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Die Puppe wusste es
Die Puppe wusste es
Die Puppe wusste es
eBook374 Seiten4 Stunden

Die Puppe wusste es

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Über dieses E-Book

Das Schicksal führt an einem heißen Sommertag in Barcelona zwei sehr unterschiedliche Menschen zusammen: Die Architektin Mariam und Tjomme, den Arzt im Ruhestand. Die junge Frau ist selbstmordgefährdet. Tjo gelingt es, dass Mariam sich ihm öffnet und über ihre traurige und turbulente Vergangenheit erzählt.
Das Leben der beiden gerät durch dieses Treffen gründlich aus den Fugen. Obwohl sie füreinander Fremde sind, werden Mariam und Tjo feststellen, dass sie viel mehr verbindet, als sie ahnen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Nov. 2021
ISBN9783347421790
Die Puppe wusste es
Autor

Rita Maffini

Rita Maffini, geboren 1949 in Cortemaggiore, Italien, ist in Braunfels, Mittelhessen zu Hause. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn. In ihren jungen Jahren lebte sie in London, Paris, Rom und Frankfurt am Main. Nach einer kaufmännischen Ausbildung in Italien widmete sie sich dem Erlernen der Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch. Als Übersetzerin und Dolmetscherin war sie viele Jahre für verschiedene renommierte Firmen in unterschiedlichen Positionen im Rhein-Main-Gebiet tätig. In 2014 erschien ihr erster Roman TRIPLUM – Drei Leben, ein Weg und in 2021 ihr zweiter mit dem Titel: DIE PUPPE WUSSTE ES. Sie möchte mit ihren Geschichten, Leserinnen und Lesern eine facettenreiche und kurzweilige Lektüre bieten.

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    Buchvorschau

    Die Puppe wusste es - Rita Maffini

    Teil 1

    Mariam

    1

    Die junge Frau hatte kein Ziel, lief einfach umher und ließ sich von ihren Beinen tragen. Sie erschauerte und nahm den Schmerz in seiner ganzen Stärke wahr. Ihr Herz klopfte und fühlte sich schwer wie ein Stein in ihrer Brust an. Die Sonne brannte auf ihrem Kopf, das strähnige Haar verdeckte ihr Gesicht, das Kleid klebte unangenehm an der Haut. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

    Am liebsten wäre es ihr gewesen, sich in Luft aufzulösen, um vom heißen Wind in eine andere, gefälligere Welt geweht zu werden.

    Das Atmen war mühselig, sie konnte kaum noch weitergehen. Völlig erschöpft schaute sie sich nach einem kühlen Plätzchen um. Für einen Moment war sie so beschäftigt damit, nach Schatten zu suchen, dass sie keine innere Pein mehr spürte. Erleichtert erblickte sie eine Holzbank unter einem Schatten spendenden Baum. Rasch begab sie sich dorthin, setzte sich seufzend, strich die Haare aus der Stirn und wischte sich die Tränen und den Schweiß mit dem Handrücken ab. Ihre Augenlider senkten sich vor Müdigkeit. Der Kampf dagegen war zwecklos, sie legte sich auf das harte Holz und schlief ein.

    Irgendwann öffnete sie die Augen und hatte kurz die Illusion, dass alles in Ordnung sei. Sie rührte sich zuerst nicht und genoss die positive Wende, die der Schlaf hervorgerufen hatte. Viel zu schnell ergriff die Realität erneut von ihr Besitz.

    Sie erhob sich von der unbequemen Liegeposition, dehnte und streckte ihre schmerzenden Glieder und setzte sich wieder hin. Die Ruhepause war vorbei. Eine heftige Verbitterung überfiel sie.

    Ständig schwirrten ihr dieselben Gedanken durch den Kopf: Verdammt, wie kann das Schicksal immer so brutal mit mir umgehen? Ich stehe vor einem Scherbenhaufen … Wozu und für wen soll ich weiterkämpfen? Mir fehlen sowohl der Wille als auch die Kraft dazu. Ich kann nur eine letzte Entscheidung treffen, die mir das Leben ermöglicht: den Tod.

