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Der letzte Sommerabend
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eBook365 Seiten4 Stunden

Der letzte Sommerabend

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Über dieses E-Book

Die 60er Jahre: eine Zeit des Umbruchs und der Rebellion. Zehn Jahre vor Edas erster Begegnung mit Jamie erlebt sie ihre turbulenten Jugendjahre inmitten von Rock 'n' Roll und Flower-Power auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Als ihr Vater schon früh von ihr geht, muss Eda lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist konfliktreich und auch ihre Schwester Ortrud versucht, sich ihr immer wieder in den Weg zu stellen.
Ein Glück, dass sie Freunde an ihrer Seite hat. Doch werden ihre Mühen reichen, ihren verschollenen Vater wiederzufinden?
Eine Geschichte über das Lernen und Leiden in der Jugend, von den ersten Erfüllungen und Enttäuschungen, über Trennung und Wiedersehen, Freundschaft und Liebe.

Es war einmal im Herbst - Band III
Die beiden finalen Akte
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Jan. 2018
ISBN9783746023403
Der letzte Sommerabend
Autor

Richard Isenheim

Richard Isenheim wurde 1997 in Bietigheim-Bissingen geboren, dessen historische Altstadt maßgeblichen Einfluss auf den Schreibprozess nahm. Im Großraum Stuttgart verbrachte er die ersten vierzehn Jahre seines Lebens, bis er mit seiner Familie in den Landkreis Sigmaringen zog. Dort beendete er die Realschule, um anschließend ein technisches Gymnasium zu besuchen. Schon im Alter von dreizehn Jahren begann Isenheim mit der Schreiberei. In seinen Geschichten stehen tiefe Charakterwandlungen, wahre Freundschaften und die Höhen und Tiefen des Lebens im Vordergrund.

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    Buchvorschau

    Der letzte Sommerabend - Richard Isenheim

    Epilog

    IV. AKT

    Mai 1979

    Frühling – das Ende allen Winterleides. Und doch ging der Harfenton unberührt an ihm vorüber.

    Jamie stand vor Edas Grab. Seit ihrem Tod im Herbst waren inzwischen ein und ein halbes Jahr vergangen. Bisher hatte er es nicht verkraftet, sie zu besuchen; geschweige denn das Grab zu pflegen. Trotzdem zierten Efeu und blaue Blumen die dunkle Erde. Eine kleine Laterne brannte in der Mitte. Jemand musste hier gewesen sein, um an seiner Statt das Unkraut zu jäten, neue Blumen zu setzen und alte auszuwurzeln.

    Er war ein schlechter Mensch! Einer dieser Witwer, denen nachgesagt wurde, zu schnell über den Tod eines geliebten Menschen hinweggekommen zu sein. Doch solche, die derart sprachen, lagen im Unrecht. Ihr Tod fühlte sich am heutigen Tag noch genau so an als wäre es erst gestern gewesen. Noch immer verfolgte ihn die Frage nach dem Warum. Warum hatte sie es getan? Warum auf diese Art?—

    Obgleich er sie verstehen konnte, wollte er die Wahrheit nicht anerkennen. Seine Frau war krank geworden und das Wissen über ihren Tod seit Jahren bekannt. Was für ein Mensch wäre er, würde er sie dafür verfluchen, den Weg lediglich verkürzt zu haben? Aber warum Eda? Sie, gerade sie, die stets die Stärkere von beiden war; selbst in der Stunde ihrer größten Not.

    Eda war kein Feigling, sondern eine Kämpferin gewesen; obgleich von Feigheit nicht die Rede sein konnte.

    Da spürte er die Gegenwart einer Frau, die einige Meter hinter ihm zum Stehen kam.

    »Das ist ein schönes Grab«, sagte sie und kam einen Schritt näher. Jamie sah über die Schulter, doch er erkannte im Augenwinkel nur Umrisse. Die Frau kam langsam heran. Sie trug langes, helles Haar.

    »Danke…«

    Er hatte die Hände in den Hosentaschen, sein Haupt war weiter gen Boden geneigt.

    »Hier liegt meine Ehefrau«, ergänzte er schließlich.

