in Kürze seine Überlegungen der letzten Monate zusammengetragen, um die Frau ruhig stimmen zu können. Was wusste er schon, wie diese Art von Psychose zu heilen war! Am besten hielt er seine Finger raus, bevor er Schaden anrichten konnte. Diese Begegnung hatte ihn wieder zurück zu Jamie geführt und zurück zu dem Entschluss, diese Praxis zu schließen. Eine Weile verging, bis er sich seinem nächsten Patienten widmen wollte. Er goss sich einen Schluck Whisky ein, der ihn auf andere Gedanken bringen sollte. Anschließend trat er aus dem Sprechzimmer. Noch immer wirkte sein Gesichtsausdruck, als wäre er geistig nicht im Diesseits. Es war ein merkwürdiger Anblick, der sich der Sekretärin bot. Doch sein Interesse war nicht ihr gewidmet; sein Kopf neigte sich ins Foyer, während der Körper in der Tür verweilte.

    »Der Nächste, bitte!«

    Im Gesicht der Sekretärin änderte sich etwas. Die müden, fast gar desinteressierten, Augen leuchteten geschwind auf, die Brauen wanderten höher und der Mund öffnete sich zu einem kleinen Spalt. Sie musterte ausgiebig das Bild, das der Doktor abgab. Erst nachdem ein wenig Zeit vergangen war, begann sie zu sprechen: »Das war der letzte Patient für heute.«

    Der nachdenkliche Ausdruck ihres Arbeitgebers blieb noch einen Moment bestehen, danach blickte er herüber. Leichte Verwunderung brachte er sodann zum Ausdruck: »Der Letzte für heute?«

    Sie nickte.

    »Aber es ist doch noch nicht mal drei?«

    »Ja, aber Sie haben mich dazu angewiesen, keine neuen Termine mehr zu vereinbaren.«

    Daraufhin kratzte er sich am Hinterkopf. »Ja, das hab ich. Tatsächlich. Entschuldigen Sie meine Zerstreuung…«

    Sie schüttelte beschwichtigend den Kopf. Es folgte ein Moment der Stille.

    »Dann«, sprach Spiegelthal, »können Sie gehen. Ich brauche Sie heute nicht mehr.« Mit diesen Worten wandte er sich ab. Er blickte nun zur Fensterseite des Sprechzimmers. Vom Marktplatz her fiel warmes Sonnenlicht herein. Spiegelthal schloss die Augen, als hoffte er, das Licht würde die Bilder seines Freundes ausbrennen; wenn nicht das, so zumindest mit Gegenlicht überstrahlen. Keines davon geschah. Er öffnete und schloss die Augen einige Male, doch Jamies Illusion war nur in seinem Kopf. Sein Bild hatte sich ihm eingebrannt.

    Hinter ihm stand seine Sekretärin; die Jacke bereits angezogen, die Tasche um die Schulter gehängt, bereit zum Aufbruch. Er bemerkte ihren Blick und drehte sich zu ihr um. »Ja?«

    Ihr Mund war in diesem Moment schmal, ihre Augenbrauen zuckten nach oben. »Sie wissen, dass ich morgen nicht mehr hier sein werde?!«

    Nun war es Spiegelthal, dessen Mund sich einen Spaltbreit öffnete. »Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man arbeitet…« Und kaum hörbar fügte er hinzu: »Wenn man nur noch seine Arbeit hat.–« Kaum waren die Worte ausgesprochen, sträubten sich seine Nackenhaare. Dasselbe hätte auch von Jamie sein können.

    Sein Gegenüber gab vor, ihn überhört zu haben. Sie fragte nicht weiter nach. Dagegen Spiegelthal: »Haben Sie bereits eine neue Arbeit gefunden?«

    Die Sekretärin schnaubte leise. »Was braucht Sie das zu kümmern?«

    Erschreckt ging sein Oberkörper ein Stück zurück.

    »Entschuldigen Sie!« Sie senkte den Kopf. »Das hätte ich nicht sagen dürfen.«

    »Nein, entschuldigen Sie mich, Fräulein Förster!«, sprang er ein. »Ich bin untröstlich. Doch ich muss tun, was ich tun muss. Keine neuen Patienten, bevor ich nicht meine eigenen Dämonen bekämpft habe, verstehen Sie?«

    Sie nickte. »Ich verstehe Sie, Doktor– glauben Sie mir.«

    »Ja, ich glaube Ihnen«, antwortete er auf die Floskel.