    Der Park war menschenleer. Jung und Alt hatten sich offensichtlich vor der erdrückenden Hitze in ihre Häuser zurückgezogen. Zu ihrer Verwunderung sah sie jemanden auf sich zukommen. Ihre Sorgen gerieten für einen Augenblick in den Hintergrund. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand vor dem gleißenden Sonnenlicht ab und versuchte die herankommende Gestalt zu erkennen. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie feststellen konnte, dass es sich um einen älteren Mann handelte. Er war groß, schlank, trug einen schlohweißen Vollbart und stützte sich auf einen Stock. Sein Schritt war langsam und vorsichtig, er schien leicht zu schwanken. Als er sie erreichte, merkte sie, dass er sehr alt war. Seine Kleidung war altmodisch, aber sauber. Er schnaufte. Seine Stirn war schweißüberströmt, ein Rucksack hing über seinen Schultern.

    Sie staunte, als er sie auf Englisch ansprach: »Darf ich mich neben Ihnen auf die Bank niederlassen?«

    Sie hielt eine Sekunde inne. »Natürlich, bitte setzen Sie sich.«

    »Oh, danke. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?« Die nächste Bank ist zu weit weg für mich. Bei der Wärme muss ich erst mal Atem schöpfen.«

    Die kehlige Stimme des Alten beruhigte ein wenig das Durcheinander in ihrem Inneren. »Sie stören mich nicht. Ja, es ist in der Tat furchtbar heiß. Wie kommt es, dass Sie um diese Zeit und bei der Hitze unterwegs sind?«

    Der Fremde reagierte nicht, ließ sich schwerfällig nieder und deponierte den Rucksack neben sich. Er holte ein weißblau kariertes Taschentuch aus der Hosentasche und trocknete sich damit das Gesicht ab. Danach seufzte er und richtete stumm seinen Blick nach vorne.

    Beide schwiegen. Nirgendwo sonst war eine Regung zu vernehmen. Sie beäugte den Alten von der Seite. Er atmete jetzt ruhiger. Sie spürte den Drang, die Stille zu unterbrechen. »Der Baum spendet zwar Schatten, aber die hohe Lufttemperatur macht uns dennoch arg zu schaffen.«

    Von seiner Seite kam kein Kommentar. Unvermittelt drehte er sich zu ihr um. »Ihre Körperhaltung ist stark angespannt.« Aufmerksam betrachtete er ihr Gesicht. »Und Sie scheinen verzweifelt zu sein.«

    Verblüfft setzte sie zu einer Erwiderung an, kam jedoch nicht dazu, etwas zu sagen, da der alte Mann sofort weiterredete.

    »Es tut mir im Herzen weh, eine junge Dame so traurig zu sehen. Sie sollten fröhlich und dem Leben mit einem Lächeln zugewandt sein. Stattdessen sitzen Sie hier, mutterseelenallein und niedergeschlagen. Was ist mit Ihnen los?

    Ich möchte nicht indiskret sein, allerdings scheint mir Ihr Kummer so groß, dass er zum Himmel schreit.«

    Wut erfasste sie, weshalb sie heftig auf seine Frage reagierte. »Hören Sie auf, hören Sie bloß auf. Was wollen Sie überhaupt von mir?«

    »Um Gottes willen, bitte beruhigen Sie sich.« Er bewegte beschwichtigend seine rechte Hand auf und ab. »Ich möchte gar nichts von Ihnen. Ich sehe nur, wie Sie sich grämen. Würden Sie mir eine Chance geben, könnte ich Ihnen beistehen. Meine Lebenserfahrung hat mich gelehrt, dass viele Probleme gar nicht so ausweglos sind, wie sie zuerst erscheinen. Bitte erzählen Sie mir den Grund, weshalb Sie so dermaßen verzweifelt sind.«