    »Das tut mir leid.«

    Ein tiefes Seufzen kam über seine Lippen. »Sie hat den Tod einfach nicht verdient…«

    Die Frau schluckte, ehe sie antwortete: »Wer hat das schon…«

    »Es heißt«, fuhr er danach fort, »nur die Guten sterben jung. Doch sie war mehr als das! Ich habe sie verehrt wie keinen anderen! Sie war eine starke Frau – die stärkste, die ich kannte!«

    Die Frau neigte sich ein Stück nach vorn, um die Inschrift auf der Kupfertafel zu lesen: »Der Tod scheidet; der Tod vereint.«

    »Darf ich fragen: Wie ist sie gestorben?«

    Jamie seufzte. Noch immer schenkte er ihr keinen Blick.

    »Sie hat sich mit dem Auto das Leben genommen.«

    »Was?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht!«

    Wie bitte? Er war neugierig geworden und wandte sich um.

    »Die Eda, die ich kannte«, fuhr sie fort, »würde sich nie das Leben nehmen.«

    »Wer sind Sie?«

    Die blonde Frau lächelte. »Mein Name ist Johanna Neumann. Eda war meine beste Freundin. Wir kannten uns aus der Schule.«

    Mit diesen Worten reichte sie ihm die Hand und er sah ihr in die Augen. Ihr Blick war liebenswürdig und gütig; genau wie der von Eda immer war.—

    Eine Freundin? Eda hatte ihm nie irgendwelche Freundinnen vorgestellt.

    »Johanna, aha.« Er erwiderte den Händedruck. »Jamie Winter. Schön Sie kennenzulernen.«

    »Die Freude ist ganz meinerseits!«

    Die Frau, die sich Johanna nannte, blickte für einen Moment in den Himmel. Die Sonne war hinter einigen Wolken hervorgekommen und ließ ihre Strahlen wärmend auf ihre Gesichter fallen. Heute war ein schöner Tag.—

    »Eda«, begann sie schließlich, »hat sich nicht das Leben genommen. Wenn ich eines über sie weiß, dann ist es das.«

    Darauf seufzte er. »Das hatte ich auch geglaubt.« Und er senkte das Haupt. »Ich hatte gedacht, ich kenne sie und weiß, was in ihr vorgeht, doch ich habe mich geirrt…«

    »Jamie, du hast dich nicht geirrt!« Johanna schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was genau passiert ist –und ich muss es auch nicht– aber ich kannte Eda und ich weiß, dass sie sich nicht das Leben genommen hat!«

    Er schnaubte. »Was wissen Sie über meine Frau, das ich nicht weiß?«

    Doch sie trotzte dem Spott und lächelte. »Ich schätze, ich weiß eine ganze Menge. Schließlich habe ich mit Eda meine Jugend erlebt. Ich habe sie lachen, weinen und toben gesehen. Und ich weiß auch, dass sie über so vieles nicht sprechen wollte. Ich weiß, was Eda für ein Mensch war.«

    Es war als wollte er etwas sagen, doch Jamie blieb stumm.

    »Haben Sie sich nie gefragt, warum Eda nichts über ihre Jugend erzählt hat; warum sie bei bestimmten Dingen immer ausgewichen ist?«

    Jamie schluckte, sein Blick war auf den Boden gerichtet, als er die Verse eines Gedichtes hörte wie die Noten einer vergessenen Melodie. Die Worte stiegen über Johannas Lippen, langsam und bedacht.

    »Schon ins Land der Pyramiden flohn die Störche übers Meer;

    Schwalbenflug ist längst geschieden—«

    »—auch die Lerche… singt nicht mehr.«

    Sein Blick funkelte, dann trat er einen Schritt nach vorn. »Bitte erzählen Sie mir mehr!«

    Eins

    Eda fuhr mit Fernlicht durch die Nacht. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad, während sie kerzensteif vor dem Steuer saß. Herannahende Lichter, wie grelle Augen, hinterließen blendende Fackeln auf ihren Brillengläsern. War die Straße ohne den Regen nicht schon unübersichtlich genug? Doch das Wasser prasselte wie aus Eimern auf die Scheibe.