    Nach einer Weile fuhr er fort: »Wissen Sie, ich habe den Wahnsinn gesehen. Nicht irgendeinen, sondern einen, den ich selbst angerichtet habe. Was, wenn ich schon einmal derartige Fehler begangen habe? Was, wenn ich sie noch einmal begehe?«

    Frau Förster versuchte vergeblich eine Antwort zu geben. Er konnte ihr ansehen, wie sie nach Worten rang. Er wollte ihr helfen und griff ein: »Sie brauchen mir nicht zu antworten; das war eine metaphorische Frage, Fräulein Förster.«

    Doch sie wollte es versuchen: »Ich bin kein Arzt, Doktor, aber ich denke, Sie machen im Moment genau das durch, was jeder von uns durchmacht, wenn er einen Freund verloren hat, oder jemand, der ihm nahe steht.«

    Spiegelthal richtete seinen Blick auf die junge Frau. Mit aufforderndem Nicken bat er sie fortzufahren.

    »…Wir machen uns Vorwürfe und fragen uns, ob wir den Tod irgendwie hätten vermeiden können. – Ja, ich war nicht dabei. Aber nachdem ich seit ein paar Jahren für Sie arbeite, glaube ich nicht, dass Sie ein schlechter Mensch sind, Herr Spiegelthal. Ich sehe ja, wie viel Mühe Sie sich mit jedem Ihrer Patienten geben.«

    Er schüttelte den Kopf. »Nein, Fräulein Förster, Sie haben Recht. Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern in den meisten Fällen gut gemeint.«

    Sein Einwurf klang einleuchtend. Frau Förster schwieg.

    »Ich wollte Sie nicht unterbrechen«, sagte er; die Hände zu einem Pardon erhoben, »doch ich muss feststellen, dass Sie nicht dabei waren, als mein Freund starb. Ich muss mich schließlich an die Schweigepflicht halten. Ich habe schon einmal die Schweigepflicht verletzt.«

    »Sie haben Recht, Doktor. Es macht keinen Sinn sich darüber zu unterhalten. Nicht mit Ihrer Sekretärin.«

    Seufzend verzog er den Mund. »Ich habe in Ihnen nie eine Tippmamsell gesehen, Fräulein Förster; es ist nur, dass Sie nicht wissen, was geschehen ist. Keiner außer mir weiß es genau. Ich hätte die gleiche Antwort auch jedem anderen gegeben.«

    »Und ich fühle mich nicht angegriffen«, erwiderte sie freundlich. »Aber Ihre Bescheidenheit hat mir immer gefallen, Doktor.«

    »Ich gebe mein Bestes«, beschwichtigte er.

    »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

    Mit einer leichten Verneigung erwiderte er: »Dasselbe wünsche auch ich Ihnen, Fräulein Förster.«

    »Und…«, fügte sie über die Schulter hinzu, »ja, ich habe Arbeit. Bei einem Augenarzt ganz in der Nähe.«

    Spiegelthal nickte zufrieden. Ihm kamen zwei Namen ins Gedächtnis, doch er wollte nicht nachfragen.

    »Und Sie, Doktor? Wie wird es weitergehen?«

    »Ich? Nun…«, antwortete er nachdenklich. »Ich werde für eine Zeitung arbeiten. Ein akademisches Magazin für Medizin und Wissenschaft. Der Verlag hat seinen Sitz in Wien, wohin ich mich in wenigen Wochen begeben werde. Möglicherweise werde ich damit meine Läuterung finden.«

    Frau Förster lächelte freundlich. Er erwiderte das Lächeln. »Nun.«

    »Machen Sie‘s gut!«

    »Auf Wiedersehen!«

    Spiegelthal blieb noch eine Weile reglos stehen. Danach begab er sich vor die Tür zum Briefkasten. Dort betrat er das dunkle Gässchen, welches zum Eingang des Hauses führte. Er warf einen Blick nach links, wo sich die Müllsäcke stapelten. Nur Weniges würde er mit nach Wien nehmen. Vieles hatte er gespendet und verkauft. Trotzdem war eine Unmenge an Müll angefallen.

