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Heute sterben wir noch nicht
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eBook289 Seiten4 Stunden

Heute sterben wir noch nicht

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Über dieses E-Book

Können Depressive die Lebenslust lernen, sich verlieben, ihren Job gut hinkriegen, ja einen Hauch von Glück spüren? Sina glaubt nicht daran. Doch dann lernt sie Coco, Marcella und Felix kennen. Coco, die Frauen und Männer mag und für die Sex wie eine Blume am Wegesrand ist. Marcella, die eigentlich Martin heißt und ein heißer Feger werden will, um mit der Erotik Geld zu verdienen. Felix, der Ruhepol zum Festhalten, der aber verbirgt, dass er heimlich verheiratet ist. Mit ihnen zusammen gelingt es Sina sich selbst anzunehmen,obwohl sie erkennt, dass der Kampf gegen die Depression sie lebenslang begleiten wird.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Apr. 2016
ISBN9783738066791
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    Buchvorschau

    Heute sterben wir noch nicht - Lily Zimmermann

    Prolog

    Der Tag, an dem ich beschloss, nicht mehr nett zu sein, war der erste Tag meiner Genesung. Und nur, weil es ein Kerl auf dem Bahnsteig sehr eilig hatte und mich beinahe vor die U-Bahn gestoßen hätte. Wenn es der erste Wagen gewesen wäre. So geriet nur mein Handgelenk zwischen die Flügel der elektronischen Tür. Bei dem Versuch, noch in die Bahn zu springen, obwohl das Warnsignal schon ertönte und die rote Lampe blinkte, rempelte er mich von hinten und ich flog mit vorgestreckten Armen auf den enger werdenden Türschlitz zu. Zack war die linke Hand drin. Immerhin versuchten der Rempler von außen und zwei junge Männer von innen beherzt die Tür wieder zu öffnen. Alle drei griffen in den Spalt, der durch meine Hand entstanden war, und rissen daran. Eine Zehntelsekunde und ein Zentimeter reichten und meine Hand war frei. Der Zug konnte endlich los, übrig blieben nur der Rempler und ich. Der nahm mein vor Angst und frischer Empörung entstelltes Gesicht in seine Hände und rief: „ Wäre wirklich schade um dieses schönes Lächeln", und verwischte mit streichelnden Daumen die Tränen. Genau in dem Moment verwandelte er sich in einen Prinzen und es hätte der Beginn einer großen Liebesgeschichte sein können, wenn ich nicht so beschissen drauf gewesen wäre.

    „Ich bin ein durch und durch melancholischer Mensch, fauchte ich, „ich liebe Gothic-Musik und meine Lieblingsfarbe ist schwarz. Von allem gefällt mir das Traurigste am besten, egal, ob es Bilder, Melodien oder Bücher sind. Und ich habe Todessehnsucht wie nach einem Geliebten. Ich lache überhaupt nie.

    „ Nanu? fragte er und kam mit seinen Augen so dicht an mein Gesicht, als wollte er seine Wimpern mit meinen verhaken, „der Kopf war doch nicht eingeklemmt, nur die Hand.

    Trotzig schleuderte ich ihm entgegen: „So schnell kann ich tot sein. Was nützt mir, Sina Sonnenschein nach der ganzen Qual eine Grabinschrift: ,Aber sie hat immer so nett gelächelt’?"

    Nach einem verblüfften Blick sagte er: „Schade, Sina Sonnenschein, du hättest mich verzaubern können." und ließ mich los. Die Magie war aus der Situation gewichen wie ein Schleier, der von seinem Gesicht gerutscht war. Darunter erschien ein sanftes Lächeln der Entschuldigung. Die nächste Bahn kam, ich wartete ab, bis der Unbekannte drin war, lief am Zug entlang und stieg drei Türen weiter vorn ein.

    Ich war kurz vor einem Schreikrampf. Mit meinen Freundinnen Marcella und Coco verkracht, Felix in die Flucht geschlagen und mit der frisch gewonnen Erkenntnis, dass meine bescheuerte Nettigkeit zum Teil daran Schuld war, fand ich das Leben zum Kotzen. Sicher, ich war voller Reue, war bereit, durch den Staub der Wiedergutmachung zu robben, aber wozu? Damit jemand meinen Weg kreuzte und mich vor die Bahn stieß? Jemand, dem es absolut gleichgültig war, ob ich mein Leben im Griff hatte ? Zum Teufel mit der Reue!