    »Konzentrier dich, Eda, konzentrier dich!«, ermahnte sie sich selbst. »Schau auf den rechten Rand, lass dich nicht irritieren!« Sie wiederholte die Worte ihres Fahrlehrers, der ihr diesmal keinen Beistand leisten konnte. In dieser Nacht fuhr sie allein in ihrem silbernen VW Käfer.

    Von hinten nahte sich ein grelles Licht, das immer heller und größer wurde, bis der Mercedes auf einen halben Meter hinten auffuhr. Der Fahrer scherte zum Überholen aus.

    »Konzentrier dich auf den rechten Rand! Nicht in die Scheinwerfer sehen… Verdammt, Fernlicht aus!«

    Doch innerhalb von wenigen Sekunden war der Mercedes zu zwei kleinen roten Punkten zusammengeschrumpft, die im Nebel schließlich ganz verschwanden.

    Bald war ein Ortsschild zu sehen. Eda bremste und bog ab. Nun wurden die Straßen kleiner und der Asphalt allmählich durch Kies ersetzt. Die vereinzelten Autos, die am Straßenrand parkten, verengten den Weg umso mehr. Sie musste sich mühen, nicht vom Weg abzukommen, der es in seiner Breite bald un-möglich machte, dass sich zwei Fahrräder gefahrlos entgegenkommen konnten.

    Dann eine enge Linkskurve, die auf eine steile Straße führte. Der Motor begann an Kraft zu verlieren, war kurz davor abzuschalten, als sie in den ersten Gang zurückschaltete. »Ja ja, ich schalt ja schon…«

    Eda verließ wieder die Ortschaft, fuhr in Richtung Waldrand. Schließlich hielt sie an, doch blieb einen Moment sitzen. Ein tiefer Atemzug und sie nahm sich die Brille ab, legte sie ins Handschuhfach und verließ das Auto. Als sie unter freiem Himmel stand, fühlte sie, wie ihr ganzer Körper einen dünnen Schweißfilm trug. Die Luft war noch immer warm und schwül.

    Ein kurzer Moment, in dem sie ihre Hände in die Hüfte stemmte und einen scheinbar bedeutungslosen Blick in Richtung der Häuser warf. Dann, als wäre sie aus einem tiefen Gedanken gerissen, schüttelte sie ihren Kopf, verschloss das Auto und ging die Straße hinunter. Ein erfrischender Windstoß kam ihr entgegen, worauf sie genüsslich die Augen schloss. Sie hatte schon den ganzen Tag auf eine kühle Nacht gewartet, wo es doch schon seit der frühen Mittagszeit derart warm und gewittrig war.

    Da erreichte sie die Türschwelle. Das Licht ging an und sie sah sich selbst im Glas der Haustür. Es lag eine gewisse Ausdruckslosigkeit in ihrem Gesicht. Ihr Mund war leicht geöffnet; und doch schien eine Deutungshoheit in ihren ebenmäßigen Zügen zu liegen. Es war mehr als der schlichte Wunsch eines jungen Mädchens anderen gefallen zu wollen. Die saphirblauen Augen blickten sie müde und doch tiefgründig im Spiegelbild an. Ein buntes Haarband schmückte ihren Kopf, während ihr der Pony bis über die Augen-brauen reichte. Eda hatte Schlaghosen an und trug eine groovy Flower-Power-Tunika mit Clox-Schuhen.

    Es dauerte einen Moment, bis sie die Tür öffnete und hineinging; und es war, als wäre sie dabei bemüht so unauffällig wie möglich zu sein. Eda machte kein Licht, als sie durch den Hausgang schlich und langsam und bedacht hinter sich die Wohnungstür schloss. Ihr Blick folgte dem unbeleuchteten Flur. Von der Stube aus fiel Licht ins Esszimmer. Auf dem Tisch stand noch irgendwelches Geschirr vom Mittag. Das Geräusch eines laufenden Fernsehers war zu hören. Ihre Mutter war also noch wach. Anders im Zimmer ihrer Schwester, wo durch die angelehnte Tür nur Dunkelheit zu sehen war.

