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Tödliche Dosis: Berliner Patientenmord in Serie
Tödliche Dosis: Berliner Patientenmord in Serie
Tödliche Dosis: Berliner Patientenmord in Serie
eBook423 Seiten5 Stunden

Tödliche Dosis: Berliner Patientenmord in Serie

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Über dieses E-Book

Der Patient eines Berliner Pflegedienstes stirbt an einer Überdosis Insulin. Wie konnte das passieren? Eine Verwechslung der Insuline? Oder war da Absicht im Spiel? Kurz darauf stirbt ein weiterer Patient. Und schon bald ist von serieller Patiententötung die Rede.
Kerstin Grusig arbeitet nach fast zwanzig Jahren Pause wieder als Krankenschwester. Von Selbstzweifeln geplagt schlittert sie durch ihren neuen Berufsalltag, verliert Morphiumtabletten, sucht nach sicheren Todeszeichen an leblosen Menschen und berät anarchistische Diabetiker. Da sie zwei der Toten als letzte versorgt hat, gerät sie ins Visier der Polizei.
Die Arbeit in der ambulanten Pflege in Kreuzberg und Neukölln eröffnet den Blick auf ein illustres Panoptikum. Dort, wo es gerade tausende Touristen hinzieht, leben nicht nur hippe Jungberliner, sondern auch die alten, pflegebedüftigen Migranten der ersten Stunde, an multibler Sklerose erkrankte Philosophen und halluzinierende Frauen, die Kätzchen und sonstige Tiere in ihrer Wohnung zu sehen glauben.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum17. Juli 2016
ISBN9783741832246
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    Buchvorschau

    Tödliche Dosis - Sabine Drangsal

    „Sie waren nicht verwöhnt, diese Polizisten. Weder was den Kaffee, noch was die Räume hier betraf.

    Armseliges Berlin.

    Kein Wunder, dass Berlins Beamte so schlechte Arbeit machten und mein Hintern schon seit geraumer Zeit auf einen Stuhl gezwungen wurde, auf dem zuvor schon viele verbrecherische Hintern gesessen hatten. Meiner jedoch war unschuldig, aber das wollten die beiden hier nicht verstehen. Anscheinend hatte Berlin gerade keine anständigen Verbrecher zu bieten, denn die Herren von der Kripo hatten sich in die Abrechnungen der letzten Monate reingekniet, als wären sie vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse."

    Sabine Drangsal, 1964 geboren, lebt seit dreißig Jahren in Berlin Kreuzberg, ist Krankenschwester und Germanistin. Sie arbeitete selbst mehrere Jahre in der ambulanten Pflege.

    Sabine Drangsal

    Tödliche Dosis

    Berliner Patientenmord in Serie

    Impressum

    Texte:   © Copyright by Sabine Drangsal

    Umschlag: © Copyright by Markus Drangsal, drangsal.de

    Verlag:  Sabine Drangsal

    Gneisenaustr. 65

    10961 Berlin

    sdrangsal@web.de

    Druck:  epubli ein Service der

    neopubli GmbH, Berlin

    Foto:  CanStockPhoto, Esbenklinker

    ISBN 978-3---

    Printed in Germany

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    „Herz, Du verlierst sehr viel, wenn Du nichts aushälst"

      Florence Nightingale

    Für meine tollen Kinder.

    Für alle Pflegerinnen und Pfleger, die täglich in der ambulanten Pflege, in Pflegeheimen und Krankenhäusern Großartiges leisten!

    Sie zog die Spritze auf. Kein Zittern der Hand. Nichts. Sie war die Ruhe selbst. Gelassen und konzentriert.

    Sie wechselte die Nadel, genauso wie sie es immer tat. Um eine Infektion zu vermeiden. Obgleich es ja keine Rolle mehr spielte, denn es würde seine letzte Spritze sein. Und wie schon hunderte Male zuvor in jahrelang eingespielter Routine inspizierte sie die Haut des enormen Bauches, stach zu und injizierte die gesamte Flüssigkeit. Langsam und geduldig. Dass die Dosis dieses Mal eine andere war, spielte keine Rolle. Ein Gefühl der Macht, der nie gekannten Stärke und Souveränität durchströmte sie. Es gab keinen Moment des Zweifels. Sie hatte genau nachgerechnet. Es war ganz sicher genug.

    Schade nur, dass sie nicht erleben durfte, wie er sein Leben aushauchte.

    Er saß da und schlief. Tief und fest. Irgendwie friedlich. Das war gut. Er sollte nicht leiden. Warum auch? Es gehörte schließlich zu ihren Aufgaben, Menschen zu helfen, ihr Leid zu lindern. Er würde einfach weiter schlafen und unbemerkt in den Tod gleiten.

    Dank ihrer Unterstützung.

    Ob er wohl irgendwie mitbekam, dass er starb?

    War das richtig? Ihn sterben zu lassen, ohne dass er die Möglichkeit hatte, wenigstens einen Moment lang innezuhalten und sich zu verabschieden? Viele wünschten sich, einfach im Schlaf zu sterben. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Weil sie Angst vor dem Tod, vor den Qualen, vor der Angst selbst hatten?