    So begann meine Heilung, allerdings über einen kleinen Umweg: morgens am Boden zerstört, trotzdem langsam zu einem neuen Vorhaben aufgerappelt, über eine Knalltüte gestolpert, die meinen Ausraster provozierte und noch vor dem Abend in der Klapper gelandet….

    Dabei war ich ursprünglich auf dem Weg zur Therapiestunde. Ja, ich hatte Fräulein Dr. Sowa vor ein paar Tagen wieder angerufen und um einen schnellen Termin gebeten. „Sehr schlimm?, hatte sie mich am Telefon gefragt. Ich nickte mit engem Hals. In die entstandene Pause hinein sagte sie: „ In Ordnung, ich schiebe Sie irgendwie dazwischen.

    Mir ging es schlecht, ich fühlte mich extrem unsicher, minderwertig, leer, einsam, ängstlich, absolut lustlos zu Tätigkeiten jeglicher Art, hatte Horror vor dem Unterwegssein außer Haus, war niedergeschlagen und weinerlich. Ich hätte mich selbst auf den Müll werfen können. Außerdem schien ich zugenommen zu haben, obwohl ich in den letzten Wochen kaum etwas gegessen hatte. Ich bemerkte es heute Morgen im Gesicht. Ich sah aus wie meine Mutter und wollte nur hineinschlagen.

    In dieser Situation auf einen Prinz Arschloch wie den Rempler und seine Art des Umgangs mit anderen Menschen zu treffen, machte mein Vorhaben zunichte.

    Frau Dr. Sowa und viele andere setzten aufs Reden. Ja, bis zu einem gewissen Punkt, aber nicht totreden bis alles zerbröselt ist und du nichts mehr übrig hast: keine Trümmer, die du begraben, keine Bruchstücke, die du kitten kannst, nur Leere, Müdigkeit und Fadheit. Eine Zeit lang hatte ich zwar das Gefühl gehabt, es hätte mir genutzt, aber jetzt stand ich genauso zerbrochen wie am Anfang der Quatscherei da. Sicher, ich war nach den Gesprächen mit meiner Frau Doktor Psycho nie so in Rage wie nach der eingeklemmten Hand, aber vielleicht war genau das die Therapie, die ich brauchte, um mich zu spüren.

    Meistens war ich tatsächlich nett, ebenso wie schüchtern, sensibel, introvertiert und zog Verletzungen an. Daran war mein fehlendes Selbstbewusstsein Schuld. Etwas anderes hätte mir Dr. Sowa auch nicht gesagt. Also am besten, ich kehrte um und ließ den erbettelten Termin bei ihr sausen.

    In dem Gedanken gefangen, wie ich es am besten anstellen könnte mit der Absage an die Freundlichkeit meinen Mitmenschen gegenüber, die mich bei jeder Gelegenheit klein machten, verließ ich bei der nächsten Station den Zug und stieg die Treppe aus dem U-Bahnhof hoch. Ich wollte zu Fuß gehen, ich brauchte frische Luft.

    Auf dem Weg kam mir eine Frau mit einem voll beladenen Kinderwagen entgegen. An der Straße fanden irgendwelche Straßenarbeiten statt und der Gehweg war eingeengt durch die ausgehobene Erde der Gräben, die sich an ihm entlang zogen. Ich stieg am Rand eines Sandwalls hoch, um den Kinderwagen vorbei zu lassen. Der balancierte auf dem aufgebauschten Kissen eine Stiege mit verschiedenem Obst, die in der Breite über seine beiden Seiten hinausragte. Auf dem Obst lagen zusätzlich Mohrrüben, Lauch und Blumen. Die Frau lenkte ihren Wagen mit links, mit der rechten Hand hielt sie sich ein Handy ans Ohr, ganz in das Gespräch vertieft. Kurz vor mir holperte der Wagen, machte einen kleinen Schlenker, eine Außenseite der Stiege stieß an meine Hüfte und die Fracht segelte zu Boden. Die ganze Zeit hatte ich mich nicht von der Stelle gerührt.

    „Ach Mensch, kannst du nicht aufpassen, musst du dich ausgerechnet da hinstellen?" tadelte mich die Wagenbesitzerin, auf einmal gar nicht mehr auf ihr Gespräch konzentriert. Da war es wieder, dieses Scheißgefühl, alle anderen erklären mir immer meine Fehler und Unfähigkeiten und sofort fühle ich auch, wie untauglich ich eigentlich zu allem bin.