    Eda ging in ihr Zimmer, wo sie hinter sich die Tür zuzog. Der Raum war nicht besonders groß und geräumig, aber dennoch wohnlich eingerichtet. Die Glühbirne an der Decke war von einem bunten Lampenschirm umgeben. Ebenso farbenfroh waren die Vorhänge mit ihren Retro-Mustern sowie die Tapete und der Bettüberzug. Auf einem kleinen Schrank stand eine Vase mit einer Grünlilie, darüber ein Setzkasten mit verschiedenen Porzellanfiguren, Stickereien und bunten Knöpfen. Ein alter Sessel stand in einer letzten freien Nische zwischen Kommode und Schreibtisch, dessen Oberfläche zur Hälfte von einem Plattenspieler eingenommen wurde.

    Kaum war Eda in ihrem Zimmer, ließ sie sich in die weiche Bettwäsche fallen. Ein Lächeln der Erleichterung lag auf ihren Lippen und sie schloss langsam die Augen.

    Plötzlich ein lauter Stoß. Die Tür öffnete sich. Der laute Ton ließ sie hochfahren.

    »Wo bist du gewesen und was schleichst du einfach in dein Zimmer?«

    »Ich war bei Freunden…«, raunte sie mit dünner Stimme.

    »Das seh ich!«

    Eda schwieg. Stattdessen ließ sie sich wieder zurück in ihre Bettwäsche fallen. Ihre Mutter kam herein.

    »Das muss aufhören mit diesem Ausgehen bis in die Puppen! Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

    »Ja ja, noch früh genug, Maria.«

    Da türmte sich ihre Mutter bedrohlich vor ihr auf.

    »Nein, Eda, das hört jetzt auf! Du bist von nun an spätestens um dreiundzwanzig Uhr zu Hause!«

    Wie spät war es überhaupt? Ein Uhr? Zwei Uhr? Eda warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war zehn Minuten nach eins. In weniger als fünf Stunden würde der Wecker klingeln. Oh ja, sie würde es bereuen.–

    »Und nenn mich nicht Maria, ich bin schließlich deine Mutter!«

    »Ja, Maria!«

    »Nein, ich mein es ernst!«, erwiderte sie. »Ich werd dich noch über‘s Knie legen müssen, egal wie alt du jetzt bist.«

    »Ich bin achtzehn, Mutter!… Außerdem arbeite ich.–«

    »Aber du lebst in meinem Haus und hast deine Füße unter meinem Tisch!«

    »Dein Haus?«, raunte sie. »Das hat Vater mit Opa zusammen aufgebaut.«

    »Junges Fräulein, ich sag dir jetzt eins!«

    Sie nickte. »Aha?«

    »Wenn sich bis morgen dein Benehmen nicht bessert und du dich nicht endlich disziplinierter gibst, war es das mit der Verköstigung.«

    »Du wolltest mich sowieso schon lange los haben, ist es nicht so?«

    Ein kurzer Moment der Stille.

    »Eda?«

    »Das ist nicht erst seit gestern so.« Dabei setzte sie sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Seit wann eigentlich?« Ihr Blick schweifte nachdenklich durch den Raum. Eda konnte kaum noch einen rechten Gedanken fassen, ihre Augen brannten, der Kopf schmerzte, die Müdigkeit war kurz davor sie zu überrennen.

    »Eigentlich seitdem Vater weg ist… Nein, länger schon.–«

    »In Ordnung!« Ihre Mutter hob mahnend den Zeigefinger. »Heute noch! Heute Nacht lass ich mir das noch gefallen, aber morgen! Morgen…« Ihre Mutter wandte sich von ihr ab, dann hielt sie nochmals inne. »Warum riecht es hier drin eigentlich so beißend? So nach fauligem Gras… Lüftest du nicht?«

    Sie schluckte. »Wer lässt denn das Geschirr seit vorgestern auf dem Tisch stehen?«, fragte Eda. »Ich bin euch zwei ja nur noch am Hinterherräumen! Wann macht Ortrud mal einen Finger für uns krumm?«