    Rechterhand führte das Gässchen zum Marktplatz, auf dem täglich großes Treiben herrschte. Bei sonnigen Tagen saßen die Leute in den umliegenden Cafés. Gerade heute, da der Frühling sich zum ersten Mal blicken ließ, war die Altstadt stark besucht. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Tourismus wieder blühte und die so schon engen Straßen kaum noch begehbar wären. Spiegelthal würde die Stadt vermissen und eigentlich zog es ihn heute nach draußen, doch er hatte noch einiges zu regeln. Es bot sich an, dass der morgige Donnerstag ohne Patienten war.—

    Er öffnete den Briefkasten, nahm die Post heraus und ging damit zurück in die Praxis. Ohne Weiteres legte er den Stapel auf den Tisch und trat nachdenklich ans Fenster. Die Cafés quollen beinahe über und der Marktplatz war überlaufen. Doch trotz des Sonnenscheins empfand Spiegelthal keinen Grund zum Frohsinn. In drei Jahren hatte er Jamie nie so gut verstanden wie jetzt. Das Gefühl von Schuld und Trennung war ihm erst jetzt wirklich bewusst geworden. Doch er musste sich zu allem Übel obendrein eingestehen, dass er sich in manch einen Patienten, der an Verlustschmerzen gelitten hatte, in Wahrheit kaum hineinversetzen konnte. Unter Umständen war es bei anderen Patienten mit anderen Erkrankungen genau dasselbe gewesen. Doch genau wusste er es nicht. Seufzend drehte er sich mit dem Rücken zur Fensterbank, sodass sein Blick in den Raum fiel. Das Sofa und der Sessel wirkten an diesem frühen Feierabend wie verwaist. Er wusste nicht, ob er sie jemals wieder benutzen würde; denn er konnte es nicht zulassen, noch einmal zu versagen. Nicht so, wie er es an Jamie und Eda getan hatte. Immer wenn er die Augen schloss, sah er die beiden vor sich. Vor allem aber Jamie. Das Gesicht, das er zog, bevor er sich die Waffe in den Mund steckte. Freilich, Jamie Winter war erlöst. Die Kugel hatte seinem Leben ein rasches Ende bereitet. Ein lauter Schuss, ein kurzer Schmerz, ein wehes Ende. Die Seele wurde dem Leib entrissen, so schnell, dass sie keine Zeit mehr zum Aufschrei hatte. Der leblose Körper war von der Wucht der Kugel jäh nach hinten gerissen worden, wo er rücklings in das nasse Gras eintauchte und im Regen liegen blieb. Das entseelte Gesicht starrte mit weit aufgerissenen, wie vom Wahnsinn erfüllten, schreckbefleckten Augen in die schier endlose Leere des Firmaments, an dem in dieser Nacht kein einziger Stern zu sehen war; nicht einmal ein einziger!

    Welcher Unfriede war in das angstzerfurchte Antlitz eingeprägt, als hätte es Todesqualen gelitten? Welcher Schrecken löste dieser Anblick in demjenigen aus, der es ansehen musste? Mitleid und Trübsal würde es auslösen, den Wunsch, der Tote möge in Friede ruhen. Einen Frieden als letzten Gnadenakt dieses zerstörten Lebens, der doch so sehr im Widerspruch zu dem Leid stand, der ihm ins Gesicht geschrieben war. Wenn der Totengräber ein sanftes Lächeln von Anmut und Würde daraus formen würde, so wäre es eine Maske, um ebendiese wogende Unruhe zu verbergen, die aussah, als hätte die Seele sie mit ins Jenseits genommen. Eine Maske, die den Verbliebenen, doch nur ihnen zuliebe, aufgesetzt war. Jede Spur von Ruhe und Frieden christlich-abendländischer Philosophie wäre damit vom Gegenteil zerborsten. Sah ein Lebender eine Leiche, dachte er nur an den eigenen Tod; und nur das allein löste die Angst und all den Spuk in ihm aus.

    Jamies letzter Gedanke, das letzte Gefühl, ein Gefühl erweichender Liebe, von Geborgenheit und Erlösung, süßlich herbeigeflehter Leere einer verzagten Seele. Der eine Wunsch, explosionsartig ohne Klang und Farbe in Rauch aufzugehen, ohne jemals existiert zu haben. Doch das Gesicht tiefer seelischer Psychose!

    Tod und Sterben, ein Kontrast wie Licht und Schatten. Mit weihevoller Verklärung gefülltes Nichts und elendiges Krepieren, das sich wie stählerne Gitterstäbe undurchdringbar dazwischen stellte.