    „Bitte siezen Sie mich, mit Leuten wie Ihnen bin ich nicht auf du und du."

    „Sag mal spinnst du, du hast scheinbar nicht mehr alle, so wie du redest? Wenigstens mithelfen könntest du, wenn du die Sachen schon runter geworfen hast." Sie bückte sich nach der Stiege, legte sie wieder quer auf das Kissen, bückte sich wieder, diesmal nach einem der davon gesprungenen Äpfeln, gleich danach nochmal, um das Gemüse auf das Kissen zu werfen. Ich hypnotisierte die Sonnenbrille auf ihrem Kopf, aber die hielt.

    „ Sie verstehen mich offensichtlich nicht, sagte ich, „aber das bin ich gewöhnt. Legen Sie doch einfach das Handy weg, mit zwei Händen können Sie schneller zupacken, Sie versperren ja den ganzen Weg.

    Ich wollte vorsichtig an dem Hindernis vorbei und weiter gehen, streifte noch einmal die Obstkiste und sie fiel zum zweiten Mal hinunter.

    „Also, jetzt reicht’s aber, was fällt dir ein, du kannst doch nicht…" ich zeigte ihr den Mittelfinger und formte mit den Lippen die entsprechende Erläuterung dazu in ihr verdutztes Gesicht. Dann ließ ich sie stehen.

    Ja, ich fühlte mich schon besser.

    Auf dem Vorplatz des nächsten Eckhauses, in dem ein Kiezbäcker seinen Frühstücksladen hat, traf ich auf einen Rollstuhlfahrer, der aufgeregt hin-und herfuhr und laut eine junge, rotgesichtige Mutter mit ihrem Kind beschimpfte. Er fuchtelte wild mit den Armen, stieß immerzu seinen Finger durch die Luft in Richtung der zwei und drohte dem Kind mit der flachen Hand einen Schlag an. Oh, dachte ich, schon wieder Ärger mit einer modernen Mutter? Diese hier neben ihrem verstörten Kind blickte betreten drein.

    „Was ist denn passiert? fragte ich. Die Frau winkte ab. Sie wollte bloß weg, merkte ich, während der Mann weiter zeterte: „ …Kinder genauso verkommen wie die Eltern, keine Manieren, keine Achtung, alle Werte gehen den Bach runter.

    Ich richtete meine Frage diesmal an ihn und setzte noch hinzu: „Brauchen Sie Hilfe? Der Mann zeigte auf die beiden von ihm Beschimpften: „ Erklären Sie dem Balg mal, wie man mit Behinderten umgeht. Stellen Sie sich mal vor, die Göre sagt rotzfrech zu seiner Mutter: Guck mal, der Mann hat keine Beine.’"

    „ Aha. Und weiter?"

    „Schlimm genug!", regte er sich von neuem auf. Seine Stimme klang wie die meines Vaters, wenn er wütend war. Ich konnte schreiende Männer nicht ausstehen.

    „Nun ja, ich muss sagen, das Kind hat Recht, ich kann auch keine Beine sehen. Darf man das nicht aussprechen? Ich persönlich kann daran nichts Schlechtes finden." Der Mann im Rollstuhl hatte mir nichts getan und trotzdem wollte ich ihn unbedingt provozieren.

    Jetzt richtete sich sein Zorn gegen mich: „Sie unterstützen das also? Machen Sie sich bloß aus dem Staub, sonst fahre ich Ihnen Ihre Zehen ab. Dann können Sie mal erleben, wie das ist, nicht laufen zu können." In seiner Erregung wirkte er sehr entschlossen.

    Von dem Lärm angelockt, eilte eine Frau aus dem Backladen, legte stürmisch ihre Arme um den Mann im Rollstuhl, drückte dabei seinen Kopf zwischen ihre Brüste und küsste ihn aufs Ohr. „Pssst…beruhige dich, mein Schatz. Was ist denn hier los? flötete sie. Er schilderte unseren Wortwechsel und sie erwiderte: „ Komm, lass die doch. Die Leute haben überhaupt keine Ahnung wovon sie reden, und schob ihm ein Stück der Streuselschnecke in den Mund, die sie in der Hand hielt. Dann blickte sie mich verächtlich an und zeigte mir einen Vogel.