    Sie rang nach Luft, betrachtete ihn. Sein mitfühlender Blick spiegelte ehrliche Anteilnahme wider. Sie fing herzzerreißend zu weinen an. Schluchzend schleuderte sie ihm die Worte entgegen: »Mein Leben ist bisher wie eine einzige Katastrophe verlaufen. Da gibt es nichts mehr zu helfen. Ich wünschte, es gäbe mich überhaupt nicht.«

    Schweigend beugte er sich zu seinem Rucksack, öffnete ihn und holte zwei kleine Flaschen Mineralwasser heraus, dann drehte er sich zu ihr. »Sie sind bestimmt durstig nach den vielen Tränen. Bitte nehmen Sie das Wasser. Übrigens, wie ist Ihr Name?« Er hielt die Wasserflaschen in den Händen und musterte sie mit sanfter Neugier. Sie weigerte sich zuerst, seiner Bitte nachzukommen. Er drückte ihr behutsam eine Plastikflasche in die rechte Hand.

    Sie umschloss sie und spürte eine angenehme Kühle. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich regelrecht nach Flüssigkeit sehnte. Mit einem nervösen Ruck schraubte sie den Verschluss auf, setzte die Flasche an die Lippen und trank in einem Zug die Hälfte des Inhalts. Diese kleine Erfrischung tat ihr gut. »Besten Dank. Es stimmt, ich war am Verdursten. Und ja, Sie haben recht: Ich bin mehr als verzweifelt. Mein Name ist Mariam. Und wie heißen Sie?«

    Der Fremde lächelte. »Tjomme, das ist ein skandinavischer Name. Für meine Freunde bin ich Tjo, Sie dürfen mich ebenfalls so nennen. Wie alt sind Sie, Mariam?«

    »Ich bin achtundzwanzig und Sie?«

    »Das ist ein witziger Zufall, lesen Sie Ihr Alter von rechts nach links und Sie kennen meines. Mariam, warum sitzen Sie auf einer Bank in diesem kleinen Park hier in Barcelona und leiden offensichtlich Höllenqualen? Möchten Sie mir die Ursache anvertrauen?«

    Sie schloss kurz die Augen. »Den Ablauf meines bisherigen Lebensweges kann man nicht so auf die Schnelle schildern, es ist keine leichte Kost. Das Elend zieht sich seit Langem wie ein roter Faden durch mein Leben. Sie sind bestimmt nicht darauf erpicht, Zeit zu verschwenden, um sich meine Geschichte anzuhören. Trotzdem danke für Ihr Mitgefühl.«

    »Warum denn nicht? Mein größter Luxus ist es, Zeit zu haben. Nutzen Sie diesen Umstand. Ich bin ehrlich daran interessiert, zu erfahren, warum Sie so deprimiert sind.«

    Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und wartete einen Moment. Inzwischen hatte sich ihr Herzrhythmus normalisiert.

    »Okay, wenn Sie sich das antun wollen! Vielleicht sollte ich endlich die bleierne Last, die auf meiner Seele liegt, loswerden.«

    »Prima. Bevor Sie beginnen, habe ich eine letzte Frage. Mariam, Sie sind keine Spanierin?«

    »Ja, Tjo, ich bin keine Spanierin, ich bin Deutsche und verbringe meinen Urlaub hier in Barcelona.«

    »So ein Zufall. Wir können uns auf Deutsch unterhalten. Meine Mutter war Deutsche und hat großen Wert daraufgelegt, dass ich ihre Muttersprache lerne. Auch ich verbringe hier zurzeit meinen Urlaub bei guten Freunden. Vorhin deuteten Sie eine bleierne Last an. Was hat es damit auf sich, Mariam?«