    Die Umstehenden sahen nur wenig von diesem Anblick, da die Nacht ihre großen Hallen geöffnet hatte. Allein er, Jamies Psychiater und Freund Doktor Spiegelthal, hatte den letzten Moment in nächster Nähe mitansehen müssen. Das Blut war ihm ins Gesicht gespitzt. Sein eigenes blass und verstört. Das schillernde Weiß war mit weinroten Punkten betröpfelt. Keine Bewegung, kein Ton. Kein Muskel wagte es sich zu bewegen. Selbst die Gedanken waren plötzlich geronnen und die Gefühle vom Schock überlagert, der sich wie eine schwere Betonmauer auf ihn legte. Spiegelthal wollte schreien, sich wehren und um sich schlagend um Hilfe rufen und war verdammt! Jeglicher Ton war bis zur völligen Stille heruntergedämpft.

    Spiegelthal fuhr sich über das Gesicht, als wische er sich das Blut von den Wangen. Sein Blick fiel auf Zeige- und Mittelfinger.

    Erst nach Minuten des Schweigens lösten sich die Worte: »Was habe ich getan!«

    Er wiederholte sie einige Male. Erst jetzt nahten sich andere Gedanken an ihn heran und durchzogen die dämmrig-geistige Entrückung. Und noch immer der Vorwurf: »Was habe ich getan!«

    Auch jetzt, da einige Monate vergangen waren, wiederholte er die Frage: »Was habe ich getan!« Äußerlich hatte er weiter gearbeitet, doch innerlich hatte er Jamies Leid nachempfinden müssen. Er verstand ihn nun. Er verstand das Gefühl, nichts mehr auf Erden zu haben. Er hatte seine Berufung verloren, wie Jamie Eda verloren hatte. Doch Spiegelthal verlor in dieser Nacht nicht nur einen Freund. Seit der Beerdigung hatte er Francis nie wieder gesehen.

    Ach, wie schön waren ihre jungen Zwanziger! Wie herrlich war die Zeit, in der die Drei ein unbekümmertes Jünglingsalter führten! Er dachte gerne zurück; an die sechziger Jahre. Das erste Autofahren, die 68er-Bewegung, die Beatles und das Rebellieren gegen die vergreiste Gesellschaft. Ja! Sein Geist schwelgte zurück in diese wundervolle Zeit. Er hatte studiert, promoviert und seine Praxis eröffnet. Francis hatte ihm diese dreistöckige Wohnung über ein paar Kontakte organisiert. Über einen Kredit und den Zuschuss seiner Eltern hatte er sie erworben. Nun war der Kredit zurückbezahlt und der Traum nach gerade einmal zehn Jahren zu Ende. Er seufzte. Die bittere Realität konnte nicht weggeträumt werden. Dass Spiegelthal alle diese Züge von Jamie annehmen musste, gefiel ihm nicht. Doch das Schlimmste war das psychologische Wissen darum. Er konnte von außen auf seine Psyche sehen, doch er konnte nichts daran ändern. Er wusste, was womit verknüpft war, doch konnte das Unbewusste nicht bewusstmachen. Er konnte sein Ich nicht stärken, so wie er es in seinem Studium um Sigmund Freud gelernt hatte. Er konnte sich selbst nicht therapieren. Sollte er sich von einem anderen therapieren lassen? Nein! Das würde nichts helfen. Er wusste es; denn er zweifelte an seinen eigenen Methoden. Alles, was er für gültig empfunden hatte, war nun ein Haufen Asche, eine Fata Morgana; sein Streben nichts als blinder Ehrgeiz.

    Was hatte Francis ihm gesagt, als sie im Streit auseinandergingen? Die Seele des Menschen ist kein Apparat, wie die Psychologen es sich so kinderleicht vorstellten. Nicht der Verstand konnte Wunden heilen. Selbst ein Bettler, der intellektuell nie über das schriftliche Dividieren hinausgekommen war, aber gut zuhören konnte, wäre eine bessere Hilfe als ein Psychologe. Damals wollte er Francis nicht glauben. Nun fühlte er, wie der Zweifel in ihm überhandnahm. Er konnte es nicht weiter unterdrücken. Seine Eitelkeit bröckelte, sein jahrelang angeeignetes Verstandeswissen zerbarst an sich selbst; an ihm, an seiner eigenen Psyche!–