    Die Frau wischte mit dem Mittelfinger ihrem Mann etwas Zuckerguss aus dem Mundwinkel und leckte ihn ab. Dann biss sie erneut von der Streuselschnecke ab, um sie sofort wieder ihrem Mann in den Mund zu stecken. Gleich gibt sie ihm die Brust, dachte ich. „Sagen Sie, fragte ich laut und deutlich, „Schlafen Sie noch mit dem Stinkstiefel oder holen Sie sich das woanders? Ihre Miene erstarrte. Ich ging noch einen Schritt auf sie zu und in ihr flatterndes Gesicht hinein stichelte ich: „Na los, sagen Sie schon, wie haben Sie sich beide geeinigt. Meinen Sie, er wäre Ihnen treu, wenn Sie da drin säßen? Ich zeigte mit dem Kinn auf den Rollstuhl. Einen Moment lang rang das Ehepaar nach Worten, dann brach die Entrüstung aus beiden heraus. Besonders er tobte in seinem Sitz hin und her: „ Was bilden Sie sich ein, Sie Schlampe? Sind wir jetzt schon so weit, dass Behinderte auf der Straße offen beleidigt und angegriffen werden dürfen? Seine Frau stimmte nahtlos ein: Kommen Sie mit sich selbst nicht klar, dass Sie denken, über andere Leute herfallen zu müssen?

    „ Sie wollen wohl unbedingt eine reingehauen bekommen?, brüllte er, löste die Bremsen an seinem Rollstuhl und machte Anstalten, mir auf die Pelle zu rücken. Seine Frau hielt ihn schnell am Oberarm fest, sagte etwas zu ihm und schüttelte langsam den Kopf. Dann drehte sie sich zu mir: „Sie sollten mal zum Psychiater gehen. Da gehören Sie nämlich hin. Am besten in die Geschlossene, und spuckte vor mir aus.

    Bis dahin hatte ich den Schwall ihrer Beschimpfungen von mir ablaufen lassen wie heute Morgen die Wasserstrahlen unter meiner Dusche. In der Pause, die durch das Spucken entstanden war, musterte ich ihr Gesicht und sagte eindringlich: „ Sie sind doch nur wütend, weil Sie hassen, was Sie tun und ich Sie durchschaut habe. Nach einer kurzen Unterbrechung ergänzte ich: „Aber ich sag es nicht weiter. Mit geschlossenen Augen murmelte sie wie mit letzter Kraft: „ Hauen Sie auf der Stelle ab."

    Ich nickte und mit besten Wünschen für einen schönen Tag winkte ich ihnen zu und ging. Aus meinem Bauch kam ein Zittern, das sich im ganzen Körper ausbreitete. Ich spürte, wie aufgeregt ich war, obwohl ich meine Bosheiten fehlerfrei ohne Versprecher herausgebracht hatte.

    Ich dachte an Felix, der hatte auch einmal einen Streit öffentlich auf der Straße ausgetragen. Wir waren damals hinzugekommen, als ein großer Kerl mitten auf dem Gehweg auf seinen kleinen Sohn eindrosch. Felix ging dazwischen und drohte dem Vater seinerseits Schläge an, sollte er nicht aufhören. Der brüllte wiederum, mit seinem Kind könne er tun was er wolle, es ginge niemanden etwas an. Wie er glotzte, als Felix daraufhin alle Geräusche der Umgebung übertönte und die Aufmerksamkeit der Passanten sowie Gäste der Straßencafés auf den Vorfall lenkte, indem er alle aufforderte, wenn sie einen Kinderschläger kennenlernen wollten, sich das Gesicht vom Kerl neben ihm zu merken. Er fragte sogar direkt einzelne Männer an den Cafétischen, ob sie gern solche Typen als Nachbarn hätten. Natürlich sagte keine der Angesprochenen ein Wort, alle blickten nur verlegen in ihre Getränke. Ich war damals so stolz auf Felix. Wäre er jetzt auch stolz auf mich?