    Mariam war nun tatsächlich bereit, die Geister ihrer Vergangenheit aufleben zu lassen. Dieser warmherzige alte Mann schaffte es mit seiner sanften Dickköpfigkeit, die Schleusen ihrer Seele zu entriegeln und die Wucht ihrer Emotionen zu entfesseln. »Noch vor wenigen Wochen dachte ich, mein Leben hätte sich zum Besseren gewendet. Bedauerlicherweise hat sich das nur als eine Illusion herausgestellt. Warum Tjo, warum ist das Schicksal so grausam zu mir? Ich scheine das Pech anzulocken, so wie eine Blume die Bienen. Mit meiner Weisheit bin ich am Ende und muss gestehen, dass Sie mir wie meine letzte Hoffnung erscheinen. Ich händige Ihnen jetzt das Buch meines Lebens aus. Was werden Sie damit anfangen?«

    Tjo dachte nach. »Natürlich schlage ich es sofort auf. Aber lesen Sie mir lieber von Anfang an daraus vor, Mariam. Wie lautet denn der Text des Buches?«

    Mariam trank einen Schluck Wasser, stand auf, lief ein paar Schritte und setzte sich wieder neben Tjo auf die Bank. »Eingangs möchte ich zum besseren Verständnis unterstreichen, dass mir meine Herkunft und die Vorgeschichte meiner Familie unbekannt sind. Die einzige Person, die Auskunft hierüber hätte geben können, war meine Mutter. Das geschah jedoch nie.«

    Sie ordnete ihre Gedanken und suchte den Anfang des Weges. Vorsichtig unternahm sie den ersten Schritt.

    2

    Meine Mutter und ich lebten in einer winzigen Zwei-ZimmerDachgeschosswohnung in der Frankfurter Innenstadt. Im Winter war es dort kalt und im Sommer heiß. Ausgestattet war sie mit spärlichen Möbeln, allerdings kann ich nicht behaupten, dass es ungemütlich bei uns war. Meine Mutter beteuerte, dass wir Glück hatten, dort wohnen zu dürfen.

    Als meinen Lieblingsplatz hatte ich mir einen uralten Sessel ausgewählt. Hier saß ich manchmal stundenlang und spielte mit meinen zwei Stoffpuppen. Spielzeug hatte ich wenig. Diese Puppen, die eine blond, Anna, und die andere dunkelhaarig, Susi, waren mein Ein und Alles.

    Meine Mutter und ich schliefen gemeinsam in einem Doppelbett. Wenn sie gesund war, kuschelte ich am Abend gerne mit ihr und lauschte gespannt ihren Geschichten. Mal erzählte sie von einem Schmetterling, der gefangen in einem Terrarium lebte. Mal von einem stolzen Löwen, der in der Savanne Gazellen jagte, oder von einem frechen Affen, der seinen Artgenossen die Bananen stahl. Anna und Susi, die Puppen, Flaff, der Schmetterling, King, der Löwe und Poppi, der Affe, waren meine einzigen Freunde. Real waren Anna und Susi, die sonstigen mir vertrauten Gestalten existierten nur in meiner Fantasie, dennoch liebte ich sie, weil sie meinen Alltag bereicherten.

    Wir verließen die Wohnung nicht oft. Zweimal die Woche ging meine Mutter abends in einem nahen Supermarkt einkaufen und ich durfte sie ab und an begleiten. Meist kaufte sie die gleichen Dinge ein. Sie kochte nicht gerne, folglich aßen wir häufig Fertiggerichte, wenig Obst, kaum frisches Gemüse. Hatte meine Mutter gute Laune, was selten vorkam, buk sie Pfannkuchen. Ich bestrich sie mit einer Schokocreme und sie schmeckten wirklich herrlich. Wurden Pfannkuchen serviert, war ich zufrieden. Meine Kindheit war sehr eintönig und einsam. Von Kindergärten, Schwimmbädern und Treffs, wo sich die Kinder mit Gleichgesinnten zum Spielen trafen, hatte ich nie erfahren. Während des Tages guckten wir endlos Fernsehen, vorwiegend Talkshows, Filme oder Nachrichten, die ich nicht verstand und die für mich total langweilig waren. Die Idee, auf einen Zeichentrickfilm umzuschalten, kam meiner Mutter nie.