    Spiegelthal erschrak. Musik riss ihn aus seinen Gedanken. Von draußen her ertönte ein unwohlklingendes Lied, so unschön, dass er ans Fenster herantrat, um hinauszusehen. Am Marktplatz hatte sich eine Gruppe schmuddelig gekleideter Jugendlicher mit einem Radiorekorder breitgemacht, von dem eine Art Hip-Hop-Song lief. Der Hit war mit einem solch fürchterlichen Beat hinterleget worden, dass Spiegelthal mit einem verkrampften Blick das Fenster schloss. Er verstand die Musik der späten Siebziger nicht mehr. Seit seiner Jugend schwor er zwar auf Elvis Presley und die Beatles, doch die Musik der letzten zehn Jahre wollte er nicht mehr begreifen. Erst seit ein paar Jahren verstand er seine Eltern, die ihm damals exakt das gleiche Unverständnis entgegengebracht hatten. Zu Spiegelthals Unglück war der Beat noch immer gut zu hören. Zu gerne hätte er etwas hinausgerufen, doch er befürchtete, man würde ihn nicht ernstnehmen; im Gegenteil. Er wusste sich allerdings anders wie zu helfen. Ein verschmitztes, verräterisches Lächeln formte sich auf seinem Gesicht, als er das soeben geschlossene Fenster wieder öffnete. Daraufhin legte er Wagners Walküre auf den Plattenspieler, schmiss den Motor an und schloss den Verstärker an. Mit hochgelegten Füßen genoss er nun die Musik. Wenig später war von draußen her nichts mehr von dem Ghettoblaster zu hören. Als er zurück ans Fenster trat, lachte er leise, aber schadenfroh.

    »Mit euren eigenen Waffen geschlagen, was?«.

    Alsdann kippte er das Fenster und tauschte Wagner mit Beethovens Neunter aus. Die Nadel setzte er weiter in die Mitte, um in etwa den vierten Satz zu treffen. Tatsächlich hatte er den ruhigen Teil mit den Streichern getroffen, die zum ersten Mal in der Symphonie das Thema spielten. Unverzüglich war er wieder ruhiger geworden. Sein kurzer Anflug von Enthusiasmus war wieder verstummt. Oft hatte er mit Jamie diese Töne gehört. Das letzte Mal an einem späten Abend, als er mit ihm über seinen Traum gesprochen hatte. Jamie hatte den Termin verpasst und Spiegelthal ihn daraufhin mit dem Auto abgeholt. Er dachte daran, wie dies die letzte Sprechstunde war, in der Jamie noch klaren Sinnes war. Er hatte dort auf dem Sofa gelegen und Spiegelthal im Sessel, wo er auch jetzt wieder Platz nahm. Seither hatte er den Götterfunken nicht mehr gehört. Es war an der Zeit, wie er empfand, als die anschwellenden Töne Freude und Glückseligkeit in ihm wachriefen. Zuerst die stumpf klingenden Bässe, dann setzten die Blechbläser ein. Zuletzt eine Männerstimme. Wärmestöße breiteten sich von seiner Mitte aus durch den ganzen Körper. Er konnte schwören, dass ein Geruch von Zitrone in der Luft lag. Der Chor sang weihevoll Schillers Ode an die Freude. Die Musik baute Spannung auf und kündete das Thema an.

    Froh!

    Froh

    wie seine Sonnen

    seine Sonnen fliegen

    Froh wie seine Sonnen fliegen

    Durch des Himmels prächt’gen Plan,

    Laufet, Brüder, eure Bahn,

    Laufet, Brüder, eure Bahn,

    Freudig, wie ein Held zum Siegen,

    wie ein Held

    zum Siegen.

    Laufet, Brüder, eure Bahn,

    Laufet, Brüder, eure Bahn,

    Freudig, wie ein Held zum Siegen,

    wie ein Held zum Siegen.

    Freudig,

    freudig,

    freudig,

    wie ein Held zum Siegen!

    øøø

    Zwei

    Ein Brief der Staatsanwaltschaft erreichte ihn am Morgen danach. Nun, nachdem er solange gewartet hatte, war er völlig unvorbereitet.