    Marias Lippen bebten. Sie rang sichtlich nach Worten. »Weißt du, was dir fehlt?«

    »Was?«

    »Ein strenger Vater, der dir zeigt, wo‘s langgeht.«

    »Ein Vater…«, schnaubte Eda, nicht sicher, ob sie lachen oder weinen sollte. »Du suchst doch nur einen, der mir den Hintern versohlt, wenn ich nicht nach deiner Pfeife tanze! Du bist nur zu feige, es selbst zu tun!«

    »Willst du es drauf anlegen?«

    Eda zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Versuch‘s doch!«

    Wieder der mahnende Zeigefinger, wieder die Drohung, die keine Wirkung mehr zeigte. »Du wirst schon noch sehen!«

    Die Tür ging zu, so laut, wie sie geöffnet worden war.

    Erleichterung ging durch ihre Brust, als sie tief durchatmete und die Augen schloss. Am liebsten wäre sie noch bei ihren Freunden, würde ihre Sommerferien genießen und sich keine Sorgen um das Später machen; noch über das Wie und Was und Überhaupt. Die Wahrheit sah anders aus. Morgen früh war Montag und sie musste um sieben bei der Arbeit sein. Eda musste einen beruhigenden Gedanken fassen, um einschlafen zu können. Doch auch wenn ihr die Bilder vom Abend noch immer im Kopf herumschwirrten, konnten sie nicht das Unbehagen über eine weitere sinnlose Arbeitswoche übertönen. Vor einer Stunde noch lag sie in einem bequemen Sitzkissen bei entspannender Beat-Musik. Sie saß in einer Garage, rings um sie waren weitere Leute.

    René, ein schmaler Junge mit Schlaghosen, Schnürhemd und Jackett lag auf einem alten Sofa; seine Linke stützte den Kopf, die andere hing leger zu Boden.

    Auf einem ebenso abgenutzten Sessel saß ihre beste Freundin Johanna.

    Jemand spielte auf der Gitarre. Es war Jörg, der als Einziger auf einem nicht gepolsterten Stuhl saß und ein paar Rhythmen ausprobierte. Eine Zigarette steckte in seinem Mundwinkel und blonde Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht.

    Eine bemerkenswert tiefe Stimme durchkreuzte das Gitarrenspiel. »Joe! Mach mal das Radio an!«, sagte René.

    »Warum ich?«, konterte das blonde Mädchen.

    »Warum ich?«, fragte er stattdessen und ging auf Blickkontakt.

    »Du bist näher.«

    »Aber mir gehört die Garage.«

    Johanna gab sich geschlagen. Lustlos trottete sie zum anderen Ende des Raums an Renés Sofa vorbei zum Radio.

    »Dufte!« René erhob sich. Die beiden standen sich gegenüber. Der schmächtige Junge war kaum größer als das Mädchen. Trotz des markanten Kehlkopfs fiel es schwer, anzunehmen, dass dem jugendlichen Gesicht mit dem braunen Pilzkopf eine solch tiefe Stimme zugeordnet war. Und doch ging etwas Rhetorisches von ihm aus, etwas Überzeugendes, das ihn trotz seiner energielosen Schulterhaltung zum Rädelsführer seiner Sippe machte. Er nickte grüßend, als Johanna vor ihm stehen blieb. Schließlich ging sie an ihm vorbei.

    »Oh Mann, ich krieg Hunger«, sagte er und ging zum Tisch hinüber, auf dem das Radio stand, öffnete eine der Schubladen und zog eine versteckte Büchse heraus. Eda öffnete ein Auge und spähte zu ihm hinüber. Obwohl sie nichts sah, wusste sie, was er tat. Nach einer Weile stellte er das Etui zurück und verschloss die Schublade mit einem Schlüssel. Als er sich umdrehte, steckte ihm eine Zigarette im Mund. Renè tastete sich nach einem Feuerzeug ab. Er hob die Augenbrauen, als er Edas Blick bemerkte. Als er dann fündig wurde und die Tüte anzündete, ließ er sich überirdisch entspannt auf seinem Sofa nieder, den Stängel zwischen Daumen und Zeigefinger haltend.