    Im Sommer wurde die Hitze in der Wohnung unerträglich. Deshalb war ich immer froh, wenn meine Mutter mich ab und zu am späten Nachmittag zu einem nahegelegenen Park brachte. Hier befanden sich ein paar Holzbänke und ein kleiner Brunnen. Sofort sprang ich ins Wasser, das mir im Stehen bis zum Knie und beim Hinsetzen bis zu den Schultern reichte. Beim Planschen quietsche ich vergnügt.

    Währenddessen ruhte sich meine Mutter auf einer Bank aus und las irgendeine Zeitschrift.

    Später, als die Zeit zum Gehen nahte, kam sie zu mir, legte die Hände ins Wasser und lächelte mich an. »Oh ja, schön kühl! Dir gefällt es hier, nicht wahr, meine Kleine?«

    Daraufhin spritzte ich ihr Wasser ins Gesicht und jauchzte. »Ja, Mami, noch ein bisschen hierbleiben.«

    »Gut, du Wasserratte, in fünf Minuten müssen wir aber heim.« Sie stellte sich daraufhin neben den Brunnen und schaute mir zu, wie ich mich fröhlich aus tobte.

    Diese himmlische, wenn auch kurze Phase der Erfrischung war mein Sommer-Highlight und hat sich für immer in meiner Erinnerung festgesetzt. Es tat mir gut, an der Luft zu sein, etwas Anderes zu sehen als die vier Wände, die mich umgaben, die blöde Glotze und den Supermarkt.

    Seltsamerweise habe ich in diesem Park niemals andere Kinder getroffen, nur Erwachsene, die mit ausdruckslosen Gesichtern herumlungerten und sich nicht um uns kümmerten. Aus heutiger Sicht bin ich sicher, dass dort ein Treffpunkt für Drogenabhängige war.

    Wenn ich mich recht entsinne, muss noch eine Person bei uns gewohnt haben. In meinem Gedächtnis formen sich dazu gelegentlich Umrisse einer Gestalt, die mich in den Arm nimmt. Worauf eine weibliche Stimme, die nicht meiner Mutter gehörte, nebulös in meinem Ohr erklang. Ich dürfte so um die zwei Jahre alt gewesen sein, als diese Person auf einmal nicht mehr da war. Ich weiß bis heute nicht, ob es sich hierbei nur um einen Traum handelte, oder ob diese andere Frau jemals existiert hat.

    Mit knapp fünf Jahren lebte ich gefangen in einer beschränkten und anspruchslosen Welt. Meine einzige Bezugsperson war meine Mutter. Sie schirmte mich von der Außenwelt ab. Indes hatte ich damals nicht den Eindruck, dass mir was fehlte, da ich nur dieses bescheidene Leben kannte.

    Wir hatten nur von einem einzigen Menschen Besuch: Mister Pig, unserem Vermieter.

    Meine Mutter hatte ihn mir ausführlich beschrieben: Er war ein fetter Mann mit einer permanent roten Knollennase, fast kahl, hatte kleine, kalte blaue Augen und lachte nie. Sie meinte, er würde einem Schwein ähneln, deshalb nannte sie ihn Mister Pig.

    Dieser Mister Pig hatte einen enormen Einfluss auf unser Leben. Er meldete sich nie an, klingelte einfach an unserer Tür und wurde hereingebeten.

    Er durfte nicht erfahren, dass ich existiere. Aus diesem Grund musste ich mich bei seinen Besuchen im Kleiderschrank verbergen und durfte keinen Mucks von mir geben, bis er weg war. Eingesperrt zu sein, fand ich grausam, deshalb versuchte ich mich jedes Mal dagegen zu wehren.