    »Endlich!«, flüsterte er, doch begab sich ohne Hast wieder nach drinnen. Im Arbeitszimmer öffnete er den Brief. Die fettgedruckten Worte am Ende des Briefes erregten seine Aufmerksamkeit. »… wird das Strafverfahren somit ohne Folgen eingestellt.«

    Spiegelthal war verwirrt. Er hatte alles erwartet, aber nicht das. Das Strafverfahren wird eingestellt – ohne jegliche Folgen? Er wollte den ganzen Brief lesen, um sich zu vergewissern. Doch zuvor ließ er Revue passieren.

    Nach seiner Selbstanzeige hatte das städtische Polizeipräsidium die Strafanzeige ohne Vernehmung an die nächste Staatsanwaltschaft weitergegeben. Nach langem Schriftverkehr und einigen Vernehmungen wurde ein zweiter Psychologe eingeschaltet, der Spiegelthals Vorgehen auf seine Richtigkeit hin überprüfen sollte. Im Brief stand nun: »Weiterhin ergibt sich aus der Vernehmung, dass im Fall des als geistig gestört einzustufenden James Winter eine korrekte Zwangseinweisung zum Schutz der Umwelt und des Betroffenen selbst getroffen worden ist.«

    Das musste ein Irrtum sein! Spiegelthal hatte Gewalt gegen Jamie angewandt. Er hatte Fehler auf Fehler begangen und Jamies Tod doch nur dadurch herbeigeführt. Jetzt stellt man das Ermittlungsverfahren restlos gegen ihn ein? —

    Er musste mit einem Anwalt telefonieren. Sein Freund Randolf Gläser kannte sich in diesen Angelegenheiten aus. Am Abend würde er ihn anrufen. Doch es verging ein Tag, bis der Rückruf kam.—

    In der Zwischenzeit begann er damit, die ersten Umzugskartons zu packen. Während des Tages hörte er die ganze Breitseite seiner Rock Rock ‘n‘ Roll LPs rauf und runter. Am Abend des Folgetages ließ er sich mit einem Glas Rotwein auf dem Sessel nieder. Mit einigen Klaviersonaten von Debussy ließ er den Tag ausklingen. Müde geworden, schloss er die Augen. Er schlief ein, während die Platte schließlich durchlief. Schließlich klingelte das Telefon. Er zuckte hoch. In seinem Sessel hörte er beide Telefone; sowohl das in der Praxis als auch jenes in seinem Arbeitszimmer oben in der Wohnung. Der Plattenspieler gab parallel dazu ebendieses Geräusch von sich, wenn eine Platte durchgelaufen war. Er entfernte geschwind die Nadel und taumelte schlaftrunken zum Schreibtisch hinüber.

    »Praxis Doktor Spiegelthal, guten Abend.«

    Vom anderen Ende der Leitung kam ein Lachen: »Hab ich dich etwa geweckt?«

    »Randolf?«, gab er als Gegenfrage zurück.

    »Ja. Du hast mich gestern Abend angerufen…«

    »Das stimmt!«, gab er zurück. »Ich brauche deinen juristischen Rat.«

    Der andere lachte. »Ach so, gibt es irgendwelche Probleme?«

    »Nun, nicht direkt«, wich er zunächst aus. »Ich habe ja seit Ewigkeiten auf den Brief von der Staatsanwaltschaft gewartet. In der Zwischenzeit sind ja Wochen vergangen, in denen ich ewig viel hin- und herschreiben musste.«

    »Ja und weiter?«

    »Gestern Morgen kam der Brief.«

    »Und?«

    »Und das Strafverfahren wird somit ohne Folgen eingestellt.«

    »Das ist doch gut! Freu dich!«

    Spiegelthal seufzte. »Ja, ich bin froh… eigentlich, aber ich versteh nicht, warum ich ungeschoren davonkomme.«

    »Warum du ungeschoren davonkommst? Das fragst du?«, kam es mit einem Lachen aus dem Hörer. »Ist das irgendwie von Interesse?«

    »Ich habe einen Toten zu verantworten, Rand! Also nicht, dass ich scharf darauf wäre, bestraft zu werden, aber das hier kann einfach nicht sein.«

    »So hört es sich aber gerade für mich an«, erwiderte er mit einem Räuspern.