    »Dufte…«, wiederholte er. »Ich bin bedient, astrein!«

    Johanna stand wieder vor ihm. »Hey!«

    »Hi!«, nickte er und sah sie voller Seelenruhe von oben bis unten an. Schließlich nahm er einen weiteren Zug und reichte ihr dann die Zigarette. Auch sie nahm einen kräftigen Zug, legte den Kopf in den Nacken und schaukelte mit den Schultern.

    »Eda?«

    Sie schaute auf. Johanna kam ihr entgegen und reichte ihr den Joint. Wortlos führte sie ihn zwischen ihre Lippen und schloss dabei die Lider, zog ihre Augenbrauen zusammen, bis sich ihre Gesichtsmuskeln wieder entspannten. Danach öffnete sie ihre Augen und tat für einen Moment nichts außer zu atmen. Im Anschluss reichte sie den Joint weiter nach links, wo ihn Jörg durch seine Zigarette ersetzte, die er unbekümmert auf den Boden warf und mit der Schuhspitze ausdrückte.

    René schrie auf. »Spinnst du, Mann? Das is‘ mein Boden…« Doch sogleich beruhigte er sich wieder. »Egal, entspannen wir uns einfach!«

    »Eda sieht entspannt aus.«

    Als sie ihren Namen hörte, öffnete sie wieder ihre Augen. Johanna sah sie neugierig an.

    »Hm?«

    Sie schniefte irritiert und blinzelte einige Male, was Johanna zum Lachen brachte.

    »Hartes Zeug, was?«

    »Ist das neu?«

    René nickte.

    »Ja, neuer Stoff. Erst gestern gekauft.«

    Sodann meldete sich Jörg zu Wort. »Jetzt hab ich‘s!«

    »Du hast was?«

    »Ich hab den Beat raus!«, und er spielte Twist & Shout auf der Gitarre. Ab der Mitte des Songs setzte René mit dem Gesang ein:

    »Well, shake it up, baby, now!«

    Seine rauchige Stimme imitierte heute Abend hervorragend die von John Lennon.

    »Bombastisch!«

    Sie lachten allesamt.

    »Wir werden vielleicht doch noch eine Band!«, meinte René tollkühn.

    Jörg schüttelte den Kopf. »Ne, ne, lass ma‘!«

    »Komm schon, Junge! Wo is‘ der Rocker in dir?«

    »Wie wird das eigentlich«, fragte Johanna nachdenklich, »wenn wir bald studieren?«

    Ein entsetzter Blick auf das Mädchen.

    »Was soll‘n dann sein?«

    »Na ja, wir haben das Abitur hinter uns, René. Jetzt geht‘s weiter!«

    »Abitur?«, frage Jörg. »Lang ist‘s her. War das überhaupt noch in diesem Leben?«

    Sie lachten.

    »Wenn ich noch mal was davon brauch‘«, fuhr er fort, »dann gebt mir bitte Bescheid! Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Aber ich übernehm‘ ja eh den Laden von meinem Vater. Was ist eigentlich mit euch?«

    René kratzte sich am Hinterkopf. Um nichts sagen zu müssen, nickte er schließlich Johanna zu.

    »Na ja«, meinte sie. »Ich hab mich für Mathe beworben…«

    Ein kurzer Moment absoluter Stille, bis ein Aufschrei des Entsetzens durch den Raum ging. René schrie am lautesten.

    »Also, dass du bekifft bist, das wussten wir ja, aber…«

    Eda grinste.

    Johanna begann zu lachen. »Du hättest gerade dein Gesicht sehen müssen, René. Du bist voll drauf reingefallen.«

    Wieder kratzte er sich nichtssagend am Hinterkopf. Allein Edas Gesichtsausdruck verriet, dass sie den Scherz durchschaut hatte.

    »Eda versteht mich«, und sie neigte sich ihr zu, so als wollte sie sie umarmen. Die beiden Mädchen lächelten einander an. »Ach Eda, mein Schwesterherz.–«

    René nickte ihr zu. »Was ist eigentlich mit dir, Eda?«

    Die Blicke waren nun auf sie gerichtet.