    Daraufhin pflegte meine Mutter klischeehaft zu sagen: »Engelchen, du musst dich verstecken. Falls Mister Pig dich entdeckt, wird er dich mitnehmen und für immer einsperren. Wir könnten uns nie wieder sehen. Willst du das?«

    Meine Mama nie wiedersehen? Das wollte ich auf keinen Fall. Deshalb tat ich, was mir aufgetragen wurde, obwohl ich eine panische Angst hatte, im Kleiderschrank zu kauern. Die aufgehängten Kleider glichen in der Dunkelheit Gespenstern, die mich von allen Seiten umstellten und mich zu ersticken drohten. Ich nahm stets meine zwei Puppen mit, drückte sie an meine Brust, schloss die Augen und hoffte, dass ich bald aus dieser misslichen Lage befreit werden würde. Meine Ohren konnte ich mir nicht andauernd zuhalten, so nahm ich merkwürdige Geräusche wahr, die aus dem Wohnzimmer stammten. Schweres Atmen, schrille Laute, Gestöhne und Worte wie: »Ja, ja, ja«, »oh mein Gott« und »weiter, weiter« wurden ausgerufen.

    Es war zum Fürchten. Ich malte mir aus, wie meine Mutter und Mister Pig sich wehtaten. Irgendwann kehrte plötzlich Ruhe ein und Minuten später wurde die Wohnungstür zugeschlagen. Unmittelbar danach holte mich meine Mutter aus dem Schrank.

    Nach Mister Pigs Fortgang war sie wie verstört. Sie hielt sich lange im Bad auf.

    Die Dusche und die Toilettenspülung rauschten ununterbrochen. Irgendwann kam sie heraus, klagte über Kopfschmerzen und trank aus einer Flasche eine Unmenge ihrer Medizin und erklärte mir: »Das ist Medizin gegen Kopfweh, meine Kleine. Du darfst niemals davon trinken, ansonsten stirbst du. Und anfassen darfst du die Flaschen überhaupt nicht!«

    Ich ging davon aus, dass der Inhalt der zahllosen, in der Wohnung verstreuten Flaschen ein wichtiges Medikament sei. Also machte ich einen riesigen Bogen um sie.

    Häufiger geschah es, dass sie den ganzen Tag ihre Medizin trank. Ich stellte fest, dass dieses Medikament nicht half, sie gesund werden zu lassen. Sie benahm sich eher seltsam, brachte undeutliche Worte hervor, kochte nichts zum Essen, schlief pausenlos ein, ließ tagsüber unentwegt das Fernsehgerät laufen und registrierte mich während dieser Zeit kaum. Folglich musste ich mich selbst versorgen, so gut ich konnte. War ich hungrig, aß ich in der Küche, was vorrätig war. War ich durstig, stieg ich auf einen Hocker, um an den Wasserhahn zu gelangen. Musste ich aufs Klo, verrichtete ich meine Notdurft unter Schwierigkeiten allein. Ansonsten bemühte ich mich, so leise wie möglich zu sein, um meine Mama nicht zu belästigen.

    Manchmal dauerte es drei Tage, bis sie zur Normalität zurückfand. Hinterher befasste sie sich wieder mit mir. Sie wusch mich, zog mir frische Sachen an, kochte, putzte die Wohnung, war liebevoll zu mir. Mit Erleichterung stellte ich daraufhin fest, dass die Medizin letzten Endes gewirkt hatte.

    ***

    Mariam seufzte, Tränen kullerten über ihre Wangen.