    Ich schaute nach vorn. Zirka zwanzig Meter vor mir standen mehrere Männer auf dem Bürgersteig. Meine Schritte wurden ganz von selbst langsamer. Ich konnte einfach nicht ohne weiteres an Gruppen oder Grüppchen von Menschen vorbei gehen. Sie verwandelten sich sofort in gehässige Gaffer. Mehr als zwei Menschen auf einem Haufen dort wo ich unterwegs war stimulierten meinen Fluchtinstinkt, es kostet mich die Hälfte meiner Kraft, ihn niederzuhalten. Sie glotzen ja nicht nur, sie verhöhnen mich, auch ohne Worte. Jeder Blick klebte und zerrte und beging einen Striptease an mir; sie machten mich plump, picklig und lahm. Die andere Hälfte meiner Kraft brauchte ich, mich darauf zu konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht zu stolpern. Fast immer wechselte ich die Straßenseite. Das hatte ich auch diesmal vor und setzte einen Schritt seitwärts in Richtung Bordsteinkante, da stieß mich jemand grob in den Rücken, zerrte sehr heftig am Schulterriemen meiner Tasche und riss mich zu Boden. Ich wollte mich abstützen, knickte mit dem Daumen um, prallte mit der Schulter gegen etwas unverschämt Hartes, schrie auf und schürfte mit Händen und Knien über das Pflaster, es brannte fürchterlich, meine Strumpfhose war kaputt, beide Knie breit aufgerissen, Blut und Erde in der Haut bildeten ein dreckiges Geschmiere, in meinen zerkratzten Handflächen klebten kleine Kieselsteinchen. Hoffentlich ist keine Hundekacke drin, dachte ich. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Der Zug hatte nachgelassen, meine Tasche lag vor mir. Im Vierfüßerstand sah ich noch den Radfahrer fortfahren. Ich war ihm einfach im Weg gewesen. Als er mich knapp überholen wollte, war sein Lenker unter meinen Riemen geraten und hatte mich mitgezerrt. Das musste er bemerkt haben! Wahrscheinlich war es ihm schnurzegal, denn nicht mal Klingeln hatte er für nötig gehalten. Mein inneres Zittern war inzwischen so stark, dass ich fast mit den Zähnen klapperte. Die Ampel vor uns schaltete auf Rot, ich sprang auf und rannte hinterher. Keine Gaffer, niemanden anders und nichts nahm ich mehr wahr, nur kriegen wollte ich ihn. Der Radfahrer lehnte lässig an einem Laternenpfahl, die Füße auf den Pedalen. Er war ein junger Schnösel, nicht älter als ich. Er sah mich kommen und drehte den Kopf weg. Vielleicht erwartete er, dass ich ihn ansprach. Gleichzeitig mit dem Wechsel auf Grün stieß er sich ab. Ich setzte ihm nach, trat seitlich mit voller Wucht in sein rollendes Rad und schubste ihn gleichzeitig gegen seinen Oberkörper. Zu verdutzt über meinen Wutausbruch schlitterte er ohne Gegenwehr über die Straße. Ich sprintete hinterher, packte seinen Rucksack, zog den Reißverschluss auf und warf, was ich greifen konnte wild in die Gegend. Alles ging so schnell, dass ich es noch bei Grün von der Straße herunter schaffte. Der junge Mann kroch umher, um seine Sachen aufzusammeln, fluchte er vor sich hin und schrie in meine Richtung: „ So wie du aussiehst, müsstest du eigentlich nett und ganz still sein, du Brot. Wie du dich aufführst, ist wirklich das sicherste Mittel, ungefickt zu bleiben." Klar wusste ich, dass Männer gern zu dem Mittel greifen, das Äußere einer Frau herunter zu machen, weil sie uns so am besten treffen können. Trotzdem brannten mir bei diesen Sätzen die Sicherungen durch. Der Knabe ahnte nicht, wozu ich fähig war. Mit einem Sprung war ich bei ihm, trat ihm ins Kreuz und als er umfiel, stürzte ich mich auf ihn. Fast gleichzeitig riss ich seinen Kopf an den Haaren zu mir heran.

    Er wollte mich abschütteln und sich erheben, aber das gelang ihm nicht, weil ich auf ihm kniete. Ich hob mein linkes Knie und rammte mit beiden Händen sein Gesicht dagegen. Und noch einmal, und nochmal. Ich raste vor Wut. Sein Blut brachte mich zur Besinnung. Ich sah plötzlich Felix vor mir nach meiner Scherenattacke auf ihn und das viele Blut….

    Nein!!! schrie es in mir, Hilfe, was tue ich, was habe ich getan?

    Entsetzt ließ ich den Jüngling los und sprang auf, wollte wegstürzen, nur weg von hier.

    Da sah ich die Straßenbahn und lief auf sie zu.

    In dem Gewusel, das dann folgte und für mich zumeist im Dunkel lag, konnte ich mich nur noch an ein kurzes Auftauchen erinnern. Dicht über mir sagte eine Männerstimme: „Mein Gott, die Püppi gegen die Straßenbahn. Mit Brille wär das nicht passiert."