    Sie sah in sein Gesicht. Der Kopf war nach vorne gesunken. Nur seine dicken Wangen waren zu sehen und der Schorf auf seiner Kopfhaut. Sein Kinn ruhte auf der Fettfalte seines Halses. Das rote Licht auf der Anzeige seines E-Rollis leuchtete und sie drückte die Out-Taste. Er würde ihn nicht mehr brauchen.

    Danach drehte sie die Flamme des Gasofens aus, machte das Fernsehgerät aus, wischte den Küchentisch ab, lehrte die Urinflasche, ging nochmals durch die Wohnung, kontrollierte, ob alles auf seinem Platz lag und schloss dann sachte die Haustür hinter sich ab. Ruhe sanft, dachte sie.

    Mit diesen Worten war sie ganz zufrieden, trafen sie doch ihr freundliches und sorgendes Gefühl für ihn. Für alle ihre Patienten.

    Auf der Straße atmete sie mehrmals tief ein und aus.

    Gegenüber auf dem Parkplatz von Aldi hatten sich ein paar Trinker versammelt und amüsierten sich im Dunst des Alkohols. Warum sie wohl tranken? Gab es immer einen Grund, wenn sich jemand aufgab? Sich gehen ließ? Arme Gestalten, die ihr jämmerliches Glück in Form eines Tetrapacks teilten.

    Ein kleiner Junge sauste auf seinem Roller an ihr vorüber. Er strahlte über das ganze Gesicht und rief seiner Mutter etwas zu, das sie nicht verstand. Die Mutter lachte, lief ihm atemlos hinterher.

    Eine Gruppe Jugendlicher zog lachend und schwatzend an ihr vorbei. Sie blieb stehen und sah ihnen nach. Wie konnten sie nur so ausgelassen und fröhlich sein? War sie je so ausgelassen gewesen? So leichtherzig?

    Aber solche Gedanken führten zu nichts. Bedeuteten nichts. Sie wusste schon lange, dass sie anders war. Immer anders bleiben würde. Sie schwamm nicht mit dem Strom, eiferte nicht jedem modischen Schnickschnack hinterher. Der Preis, den sie dafür zahlte, war die Abgeschlossenheit. Aber das war schon immer so gewesen. Schon seit frühester Kindheit. Mit den Jahren war das Alleinsein zu ihrem vertrautesten Begleiter geworden.

    Ein tiefes Gefühl der Befriedigung und Ruhe durchflutete sie, das Herz wurde ihr warm und weit und sie fühlte sich gelöst, wie schon lange nicht mehr. Leicht und stark zugleich. Ja, dachte sie aufatmend, ja, es ist geschafft!

    „So, jetzt nur noch die Strumpfhose drüberziehen. Die liegt da drüben."

    Gerda Lange zeigte mit ihrem dicken, schwabbeligen Finger auf den Sessel neben ihr, wo eine hautbraune Feinstrumpfhose lag. Mühsam kam ich aus der Hocke nach oben, kämpfte gegen den kurzen Schwindel an und schwankte zum Sessel. Dieses hautfarbene Ding sollte ich ihr anziehen? Über diese Beine, deren Unterschenkel schon ohne Wickelung ihr barockes Ausmaß zu sprengen drohten?

    Das Leben ist voller Herausforderungen.

    Ich ging wieder in die Hocke.

    „Ihre Knie knacken ja fürchterlich", bemerkte Gerda Lange teilnahmsvoll. Das Lächeln, das ich ihr zuwarf, geriet etwas verzerrt. Ich war müde. Außerdem war mir flau im Magen. Seit dem Kaffee um fünf Uhr, hatte ich noch nichts gegessen und getrunken. Jetzt war acht Uhr und es bestand keine Aussicht auf eine baldige Auszeit. Es warteten noch drei Insulinpatienten auf mich.

    „Jetzt ist sie schon wieder gerissen", jammerte Gerda Lange, angesichts ihrer zerfetzten Strumpfhosen. Ich legte Bedauern in mein Gesicht.

    „Tut mir leid. Es ging nicht besser. Die Strümpfe bleiben spätestens an den Schwiegermüttern hängen."

    Ich zog die zerfetzte Strumpfhose über die Knie, kam mühsam nach oben, half Gerda Lange aufzustehen, wobei sie bedenklich wankte wie ein Schiff auf hoher See. Ich zog die Strumpfhose über die mächtigen Oberschenkel und den noch mächtigeren Hintern.

    „Da ist es wieder. Das kleine Kätzchen, rief Gerda Lange entzückt und zeigte in die rechte Zimmerecke. „Es ist schwarz-weiß und ganz klein.

    Ich suchte mit den Augen den Boden ab, konnte jedoch kein Kätzchen entdecken.

    „Ich weiß, Sie können es nicht sehen, beruhigte mich Gerda Lange, als sie meinen irritierten Blick wahrnahm. „Der Arzt meinte, das gehört zu meiner Krankheit.

    „Solange Sie Kätzchen sehen, ist das doch ganz schön", gab ich zurück.