    Tjo legte eine Hand auf ihren Arm. »Meine Liebe, ich kann es verstehen. Deine Kindheit war nicht einfach. Darf ich dich überhaupt mit ʺDuʺ anreden, oder ist es ungehörig von mir?«

    »Ja, Tjo, Sie können Du sagen. Ich entblöße meine Seele vor Ihnen, dieser Umstand erlaubt sicherlich ein Du.«

    »Danke Mariam. Der Einfachheit halber solltest du mich ebenso duzen. Apropos, hattest du Umgang mit irgendwelchen Nachbarn? Gab es keine Kinder im gesamten Haus, mit denen du spielen konntest?«

    Mariam verneinte mit einer Kopfbewegung und schniefte. »Nein. Später erfuhr ich, dass das Haus ein Bordell war. Manche Wohnungen wurden ständig von weiblichen oder männlichen Prostituierten bewohnt und andere nur als Arbeitsstätte genutzt. Meine Mutter pflegte keinerlei Umgang mit anderen Menschen. Wir lebten wie Einsiedler in unserer kleinen Welt.«

    Tjo holte sein kariertes Taschentuch und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Habt ihr nicht Geburtstag, Weihnachten, Ostern oder dergleichen gefeiert?«

    »Nein, die Tage waren für uns einerlei und von Monotonie geprägt. Du wirst es nicht glauben, ich weiß bis heute nicht, wann genau ich geboren wurde. Meine Mutter hat meine Geburt nie angezeigt. Mein Geburtstag wurde irgendwann seitens der Behörden geschätzt. Demnach erblickte ich am 1. August 1989 in Frankfurt am Main das Licht der Welt.«

    Tjo machte ein entsetztes Gesicht. »Das ist nicht zu fassen! Es ist mir schleierhaft, wie deine Mutter die Geburt verheimlichen konnte. Als du größer wurdest, musstest du jedenfalls zur Schule, spätestens dann wäre sie gescheitert, sie hätte dich nicht geheim halten können!«

    »Ich glaube es auch, Tjo. Allerdings sind wir nie so weit gekommen, denn es ist ganz anders verlaufen, als du für möglich hältst.«

    ***

    Der letzte Besuch von Mister Pig erfolgte in der Weihnachtszeit und veränderte grundlegend unser Leben.

    Es klingelte. Meine Mutter schaute durch den Türspion und zuckte. Sie rief mir leise zu: »Engelchen, versteck dich im Kleiderschrank und halte still.« Ich starrte sie angsterfüllt an, wollte etwas sagen, aber sie führte ihren Zeigefinger an die Lippen und mit einem »schhh, schhh, geh, geh«, hinderte sie mich daran weiterzusprechen.

    Unverzüglich rannte ich ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank, ließ mich auf das für mich vorgesehene Kissen fallen und drückte meine zwei Puppen fest an meine Brust. Mit einer Hand zog ich die Schranktür zu. Ein Spalt blieb offen, um einen Luftaustausch zu ermöglichen. Ich hatte eine schwere Erkältung, ein schlimmer Husten quälte mich. Krampfhaft unterdrückte ich den Hustenreiz, und hoffte, dass das Geschäft, wie meine Mutter es bezeichnete, zwischen ihr und Mister Pig nicht lange dauern würde.

    Ich hörte, wie Mister Pig in die Wohnung eintrat und meine Mutter ihn ins Wohnzimmer lotsen wollte.

    »Nein, diesmal gehen wir ins Schlafzimmer auf das Bett, ich erkläre dir, wie ich mir das vorstelle«, sagte er bestimmt.

    Meine Mutter versuchte ihn zu überreden, auf der Couch Platz zu nehmen. Er wurde wütend und schrie sie an. »Du tust, was ich bestimme, du Nutte, wir vergnügen uns im Schlafzimmer, basta.«

    Die Schlafzimmertür ging auf, meine Mutter weinte, Mister Pig schubste sie aufs Bett. »Zieh dich aus, ich will dich nackt.«

    Durch den Spalt sah ich, dass meine Mutter sich auszog und Mister Pig es genauso tat.

    Ein erneuter Hustenanfall ließ meine Brust beben, ich konnte es nicht vermeiden, ich hustete los.

    Die Schranktür wurde mit Wucht aufgerissen. Vor mir stand ein dicker nackter Körper. Zwei kalte Augen fixierten mich von oben herab. Panisch umklammerte ich meine Puppen, richtete meine Augen nach unten und machte mich so klein wie ich konnte.