    Spiegelthal schwieg. »Schau mal!«, und er nahm das Telefon zu seinem Sessel hinüber. »Ich habe einen Freund versucht zu therapieren. Wie kann jemand behaupten, der einigermaßen denken kann –ja, ich konnte das damals nicht– dass das gut gehen wird?«

    »Und?«, unterbrach ihn der Anwalt. »Es gibt kein Gesetz, das dir verbietet einen Freund zu behandeln. Im Gegenteil, als Arzt hast du einen hippokratischen Eid geleistet–«

    »Ja, ich kenne den hippokratischen Eid!«

    »Ja, und darin heißt es, dass du die Pflicht hast jeden Menschen zu behandeln, egal wie deine persönliche Beziehung zu ihm ist.«

    Spiegelthal schwieg.

    »Wie wurde das eigentlich in deinem Schreiben begründet?«

    Er stand auf, um nach dem Brief zu suchen. »Darin hieß es, dass ich als ausgebildeter und nachweislich studierter Arzt selbst zu beurteilen hätte, welcher Art von Fall ich mich annehmen möchte und welchen nicht.« Er begann vorzulesen: » ›Jedwede private beziehungsweise persönliche Befangenheit hat der Arzt selbst zu beurteilen und abzuwägen. Sollte er darin einen Konflikt oder ein Potenzial eines zukünftigen Konflikts vermuten, der ihn als Fachmann in seiner Arbeit beeinträchtigen könnte, so kann von ihm erwartet werden, dass er Maßnahmen zur Überwindung dieses Konflikts trifft und in die Wege leitet.«

    »Genau!« Kaum hatte er geschlossen, erhielt er diese Antwort.

    »Genau?«

    »Ja, genau so denke ich das auch. Warum soll der Staat darin eingreifen, welche Menschen du als Patienten annimmst?«

    Spiegelthal strich sich nervös das Stirnhaar zur Seite. »Das meine ich doch gar nicht.«

    »Doch, genau das meinst du!«, widersprach sein Gesprächspartner. »Dir geht es darum, dass der Staat dich dafür bestraft –was ich noch immer nicht verstehe, wie man so etwas wollen kann–, dass neben deiner geschäftlichen Beziehung auch eine private zu deinem Patienten bestanden hatte. Wie in dem Brief steht, heißt es, dass du das selbst abwägen musst. Es gibt kein Gesetz, das dir verbietet, ein geschäftliches Verhältnis –und das ist eine Therapie aus juristischem Standpunkt ja auch– mit einem Freund oder Bekannten aus freiem Entschluss einzugehen.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich meine, was erwartest du? Ein Staat, der dir vorschreibt, mit wem du Handel treiben darfst und mit wem nicht? Bist du so naiv? Bist du derart sozialistisch im Denken?«

    »Du teilst wirklich harte Worte aus«, erwiderte Spiegelthal.

    Der Anwalt stieß ein verständnisloses Lachen aus. »Ja, aber so ist es doch!«

    »Nun, das mag sein!« Dabei stand er auf und ging auf dem Teppich umher. »Aber ist es auch ganz unbedenklich und rechtlich völlig lupenrein, dass ich einen Unfall als Selbstmord bezeichnet habe und meinen Patienten damit in den Wahnsinn getrieben habe?«

    Ein kurzes Schweigen, dann die Antwort: »Das war doch ein Trugschluss, nicht? Ein Trugschluss ist ohne niederen Beweggrund. Meines Wissens nach hast du doch auch gesagt, dass die Polizei dich in deiner Annahme bestätigt hat. War es nicht so?«

    »Ja, weil ich es ihnen nahegelegt habe und man sich auf mich verlassen hatte. Ich war schließlich der Arzt, ich kannte Eda und ihre gesundheitliche Verfassung.« Er klang verzweifelt. Entrüstet setzte er sich wieder.

    »Trotzdem! Trugschlüsse gibt es überall. Bei der Polizei und bei Ärzten. Wie viele Fehldiagnosen gibt es auf der Welt? Wie viele jeden Tag? Willst du etwa jeden Arzt zu Rechenschaft ziehen, der eine Fehldiagnose gemacht hat? Wo wären wir dann?«

    Spiegelthal ging nicht darauf ein. »Die Polizei hat den Fall nicht einmal weiter untersucht. Klar, es war Weltuntergangswetter und man hatte viel zu tun, aber wäre ich nicht dazwischen gewesen, dann wäre der Unfall vielleicht als solcher anerkannt worden.–«

    Gläser widersprach: »Und für … für Jamie, hieß er nicht so?«

    Spiegelthal bejahte.