    „Kürzlich nachts, da war ein Mann hinter dem Sofa. Da habe ich den Notruf gedrückt, weil ich so schnell gar nicht aus dem Bett kam. Die Dame am Telefon gab mir den Rat, mit dem Mann zu reden. Da hab ich ihn gefragt, was er da macht. Er hat mir nicht geantwortet, aber hat mich die ganze Zeit ganz komisch angeschaut. Die Frau am Telefon meinte dann, ich soll feste zurückschauen. Das half tatsächlich. Irgendwann hat er sich weggeduckt, aber ich wusste ja nicht, ob er jetzt ganz weg war oder nicht. Als ich dann endlich aus dem Bett war, war er verschwunden."

    Gerda Lange lächelte treuherzig und ohne jede Arglist. Dann streifte ihr Blick wieder zum Sessel.

    „Da ist es wieder, das Kätzchen!, rief sie erfreut. „Schade, dass Sie es nicht sehen können.

    Das fand ich nicht. Ich mag keine Katzen oder präziser ausgedrückt, ich mag überhaupt keine Haustiere. Und ich mag sie schon gar nicht in Berlin und ganz und gar nicht bei meinen Patienten. Sie stinken, kratzen, pinkeln in Ecken, betteln um Aufmerksamkeit, bellen oder manche wollen sogar von mir gestreichelt werden.

    In Gerda Langes Akte stand, neben diversen anderen Diagnosen, halluzinatorische Wahrnehmungen, die sich anscheinend in Form von Kätzchen oder stummen Männerbesuchen äußerten.

    In der Küche wusch ich meine Hände und gab anschließend dieser gutmütigen und freundlichen Frau ihre Medikamente. Insgesamt neun Stück zum Frühstück. Für jede Diagnose eine Pille. Dann verabschiedete ich mich, reichte ihr die Hand und winkte im Hinausgehen dem imaginären Kätzchen zu.

    Gerda Lange wohnte in einem dieser hässlichen seelenlosen Wohnsilos aus den siebziger Jahren in Gropiusstadt. Nachdem Walter Gropius und Willy Brandt, der damals Berlin regierte, den Grundstein dafür gelegt hatten, waren hier innerhalb weniger Jahre siebzehntausend Wohnungen in fünfundsechzig Wohnkomplexen gebaut worden.

    In jedem Stockwerk von Gerda Langes Zehngeschosser befanden sich zwölf Einzimmerwohnungen mit Balkon, in denen vorwiegend ältere Menschen wohnten. In den langen, dämmrigen Fluren waberte die vergraute Luft der letzten vierzig Jahre. Unten im Erdgeschoss gab es einen Seniorentreff, der unter chronischen Kohlgeruchsausdünstungen litt. Dienstags morgens, so las ich auf dem von Hand gemalten Plakat, wurde für die Bewohner Sitzgymnastik angeboten, zu der jeder willkommen sei.

    Nur die Anwesenheit von Haustieren – auch von Katzen - sei nicht erwünscht.

    Stunden später, nach etlichen Kilometern durch das verstopfte Neukölln - seit Wochen war die Karl Marx Straße wegen Sanierungsarbeiten nur einspurig befahrbar und in der Sonnenallee stand man sowieso immer ab zehn Uhr im Stau - saß ich mit meinen Kolleginnen im Sitzungsraum zur wöchentlichen Teambesprechung. Unser großspurig benannter Sitzungsraum war die ehemalige Abstellkammer einer Erdgeschosswohnung in der Baerwaldstraße am Südstern. Das schmale, zwanzig Zentimeter breite Fenster ließ so wenig Licht in den Raum, dass zu jeder Tageszeit eine ärmliche Sechs-Watt-Energiesparlampe leuchtete.

    Nach sieben Stunden Tour war ich müde. Mir schwirrte der Kopf und ich betrachtete das Ölbild an der gegenüberliegenden Wand. Ein großes Fenster in einem ansonsten dunklen Raum öffnete den Blick auf das flirrende Blau des Meeres. Nicht zum ersten Mal wanderte mein Blick sehnsuchtsvoll dessen Schaumkronen am gleißenden Horizont ab.

    „Wo ist eigentlich Alev?", rief mich Isabell in die profane Gegenwart zurück. Sie schaute mit blitzenden Augen in die Runde.

    „Vielleicht krank?", fragte Johanna Junge, die neben mir saß und die ich insgeheim die rote Johanna nannte, da ihr Haar kupferrot leuchtete.

    Isabell hatte ebenfalls kurzes lockiges Haar, eine laute Stimme, war resolut und dafür bekannt, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm. Sie arbeitete schon seit einigen Jahren bei der Ambulanten Pflege Kreuzberg Neukölln und war eine erfahrene Krankenschwester, die hohe Ansprüche sowohl an sich selbst, als auch an ihre Kolleginnen stellte. Das war der Grund, warum sie nicht gut auf Alev zu sprechen war.

    „Alev? Die ist bestimmt nicht krank. Die ist wie immer zu spät!", schnarrte Isabell wegwerfend.

    „Ganz ruhig, beschwichtigte Eva Reinig, unsere Pflegedienstleitung, die sich schon oft Isabells Beschwerden über Alev hatte anhören müssen. Sie schaute auf die Uhr. „Hat sie heute nicht Frühdienst?