    »Hm«, machte sie. »Ich weiß nich‘ so recht.«

    »Jaaa! Das ist der richtige Hippie!«

    »Nein, nein, René«, wehrte sie ab. »Es is‘ nicht so, dass ich mich ‘n Scheiß drum scheren würde; ich weiß bloß nich‘, ob ich zum Studieren genug Geld zusammenkrieg.«

    »Du arbeitest doch im Moment in dieser Reifenfirma, nö?«

    »Ja, aber«, unterbrach ihn Johanna, »die paar Kröten reichen sicher nicht für vier Jahre Uni.«

    »Hm, ich müsste dann halt an den Wochenenden arbeiten.«

    »Supa!«, machte er ironisch.

    Seufzend klopfte sie auf ihr Sitzkissen. »Ach Leute, ich bin doch selber hin- und hergerissen.«

    »Verunsicher sie doch nicht, René!«

    »Tu ich nich‘, Jörg.«

    »Ne, ihr verunsichert mich nicht, ihr erinnert mich bloß dran, dass ich es bin.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich würd‘ ja am liebsten Literatur oder so was studieren oder Germanistik; meinetwegen auch Romanistik.«

    »Natürlich, war klar«, nickte er einsichtig.

    Jörg beugte sich nach vorn. »Hattest du denn wirklich ‘ne eins Komma null in Deutsch?«

    Sie nickte kleinlaut.

    »Dufte!«

    »Toff!«

    »Leute, Leute!«, zog Johanna die Aufmerksamkeit auf sich. »Ich hab die Note gesehen, schwarz auf weiß! Ich kann‘s bezeugen!«

    »Bombastisch!«

    »Na ja«, beschwichtigte sie. »Dafür war Mathe nur ‘ne Zwei komme acht und von Geschichte will ich gar nicht erst anfangen…«

    »‘Ne Zwei Komma acht in Mathe…« René lachte ungläubig. »Ich hatte ‘ne Drei Komma sechs!«

    »Warum machst‘n du dich eigentlich immer so schlecht, Eda?«

    Darauf sah sie Jörg an. »Ach, ich weiß ja nich‘. Es gibt immer irgendwen, der besser is‘ als ich.«

    »Ja klar, aber…«

    René reichte ihr einen noch gänzlich neuen Stängel. »Nimm! Den hast du dir verdient!«

    »Besser nicht«, wehrte sie erschreckt ab. »Wenn meine Mutter das mitkriegt…«

    »Macht sie dir immer noch Schwierigkeiten?«

    Sie schaute ihrer Freundin in die Augen. »Jeden Tag. Deshalb bin ich doch hier.«

    Johanna seufzte.

    »Und wir sind für dich da!«, sagte Jörg. Johanna und René stimmten ihr bei.

    »Es ist eh schon viel zu spät«, meinte sie. »Ich muss morgen raus!«

    »Eh! Das kommt jetzt aber flott.«

    Eda war aufgestanden und hatte nach ihren Schlüsseln gegriffen, die auf einem Regal unter Renés Beatles-Poster im XXL-Format lagen.

    »Warte, ich komm noch mit zur Tür!«, sagte ihre Freundin.

    »Danke euch!«

    »Kein Thema!«

    Alsbald standen die beiden vor der Garage. Der silberne Käfer parkte vor der Einfahrt.

    »Du rufst an, wenn was is‘ ?!« In der Dunkelheit konnte sie nur unklar die Züge ihrer Freundin erkennen. Doch sie nickte und sah ihr dabei in die Augen.

    Johannas Hand strich ihr sanft über den Rücken mit dem Blick in Richtung des Wagens.

    Zuneigung… Eda verspürte eine Erleichterung in ihrer Brust.

    »Und Jakob hat dir den wirklich den ganzen Sommer ausgeliehen?«

    Der Blick war auf den Käfer gerichtet. Sie nickte stolz. »Ja, den ganzen August.« Ein zufriedenes Lächeln lag auf ihren Zügen.

    »Puh, das ist echt…«

    »…dufte, ja.«

    Einen Moment lang blieben die beiden Mädchen wortlos vor dem Käfer stehen.