    »Wen haben wir denn da? Das ist ja eine nette Überraschung. Ein kleines Mädchen, wie süß. Du wolltest mir dieses Zuckerpüppchen vorenthalten, na komm, komm zu Onkel Anton.«

    Meine Mutter kreischte los. »Lass meine Tochter in Ruhe, du Schwein.« Daraufhin sagte sie zu mir: »Engelchen bleib, wo du bist, bewege dich nicht, das ist kein guter Onkel, er will dir nur wehtun.«

    Mister Pig wandte sich von mir ab. Mit einer Hand holte er aus und schlug meiner Mutter mit Wucht ins Gesicht. Sie taumelte und fiel zu Boden. Ich hustete mir die Seele aus dem Leib und wurde von Weinkrämpfen gequält.

    »Weine nicht mein Püppchen, du brauchst keine Angst vor mir zu haben.« Mister Pig strich über mein Haar, hob mich hoch und legte mich aufs Bett. Ich hustete, weinte, schlug um mich, versuchte aufzustehen. Mister Pig hielt mich mit einer Hand fest und schaute zu meiner Mutter. »So du blöde Nutte, jetzt amüsieren wir uns zu dritt. Wenn ihr nicht tut, was ich verlange, könnt ihr ab morgen Abend unter einer Brücke schlafen.«

    Von ihrer Seite kam keine Reaktion. »Schluss mit dem Theater, steh auf, zieh das Kind aus und leg es neben mich. Und während du mir einen bläst, werde ich die junge Muschi anfassen.«

    Inzwischen hatte ich es geschafft, mich so zu drehen, dass ich meine Mutter sehen konnte. Sie lag immer noch da, Blut floss ihr aus der Nase. Hysterisch schrie ich sie an: »Mami, Mami, komm zu mir.«

    Mister Pig ließ mich los und versetzte ihr einen Fußtritt. »Steh auf, du blöde Kuh. Steh auf und gehorche, ansonsten schlag ich dich tot.«

    Sie wimmerte, rührte sich aber nicht. Mister Pig bekam einen knallroten Kopf, Speichel rann ihm aus dem Mund. Er glich einem widerlichen, hässlichen Ungeheuer, plärrte Unverständliches, schlug meine Mutter wieder und ohrfeigte mich ebenfalls. Sein Ziel erreichte er allerdings nicht.

    Unverhofft brach Mister Pig seine Toberei ab und zog sich an. »Wie du willst. Morgen packst du deine Siebensachen, nimmst das Balg und verschwindest aus meiner Wohnung. Bleib wo der Pfeffer wächst, du Schlampe.«

    Nachdem er diese Worte ausgespuckt hatte, lief er hinaus, die Eingangstür wurde zugeschlagen.

    Ich schluchzte noch ein paar Mal, entspannte mich und horchte, ob er wirklich weg war. Es schien so.

    Vorsichtig näherte ich mich meiner Mutter, die seitlich gekrümmt auf dem Boden lag. Ihr Gesicht war blutverschmiert, die Augen geschlossen. Vorsichtig tippte ich ihre Schulter an: »Mami, wach auf, Mister Pig ist weg.« Keine Reaktion. Immer lauter wiederholte ich, dass Mister Pig weg sei. Sie regte sich trotzdem nicht.

    In meiner Hilflosigkeit setzte ich mich neben sie, weinte und wartete, dass sie ein Lebenszeichen von sich gab. Ich streichelte sie und redete vergeblich auf sie ein: »Mami, Mami wach auf.« Langsam wurde es dunkel im Zimmer. Müdigkeit und Erschöpfung übermannten mich. Mit letzter Kraft kletterte ich auf das Bett und schlief ein.

    Als ich wach wurde, war es hell. Meine Mutter lag nicht mehr auf dem Boden und war auch nicht im Zimmer. Verängstigt rief ich nach ihr. Es kam keine Antwort. Als ich Wasserrauschen aus dem Bad hörte, beruhigte ich

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