    „Doch, doch, sagte Johanna an meiner Seite. „Die Tour ist eigentlich nicht so lange. Alev müsste schon längst hier sein.

    „Sag ich doch", bekräftigte Isabell, verschränkte die Arme und sah triumphierend zur Reinig.

    Eva Reinig hatte erst seit ein paar Wochen den Posten der Pflegedienstleitung inne und suchte noch die richtige Haltung der Vorgesetzten. Sie hatte zeitgleich mit mir in der Firma begonnen. In den ersten Wochen hatte ich gedacht, dass sich ihre Unsicherheit mit der Zeit legen würde. Aber auch nach vier Monaten wirkte sie angestrengt, müde und behandelte die Mitarbeiterinnen eher aus Verlegenheit denn aus Arroganz von oben herab. Jetzt huschten ihre Augen ängstlich zwischen Johanna und Isabell hin und her. Ihr schmales, spitz zulaufendes Gesicht war leicht gerötet. Insgeheim nannte ich sie Frau Maus.

    Eine müde Frau Maus mit steiler Stirnfalte auf blasser Stirn.

    In diesem Moment öffnete sich die Tür. Alev trat ein, das I-Phone zwischen Ohr und Kopftuch geklemmt. Ungeniert sprach sie mit ihrer typisch heiseren Stimme einfach weiter. Alle Blicke wandten sich ihr zu, während sie sich halb stehend auf den Fenstersims schob - es gab keinen Stuhl mehr - und weiter sprach. Beiläufig winkte sie uns zu.

    Entschuldigt bitte, sagte Alev mit knarzender Stimme, nachdem sie endlich das Telefonat beendet hatte, „mein Sohn wollte nicht zur Nachhilfe gehen. Na, dem hab ich was erzählt."

    Triumphierend schaute sie in die Runde. Isabell hatte schon wieder gefährlich ihre Augenbrauen nach oben gehoben und wollte gerade etwas sagen, als Alev schon weiter sprach:

    „Eva, sie hatte die Angewohnheit jeden zu duzen, egal ob Kollegin oder Vorgesetzte. „Warum sollte ich heute eigentlich nicht zu Herrn Bulig? Der ist doch sonst immer in der Tour.

    „Herr Bulig ist verstorben", informierte Eva Reinig in neutralem Ton.

    Mit einem Schlag war es still im Raum.

    „Hülya fand ihn heute Morgen im Bett. Die Todesursache ist noch unbekannt", fuhr Eva Reinig fort.

    „Aber Herr Bulig war doch fit. Na ja, für seine Verhältnisse fit", rief Alev bestürzt.

    „Wir wissen nicht, woran er gestorben ist , sagte Eva Reinig, deren Stirnfalte sich jetzt noch tiefer in die Haut grub. „Das heißt, es wurde die Polizei eingeschaltet und es wird auf jeden Fall eine Untersuchung geben. Die Dokumentation habe ich schon hier.

    Sie klopfte mit der linken Hand auf die rote Akte. Eine Geste, die ihre Autorität unterstreichen sollte, jedoch aufgesetzt wirkte, so als hätte sie das in einem Managementkurs gelernt. „Ich habe dazu sowieso noch ein paar Fragen. Frau Grusig, Sie fuhren gestern die Spättour und waren bei Herrn Bulig?"

    Ich räusperte mich und setzte mich etwas aufrechter.

    „Ja", antwortete ich vorsichtig.

    „Fiel Ihnen etwas auf? Irgendwelche Besonderheiten?"

    Meine Kolleginnen sahen mich an. Ich überlegte kurz und rief mir den Einsatz vom Vortag bei Rainer Bulig in Erinnerung. „Nein, er war wie immer."

    Ich rieb mir nervös die Hände. Als ich am Vortag bei ihm gewesen war, war er noch putzmunter gewesen. Fröhlich hatte er Eric Claptons Leyla gehört und mir erzählt, dass er ausnahmsweise unter der Woche einen Braten und selbst gemachte Knödel kochen würde.

    Ich erinnerte mich noch gut daran, als ich zum ersten Mal bei ihm gewesen war. Er wohnte in einer Erdgeschosswohnung in der Nansenstraße in Neukölln, hatte das Fenster offen und rief fröhlich, dass ich nur reinkommen solle.

    Seine Wohnung bestand aus einem geräumigen Schlafzimmer mit einem großen Doppelbett und einem Wohnzimmer mit überdimensioniertem Fernsehgerät. Ihm waren in den letzten drei Jahren beide Beine amputiert worden. Diabetes. Rainer Bulig hatte keine Familie, aber einen funktionierenden Freundeskreis. Sobald es das Wetter zuließ, stand sein Fenster offen und er schwatzte oft mit Leuten, die draußen vorbei liefen. Er kochte gerne und ausgiebig, am liebsten Schweinebraten mit Knödel. Nicht unbedingt das passende Essen für einen Diabetiker, der abnehmen sollte. Aber das wollte er sowieso nicht.