    »Was ist mit ihm? Was hätte er gedacht? Er hat seine Frau wohl am besten gekannt. Würdest du an einen Unfall glauben? Ein Selbstmord wird nur dann als solcher bezeichnet, wenn es ganz klar ist. Jeden Tag gehen zig Selbstmorde als Unfall durch, Spiegelthal.«

    Die Diskussion wurde aussichtslos, Randolfs Argumente zu stark.

    »Glaubt du, das hätte alles besser gemacht?«

    »Mein Gewissen vielleicht…«

    Wieder war das kurze Lachen zu hören. »Ich glaube dir, dass du dir Vorwürfe machst. Wer würde das nicht? Aber sieh ein, dass du nichts verbrochen hast.«

    »Selbst die Sache mit der Klinik hat man mir nicht angerechnet«, klagte er weiter. »Ich hätte dem Pflegepersonal bessere Anweisungen geben müssen. Sie hätten besser vorbereitet sein sollen. Vielleicht wäre Jamie dann nicht ausgebrochen. Ich habe ihn doch geradezu provoziert.« Seine Stimme schwoll an: »Ich habe ihn gedemütigt! Ich hegte Groll gegen ihn! Ich–«, die Worte blieben ihm im Hals stecken. »bin ein schlechter Mensch…«

    Ein Moment der Stille, bis Randolf antwortete. »Du klingst wie ein Lamm, das freiwillig zum Opferaltar gebracht werden will. Das klingt für mich wie Weltschmerz, den du da trägst. Aber du bist unschuldig. Auch nicht aus menschlicher Sicht. Deine Fehler waren menschlich, und ein Mensch bist du eben nur. Nicht mehr und nicht weniger. Aber du hast mich nach meiner juristischen Beurteilung gefragt. Das ist sie: Du bist unschuldig!«

    »Na ja«, sagte er dann. »Nicht ganz. Weil ich Jamie dazu aufgefordert habe mit dem Auto zu fahren, obwohl er keinen Führerschein hatte, gibt man mir eine saftige Geldstrafe und Punkte in Flensburg.«

    »Also, dann freu dich doch darüber!«

    Spiegelthal antwortete vorwurfsvoll: »Danke für den Sarkasmus.«

    »Ja, es tut mir ja Leid!«, entschuldigte er sich. »Es ist mir einfach nur ein Rätsel, wie jemand geradezu nach einer Strafe sucht! Aber sag: Was würde es dir nützen, wenn man dir eine Geldstrafe aufbrummst? Wirst du dadurch selig? Wird die Schuld dadurch gesühnt? Hast du auch nur irgendwas damit wieder gut gemacht? Gibt es noch Angehörige? – Gibt es jemanden, der an dem Tod von Jamie besonders zu leiden hat? Gib ihm das Geld! Tu etwas Praktisches! Biete deine Hilfe direkt am Krisenherd an! Der Staat veruntreut dein Geld nur.«

    »Das mag stimmen.« Damit schloss er leidvoll die Augen. Für einen Moment vergaß er, dass noch jemand am Telefon war.

    »Bist du noch da?«

    »Äh, ja!« Er schüttelte sich wieder wach, doch die Augen waren schwer.

    »Wie wird es weitergehen?«, wollte sein Freund wissen. »Das letzte Mal hast du ja erwähnt, du würdest deine Praxis schließen. Bleibt es dabei?«

    »Ja«, antwortete er. »Es steht fest.«

    »Verstehe…«

    »Vor ein paar Tagen«, begann er zu erzählen, »kam eine Frau zu mir, die Geister sah.«

    Der andere schwieg zunächst, als hoffte er, Spiegelthal würde das Gespräch weiterführen. »Da bist du der Fachmann für. Ich kann dir dabei nicht helfen.–«

    Spiegelthal betrachtete sich selbst in der Spiegelung des Fensters. Seine Lippen wirkten ausdruckslos, das Gesicht war bleich. Neben ihm war der Sessel, in der rechten Hand das Schnurtelefon. »Der Fall geht mir nicht mehr aus dem Kopf«, erklärte er. »Auf der anderen Seite hat er mich darin gestärkt, einen neuen Beruf zu ergreifen. Bevor ich mich wider an die Geister anderer heranwage, muss ich zuerst meine eigenen bekämpfen.«

    »Verstehe.«

    Übergangslos wechselte er das Thema. »Und dir? Dir geht es gut?«

    »Mir?«,

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