    »Was sagt deine Mutter eigentlich dazu?«

    »Sie weiß nichts davon«, schüttelte sie unmittelbar den Kopf. »Ich park weiter draußen, kurz vor‘m Wald.«

    »Und wie machst du ihr das klar? Ich mein, du arbeitest ja. Wie lautet die offizielle Ausrede, wie du da hinkommst?«

    »Na, mit dem Fahrrad!« Sie grinste. »So wie ich auch zur Schule kam.«

    »Das glaubt sie dir? Das ist schon ein Stück zum Fahren, nö?«

    Eda zuckte mit den Schultern. »Ja, am andern Ende der Stadt. Zur Schule waren‘s drei, vielleicht vier Kilometer. So sind‘s gleich mal sieben oder acht, jap.«

    Johanna nickte.

    »Auf der anderen Seite… ich hätt‘ schon einiges mehr auf ‘er Hand am Ende vom Monat, wenn ich doch lieber ohne–«

    »Eda!«, unterbrach sie sie. »Du hast verzichtet, seitdem ich dich kenn‘! Den kleinen Komfort wirst du dir doch noch gönnen dürfen. Wie lang arbeitest du noch? Vier Monate?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Bis Ende Februar, Anfang März, wenn das Sommersemester losgeht. Du weißt ja, da sind die NCs ‘n wenig tiefer gesetzt.«

    »Ja ja«, nickte sie, »schon klar… Aber dann arbeitest du ja den ganzen Winter über, oder? Da kannste unmöglich mit dem Fahrrad jeden Tag zur Arbeit fahren.«

    »Zur Schule ging‘s ja auch…«

    Johanna blickte sie ungläubig an, so als sähe sie eine religiöse Selbstgeißlerin vor sich.

    Eda fuhr leise fort: »Aber so ‘ne Karre bei Jakob zu leihen is‘ billiger als eine zu kaufen. Müsste ich ihn selber anmelden, auf meinen Namen versichern, dies und das und haste nich‘ gesehen …ich will‘s mir gar nicht ausmalen. –Heh! Was grinste denn jetzt so?«

    »Ich glaub, er mag dich.«

    Sie schaute zur Seite weg. Hoffentlich konnte man in der Dunkelheit ihre Wangen nicht sehen.–

    »Auf jeden Fall nicht auf die Art, wie du das jetzt meinst.«

    »Woher willst‘n du das wissen?«

    »Er hat ‘ne Freundin. Schon vergessen?«

    »Was hat das damit zu tun?«

    »Na, ‘ne ganze Menge! Nö?«

    »Ach Kleine!«, seufzte ihre Freundin und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich mag dich!«

    Ihre Stimme klang anschmiegsam. »Ich mag dich auch, Hanna!«

    Einen Moment lang schauten die beiden Mädchen in den Mond, der an diesem glasklaren Sternenhimmel diesmal so gut zu sehen war. Eda löste sich schließlich wieder. »Ich wünsch dir was, ja!«

    »Ja, Eda, ich dir auch!« Joe war wie aus einem Tagtraum wachgerüttelt. »Komm gut heim!«—

    Eda wachte auf. Das Licht brannte noch. Sie hatte sich noch nicht einmal umgezogen. Schlaftrunken taumelte sie zum Lichtschalter und schließlich zurück ins Bett, wo sie sich nur die Hosen auszog und sich in ihrer Flower-Tunika zur Seite drehte; ihre beiden Hände unter ihr Gesicht gelegt. Eda atmete ein paar Mal tief durch.

    »Keine Angst«, sagte sie sich. »Nächste Woche wird schon nich‘ so schlimm…«

    In Wahrheit war sie sich dessen nicht sicher und versuchte darum an einen schönen Moment zu denken. Zum Beispiel an die Tage, wenn sie nach Hause kam, ohne von ihrer Mutter oder Schwester beschimpft zu werden. Doch es gab in Wahrheit nur eine Art von Erinnerung, die ihre Brust aufatmen ließ: ihr Vater.

    »Vati, wo bist du bloß?« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Vati…«

    Seit fast vier Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Inzwischen war es August 1963.

    In

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