    „Wie bitte soll ich denn abnehmen, wenn ich den ganzen Tag im Rollstuhl sitze? Und mich kasteien, das mach ich nicht. Ich hab mein Leben lang gearbeitet, jetzt lass ich es mir gut gehen!"

    Aus seiner Sicht war es vielleicht ein durchaus bequemes Leben. Jeden Morgen kam jemand und half ihm beim Waschen. Zweimal täglich kontrollierte eine Schwester den Blutzucker und wechselte den Verband, eine Physiotherapeutin massierte ihn regelmäßig eine halbe Stunde und oft waren seine Kumpel bei ihm, um eine Runde Karten zu spielen.

    Rainer Bulig war unternehmungslustig. Er fuhr auch bei jeder Gelegenheit nach draußen: Zum Einkaufen bei Aldi gegenüber, in die Hasenheide, wo ihn jedermann kannte oder zur Currywurstbude am Hermannplatz. Dabei trug er immer eine lustige rote Wollmütze auf dem Kopf, so dass er schon von Weitem zu erkennen war.

    Mit der Zeit hatte ich Rainer Bulig richtig ins Herz geschlossen.

    „Ich werde bestimmt hundert Jahre alt! Und bis dahin wird kein Trübsal geblasen", hatte er verkündet, wenn ich ihn dazu ermunterte, vielleicht etwas weniger zu essen, weniger zu rauchen und vielleicht sogar das eine oder andere Kilo abzunehmen.

    Insgemein beneidete ich ihn um seine fröhliche Sorglosigkeit.

    Jetzt war er tot.

    Ein Hedonist weniger auf der Welt.

    Schade.

    „Er ließ sich gehen und die Konsequenzen waren ihm egal, stellte Isabell abschätzig fest. „Jetzt hat er dafür die Rechnung gekriegt.

    Ich sah zu Isabell und staunte über ihre Kaltschnäuzigkeit, denn sie hatte ihn ebenfalls gemocht, auch wenn sie sich über seinen unvernünftigen Lebensstil aufgeregt hatte.

    „Gut, sagte Eva Reinig und schloss resolut die vor ihr liegende Akte. „Seine Zuckerwerte waren stabil. Seine Druckgeschwüre waren alle oberflächlich. Wir können also davon ausgehen, dass kein Pflegefehler vorlag.

    Sie richtete ihren Blick auf die vor ihr liegenden Notizen, machte irgendwo einen Haken, dann hob sie den Kopf und fragte: „Übrigens, es fehlt der Schlüssel der Hauspflegerinnen zu Herrn Buligs Wohnung. Hat den eine von Ihnen?"

    „Warum sollten wir einen rosa Schlüssel nehmen?", fragte Isabell sofort kratzbürstig.

    Die Schlüssel der Kunden hatten entweder rosa oder grüne Anhänger. Rosa für die Pflegerinnen, grün für die Fachkräfte. Da wir unterschiedliche Touren fuhren, waren wir meist auch zu unterschiedlichen Zeiten bei den Patienten.

    „Das kommt ja vor, sagte Eva Reinig. „Wir brauchen die Schlüssel. Die Polizei hat uns danach gefragt.

    „Also, ich hab ihn nicht. Fragen Sie doch Alev, die vergisst ja gern ihre Schlüssel!", warf Isabell provokant in die Runde.

    Alev sah nur kurz vom Display ihres Handys auf, rollte mit den Augen, schob ihr Kopftuch zurecht und wandte sich erneut ihrem I-Phone zu.

    Nach gut neunzig Minuten war die Sitzung beendet und ich schleppte mich mit tonnenschweren, müden Gliedern nach Hause, trank noch ein Glas Wasser und ließ mich auf das Sofa fallen.

    Es klingelte und klingelte. Ich lag halb ohnmächtig auf der Couch, mein Körper fühlte sich wie gelähmt an, der Kopf in Watte gepackt, alle höheren Gehirnfunktionen waren ausgeschaltet. Ich wartete mit rasendem Herzen und schweren Augenlidern, dass das Telefon endlich wieder Ruhe gab. Unmöglich jetzt aufzustehen. Es war halb fünf und ich war erst kurz nach vier von der Teamsitzung nach Hause gekommen. Probehalber bewegte ich meine Finger. Dann bollerte es an meiner Tür und jemand rief: „Kerstin! Bist du da? Mach auf!"

    Es war gar nicht das Telefon gewesen, das mich geweckt hatte. „Kerstin!"

    Die Rufe war markerschütternd. Langsam brachte ich mich in die Vertikale und wischte mir einen Tropfen Speichel aus dem Mundwinkel.

    „Hallo!"

    Langsam wankte ich zur Tür.

    „Da bist du ja. Ich stehe hier bestimmt schon seit zehn Minuten und du rührst dich nicht. Hast du geschlafen? Mitten am Tag? Hab ich dich geweckt?"

    Martina, mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm, schob mich resolut zur Seite und kam rein.

    „Du siehst ja furchtbar aus. Ich mach dir erst mal einen Kaffee."

    Sie scheuchte mich in die Küche, drückte mich auf einen Stuhl, setzte mir Klein Nele auf den Schoß und machte sich am Herd zu schaffen.

