Diagnose: Empathie: Aus dem Alltag einer jungen Ärztin
Von Olga Kogan
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Buchvorschau
Diagnose - Olga Kogan
Glossar
Zimmer 19
Wer mag schon am Samstag um sechs Uhr morgens arbeiten? Etwas unwillig verließ ich den Aufzug, trat auf den stillen Gang und lenkte meine Schritte Richtung Schwesternzimmer. Da zog plötzlich Zimmer 19 meine Aufmerksamkeit auf sich – beide Signallampen leuchteten, für die Schwesternwie für die Arztvisite. Ich zögerte für einen Moment. Ein unangenehmes, bitteres Gefühl, eine Vorahnung, breitete sich in meiner Magengegend aus. So früh konnte noch keine Visite stattfinden. Mir blieb jedoch keine Zeit, um weitere Überlegungen anzustellen, die Schwestern zählten jede Minute, die die Praktikantin auf sich warten ließ. Zuspätkommen war tabu. Ich verschwand rasch im Bad, kleidete mich um und betrat zwei Minuten später das Schwesternzimmer. Dienstübergabe: zwei Schwestern und der Nachtdienst. Alles wie immer, kein Wort über irgendwelche besonderen Vorfälle, eine einzige Informationsflut: Der Patient war unauffällig und hat geschlafen … Der Patient hat aufgefiebert … 20 Tropfen Novalgin; Morgen Entlassung.
Ich hörte nur mit einem Ohr zu. In Gedanken war ich noch bei Zimmer 19. Es war also niemand dort. Warum leuchteten dann die Signallampen? Ich traute mich nicht zu fragen, denn erstens mochten die Schwestern keine Unterbrechungen und zweitens wollte ich die Antwort nicht hören. Ich kannte sie bereits.
Zimmer 19 – Patient mit Colon-CA, Lebermetastasen.
Zimmer 19 – Patient häufig desorientiert, verwirrt, kann Diagnose nicht verarbeiten, Verdacht auf Hirnmetastasen. Der Doktor weigert sich zu operieren, wegen Angst vor Herzversagen. Die Ehefrau besteht darauf. Der Doktor ordnet Spontan-OP an, gibt an, die Lebermetastasen mit neuesten Lasertechniken ohne Probleme entfernen zu können. Der Patient versorgt sich selbst.
Zimmer 19 – OP, Intensivstation, der Bauch wurde geöffnet und wieder zugenäht, inoperabel. Der Patient kam zu spät, er sagte, er hätte keine Zeit gehabt, um sich untersuchen zu lassen. Keine Zeit für seine Gesundheit? Keine Zeit fürs Leben?
Zimmer 19 – Patient auffällig gelb, nicht ansprechbar, Atemnot, Herzversagen. Im Schwesternzimmer flüsterte man, es sei besser, wenn es endlich „vorbei" wäre, er hätte sich genug gequält. Man beschuldigte im Stillen den voreiligen Arzt – er hatte eine erfolgreiche OP versprochen, er trug die Verantwortung. Am Tag zuvor hatte sich die Schwester noch Gedanken gemacht, ob man ein neues Stammblatt anfertigen sollte, ob sich das noch lohne.
Das alles ging mir durch den Kopf und es war klar, was passiert war. Ich hatte den Patienten in den letzten Tagen nur kurz gesehen. Ich hatte das Zimmer gemieden, denn schon die wenigen Male hatten gereicht – die dunkelgelbe Haut, die gelben Augäpfel, der weit aufgerissene Mund, der pfeifende Atem, die Bewusstlosigkeit. Jedes Mal etwas schlimmer, etwas weiter weg, in riesigen Schritten einem letzten Ziel entgegen. Doch bis jetzt hatte ich mir nicht vorstellen können, dass es wirklich passieren würde, denn in meiner Welt gab es noch keinen Platz für den Tod, zumindest nicht für den von Leuten, die ich kannte.
„Ich werde sie mitnehmen. Oder … nein, lieber doch nicht. Es ist nichts für sie, meinte die Nachtschwester. Ich saß etwas abseits an der Wand und hatte von diesen Worten aufgeschreckt den Kopf gehoben, die Augen geweitet. Eine der beiden anderen Schwestern schaute mich an, ihre Gedanken standen ihr ins Gesicht geschrieben: „Was für ein Kind! Zuerst kippt sie bei der OP um und schiebt alles darauf, dass sie unter der Maske nicht atmen könne, und nun hat sie schon wieder Angst. Wie will die überhaupt Medizin studieren?
„Klar nimmst du die mit, sagte sie dann allerdings laut zu ihrer Kollegin gewandt, noch nicht einmal bemüht, ihrer Stimme einen neutralen Ton zu geben. „Sie ist 20 und in einem halben Jahr wird sie die eh aufschnippeln.
Die Nachtschwester schien nicht ganz überzeugt und verließ zögernd das Zimmer.
„Ist Herr B. verstorben?, fragte ich schließlich mit leiser Stimme. Die Schwester sah mir direkt in die Augen. „Ja
, antwortete sie mit Nachdruck. Sie war der Auffassung, dass ich das Leben kennenlernen musste und es falsch wäre, mich mit Samthandschuhen anzufassen. In ihrer Wahrnehmung war ich ein verstörtes Kind, dessen Blick bei der Todesnachricht tief wurde und traurig. Ich tat ihr leid. Ich blinzelte vor Anspannung und schaute zu Boden. Ob zu hören war, wie laut ich schluckte? Noch war die Schwester nicht bereit nachzugeben „Du gehst gleich mit, ihn ins Kühlfach bringen, sagte sie bestimmt. „Mhhh …
, murmelte ich,