    „Ich war gerade in der Gegend. So schönes Wetter. Und es ist zu früh, um nach Hause zu gehen. Außerdem freut sich Nele, dich mal wieder zu sehen. Seit du arbeitest, sehen wir uns überhaupt nicht mehr."

    Ich brummte und grub meine Nase in Neles Haar. Der zarte Duft nach Sonnencreme, Milch und Sand war betörend. Sie quiekte und patschte mir ihr Händchen ins Auge.

    „Na, altes Haus. Wie geht es dir?", fragte Martina, während sie sich am Herd zu schaffen machte.

    „Wie es einem eben geht, wenn man immer arbeiten muss", brummte ich missmutig.

    „Ach komm, du bist nur von der Arbeit entwöhnt", sagte meine beste Freundin mit großem Einfühlungsvermögen.

    „Kaffee trinken und Zeitung lesen sind mir auf jeden Fall lieber als dieses Gehetze", gab ich beleidigt zurück.

    „Ja, ja, die schönen alten Zeiten", sagte Martina.

    „Streu nur Salz in meine Wunden."

    „Andrea hat dich ja nicht wegen des Geldes verlassen."

    Ich schwieg. Ich wollte nicht an Andrea denken. Das tat sofort weh. Sie fehlte mir. Noch immer. Wie auch nicht? Nach gut neun Jahren hatte sie mich verlassen, unter Tränen verlassen, aber verlassen! Und das nicht, weil ich mich in den letzten Monaten standhaft geweigert hatte, irgendetwas zu unserem Lebensunterhalt beizutragen. Sie verdiente als Bestatterin genug, um uns beide eine Zeit lang über Wasser zu halten. Obgleich das ihrer schwäbischen Sparsamkeit nicht gerade gefallen hatte.

    „Ich weiß, es war nicht wegen des Geldes", sagte ich trotzig.

    Martina hob die Augenbrauen und wechselte das Thema.

    „Und, was treibst du sonst so?"

    „Ich arbeite."

    „Na, und sonst?", fragte Martina.

    „Ich gucke Krankenhausserien", ich gähnte ausgiebig und Nele steckte mir ihren Finger in den Mund. Ich biss spielerisch zu und knurrte, woraufhin sie fröhlich jauchzte und an meinen Haaren zog.

    „Krankenhausserien? Martina warf mir ihren tadelnden Lehrerinnenblick zu. „Du verkommst. Wo ist dein Kaffee?

    Ich zeigte oben auf das Regal.

    „Ich verkomme nicht. Ich hole mir Anregungen bei Grey´s Anatomy."

    „Ziemlich dämlich, wenn du mich fragst", sagte Martina.

    „Stimmt gar nicht. Bailey ist doch super", widersprach ich.

    „Bailey?"

    „Die kleine Schwarze mit dem großen Busen. Der Nazi."

    Jetzt schaute mich Martina an, als wäre ich geistesgestört.

    „Na, mit deinen Kenntnissen kann es ja nicht weit her sein, wenn du nicht weißt, wer der Nazi ist."

    „Kerstin, das ist…"

    „Ja, ja", brummte ich.

    „Und wieso ist dieses Busenwunder ein Nazi, wo sie doch Schwarze ist?", fragte Martina.

    Ich verdrehe meine Augen.

    Nele quäkte lustig: „Naschi, Naschi" und grapschte nach den traurigen Resten einer vertrockneten Basilikumpflanze, die auf dem Tisch stand. Sie war mit ihren knapp zwei Jahren nicht gerade ein Sprechwunder.

    Aber ich nahm es mit meinen Tantenpflichten sehr genau.

    „Naa Zii, Nele, sag schön Naa Zii."

    „Naaa Schi. Nele schön sagt", wiederholte sie und stopfte sich vertrocknete Basilikumblätter in den Mund.

    „Nur die Blätter naschen, nicht die Blumenerde!"

    Ich nahm ihr das Händchen aus dem Mund und wischte sie sauber.

    „Naschi naschen!", jubelte das Kind.

    „Deine Milch ist sauer, sagte Martina und guckte entnervt in den Topf. „Hast du noch Frische?

    „Nö."

    „Wie sieht es hier überhaupt aus? Keine Milch da, und mit einem Blick auf den Berg schmutzigen Geschirrs in meiner Spüle, fuhr sie fort: „Alles dreckig. Und chaotisch.

    Ich schnipste verschämt ein paar Krümel vom Küchentisch.

    „Ich hab die letzten acht Tage Dienst gehabt", knurrte ich mürrisch.

    „Andere arbeiten auch und bei denen sieht es nicht so aus", konstatierte Martina.

    Ich hab auch keinen Grund mehr aufzuräumen, dachte ich voll Selbstmitleid. Andrea war nicht mehr da. Für sie habe ich mich jahrelang im Haushalt abgemüht, habe gekocht, gewaschen, geputzt. Mein Liebchen sollte sich wohlfühlen, wenn sie nach einem anstrengenden Bestattungstag nach Hause kam. Aber dann hatte sie sich nicht mehr mit mir wohlfühlen wollen. Tränen stahlen sich in meine Augen. Ich wischte sie schnell ab, aber es kamen gleich neue.

    „Kestin weint. Nele streichelte zärtlich mein Gesicht. „Aua macht?

    „Ja, schniefte ich. „Großes Aua.

    Sie pustete mir ihren warmen Kinderatem ins Gesicht. „Eia Kestin."

    Martina stellte mir eine Tasse schwarzen Kaffee vor die Nase und streichelte Klein Nele.

    Dann legte sie mir sanft die Hand auf die Schulter.

    „Na, altes Haus. Wird schon wieder."

    Ich schüttelte den Kopf. Es würde nie wieder werden. Mein Leben war trostlos und leer. Keine Andrea. Keine Zeitung mehr. Dafür ein Job, der mich frustrierte und erschöpfte. Bis zum Ende meines Lebens würde ich Krankenhausserien schauen und mich kraftlos von Tag zu Tag schleppen.

    „Hast du schon was gegessen?"

    „Ja, ja."

    „Komm, wir gehen zum Thailänder. Wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag solltest du zu dir nehmen."

    „Du redest schon genauso wie ich, wenn ich meinen Patienten dämliche Ratschläge gebe. Aber die machen auch nie, was ich ihnen sage."

    „Ja, aber die sind schon altersstarrsinnig und krank. Du nicht", stellte Martina fest.

    „Ich hab aber keinen Hunger, gab ich trotzig zurück und würgte einen Schluck Espresso runter. „Übrigens. Heute ist ein Patient gestorben. Der Dicke, von dem ich dir schon mal erzählt habe.

    „Und an was ist er gestorben?"

    „Keine Ahnung. Die Polizei wurde eingeschaltet, weil die Todesursache ungeklärt ist."

    In diesem Augenblick klingelte mein Diensthandy.

    „Willst du nicht dran gehen?"

    „Nein, murrte ich. „Ich hab morgen frei.

    Das Handy klingelte mittlerweile nicht mehr. Ich nahm den letzten Schluck Espresso, der zu stark war und bitter schmeckte.

    Nele quietschte vergnügt auf meinem Schoß und griff erneut nach dem Basilikum. Der Topf war gekippt und die Blumenerde verteilte sich auf meinem schmutzigen Tisch. Nele schien das, im Gegensatz zu ihrer Mutter, nicht zu stören. Dann klingelte erneut das Handy. Martina sah mich streng an, stand auf, holte es aus dem Wohnzimmer und hielt es mir unter die Nase.

    „Los jetzt, zischte sie, „keine Vogel Strauß Politik.

    Widerstrebend nahm ich das hässliche alte Ding.

    Und verfluchte kurz darauf Martina.

    „Charly, komm hierher Charly, lass das schön sein. Sei nicht so ungezogen!"

    Die Stimme überschlug sich und war mindestens drei Oktaven zu hoch. Resa Schulze saß auf ihrer Couch und versuchte ihren kleinen Mischlingshund vom Wohnzimmertisch wegzulocken, wo er auf ihrer Tablettenbox herum biss. Dann warf sie ein Stück Würfelzucker in die andere Ecke des Raumes und der Hund sprang beherzt quer über den Tisch dem Würfelzucker hinterher. Es knirschte, als er den Zucker zerbiss. Währenddessen kniete ich vor Resa Schulzes Elefantenbeinen, säuberte ihre Wunden. Im Radio lief eine Sinfonie von Beethoven, es roch nach altem Müll, Hund und noch vielem anderen, dessen Ursprung ich lieber nicht wissen wollte.

    „Die Beine, dat tut mir so weh. Die werden immer schlimmer", stellte Resa Schulze fest.

    „Sie müssen die Beine hochlegen, damit das Blut zurückfließen kann", erklärte ich.

    „Dat geht doch nicht, schrie Frau Schulze, „mir wird doch immer schwindelig. Sowie ich meine Beine hochlege geht dat los.

    In diesem Moment kam Charly angesprungen und setzte sich neben mich auf den Boden, schob seinen Kopf zwischen meine Hand und den Unterschenkel und leckte die Wunde. Ich würgte.

    „Bitte Frau Schulze. Der Hund muss weg."

    Immer wenn ich ihn beiseiteschob, drückte er seinen Kopf nur noch fordernder an meine Hand und versuchte erneut zu lecken. Resa Schulze schrie noch durchdringender:

    „Charly, sei ein braver Hund. Die Tante tut dir doch nichts. Komm, sei schön lieb, Charly. Schön lieb sein!"

    Ich säuberte die Wunde, während ich mit dem rechten Arm den widerspenstigen Hund auf Abstand hielt. Beethoven und die keifende Stimme im Ohr. Der Hund guckte freundlich. Dann legte ich mit einer Hand die ehemals sterilen Kompressen auf die Wunde, schnappte mir die elastische Binde und begann gegen den Widerstand des Hundes das schwere Bein zu wickeln.

    „Komm, Charly. Na gut, da haste noch was. Dann gibst du aber Ruhe. Du böser, böser Hund."

    Resa Schulze warf ein Stück Wurst in die Zimmerecke, dem Charly aber nur mit mäßigem Interesse hinterher sah. Er zog wohl Würfelzucker oder meine Nähe vor, jedenfalls rückte er mir nicht von der Seite.

    „Sie müssen zum Arzt. Der muss der Ursache ihres Schwindels auf den Grund gehen, damit Sie endlich die Beine hochlegen können. Wie schlafen Sie eigentlich? Doch nicht etwa auch im Sitzen?"

    „Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, klagte Resa Schulze lautstark. „Immer dieser Schwindel. Dat ist ganz schrecklich. Ich kann noch nicht mal fernsehen. Dat verkrafte ich nicht.

    Beethovens Violinen legten sich über ihre hohe Stimme.

    Charly versuchte erneut, sich ein paar Streicheleinheiten von mir einzufangen. Angeekelt zog ich die Hand zurück und stand schnell auf. „Komm, wir gehen Hunde vergiften im Park", sang es bösartig in meinem Hinterkopf. Das war doch kein Leben für dieses Tier. Es würde bald an Verfettung und Schwerhörigkeit leiden. Und Karies.

    „Wer geht eigentlich mit ihrem Charly Gassi?"

    „Die Frau Schmidt, die Nachbarin, die kommt manchmal, die geht dann mit ihm. Nicht Charly, bald kommt die Sieglinde und dann gehste schön raus", kreischte sie dem kleinen braunen Tier zu.

    „Wie oft denn?"

    Frau Schulze nickte beherzt. „Zweimal, das reicht dem Charly. Der ist doch am liebsten hier, bei mir. Nicht wahr, Charly, mein kleiner Racker?"

    Charly wedelte mit dem Schwanz und sah sein Frauchen erwartungsvoll an.

    Hunde sind schlicht, dachte ich hoffnungslos. Egal, was ihnen angetan wurde, sie lieben ihre Folterer und essen demütig den Zucker, der ihnen zugeworfen wird. Kurz überkam mich Mitleid mit dem braunen, kurzhaarigen Vieh. In mir keimte die Idee, das arme Tier von seiner jämmerlichen Existenz zu erlösen. Schnell und schmerzlos. Das musste doch möglich sein. Charly schaute mich irgendwie komisch an, kam dann zu mir und rieb sein Hinterteil an meiner Wade.

    Ich versprach ihm, dass er nichts spüren würde. Einfach einschlafen, lieber, kleiner ekliger Charly. Und als hätte die Göttin mir gelauscht, erklangen in diesem Moment die ersten Töne von Brahms Requiem in b moll Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.

    Der Telefonanruf vom Vortag hatte mir den Spätdienst von Alev eingebracht, die krank geworden war. Resa Schulze war die erste Patientin dieser Tour gewesen. Das Leben kennt kein Mitleid. Immerhin aber war die Tour nicht so voll und Resa Schulze war geschafft. Doch die Tür hinter dem bellenden Charly war noch nicht ins Schloss gefallen, da klingelte mein Diensthandy.

    „Frau Grusig, schepperte es in mein Ohr. Der Ton war zu laut eingestellt. Ich musste zuerst die Lautstärke regulieren, wodurch mir die folgenden Worte Eva Reinigs entgingen. ... Sie kommen also in einer halben Stunde ins Büro."

    „Warum soll ich kommen?", versuchte ich noch zu fragen, doch meine Pflegedienstleitung hatte die Verbindung schon unterbrochen. Das hatte sie bestimmt auch in ihren Managementkursen gelernt: Kurze, knappe Anweisungen geben und keine Diskussionen führen.

    Danach fuhr ich stop-and-go die Herrmannstraße entlang, über den verstopften Herrmannplatz, die Hasenheide entlang über den Südstern zurück zum Büro. Eva Reinig warf mir nur einen kurzen, sehr geschäftigen Blick zu, als ich meinen Kopf in ihrer Tür blicken ließ.

    „Sie werden schon im Besprechungsraum erwartet", sagte sie kurz angebunden und drückte ihr Kreuz durch.

    „Wer erwartet mich?"

    „Das habe ich Ihnen doch schon am Telefon gesagt."

    In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. Sie drehte mir ihre linke Schulter zu und klemmte sich das Telefon unter das Kinn.

    Schnell überlegte ich, ob mir ein Fehler unterlaufen war, über den eine Kollegin mit mir sprechen wollte. Aber dann hätte die Reinig bestimmt dabei sein wollen, beruhigte ich mich. Ich trat also einigermaßen neugierig in den dunklen, schmalen Raum und sah zwei fremde Männer am Tisch sitzen.

    „Sie warten auf mich?", fragte ich.

    „Wenn Sie Kerstin Grusig sind", sagte der Ältere von beiden und lächelte freundlich.

    Ich setzte mich den beiden gegenüber und war froh, dass an der Wand hinter ihnen das Bild mit dem Meeresblick hing.

    „Sie wissen, warum wir Sie sprechen wollen?", fragte der Grauhaarige, der ein gestreiftes blaues, etwas knittriges Hemd trug mit einer dunkelblauen Krawatte, auf der kleine rote Herzchen aufgedruckt waren. Er war ungefähr sechzig und blickte mich väterlich wohlwollend über den Rand seiner

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