    Gegen? Ich Idiot, ich wollte doch davor laufen…..

    Kapitel 1: Gruppentherapie

    Ich war viel zu früh da, dieses Preußentum steckte mir zu tief in den Knochen. Damit war man heutzutage vollkommen unpopulär. In Zeiten der Handydauerträger mit programmierten Terminerinnerungen und Hochpräzisionsuhren gehörte es längst zum guten Ton, grundsätzlich zu spät zu kommen.

    Ich bewegte mich in Richtung des Gruppenraumes, zu schlapp für irgendeine Stimmung. In den vergangenen drei Tagen war ich jedes Mal die letzte im Fernsehraum gewesen, leider waren nicht alle Zimmer der Klinik mit einem Fernsehapparat ausgestattet. An allen Abenden hatte ich mir französische Filme angeschaut, die immer noch auf dieselbe Art gedreht wurden: ausufernde Szenen von Belanglosigkeiten, dieselben klapprigen Autos und Frisuren ohne Schnitt. Die Franzosen bringen es fertig, eine Mahlzeit mit riesigem Getue vorzubereiten, versetzen dabei eine ganze Gesellschaft in Aufregung und am Ende liegen auch nur Messer und Gabel auf dem Tisch.

    Ich ging den Stationsflur entlang. Der Gruppentherapieraum lag am hinteren Ende links, das letzte Zimmer vor einer stummen Glastür, die den Flur beendete. Gleichzeitig bildete die Wand, in der sie eingelassen war, die Außenwand des Gebäudes. Früher, bevor in das Haus eine Klinik einzog, ließ sie sich öffnen und führte direkt auf die Feuerflucht, dicht an der Hausfassade entlang, gewissermaßen als Verlängerung des Flures. Jetzt zog sich ein riesiger, zwanzig Zentimeter breiter und fünf Zentimeter dicker Stahlriegel quer über die Tür. Zusätzlich hing ein Schild davor mit dem Hinweis: kein Ausgang. Auf den Stühlen im Gang hatte ich schon öfter gewartet und dabei den Beschiss mit der Tür entdeckt. Denn nur, wer genauer hinblickte, bemerkte, dass vom alten Fluchtweg zwar das Geländer noch vorhanden war, aber nicht der Boden. Makaber. War die Warnung eine versteckte Aufforderung an die Insassen? Ich dachte an meine Mitpatienten, von denen die meisten gebückt schlurften wie die Wolgatreidler, mit dem Blick ins Leere oder nach unten, als folgten sie ausgestreuten Brotkrümeln. Es war eindeutig ein Irrtum, zu glauben, man trüge seine Probleme versteckt nach innen.

    Ich hielt diese Gedanken in meinem Tagebuch fest, das ich fast immer bei mir trug und fragte mich, ob ich bei meinem Einzug hier denselben Anblick geboten hatte. Im Tagebuch nachlesen konnte ich es nicht, leider war ich damals nicht in der Verfassung gewesen, auch nur eine Zeile zu Papier zu bringen.

    Die Station hier bestand eigentlich aus zwei Stationen, einer geschlossenen und einer offenen, die im sogenannten Wachzimmer aneinander grenzten. In diesem wurden die akuten Neuzugänge gesammelt, wo sie solange unter Kontrolle des Personals standen, bis eine Diagnose erstellt war und sie einer der beiden Stationen zugeteilt werden konnten. Wir auf der offenen Station hatten mit den wirklich harten Fällen nichts zu tun, aber über die Geschehnisse im Wachzimmer drang schon ab und zu etwas nach draußen.

    Am meisten hatte mich bisher die Geschichte von Rudi berührt, die sich kurz nach meiner Ankunft hier ereignete. Rudi war nur wenig älter als ich, aber absolut überzeugt, ein ehemaliger B52-Bomberpilot im Vietnamkrieg gewesen zu sein und das quälte ihn. Er wollte dafür büßen und zündete sich eines Tages im Waschraum selbst an. Zwar wurde er erwischt und gerettet und auf eine andere Station verlegt, bis seine Brandwunden verheilt waren, aber seine inneren Qualen blieben unbehandelt. Als er wieder bei uns auftauchte, stellte man ihn unter Dauerbeobachtung. Sogar zum Schlafen blieb eine Sitzwache an seinem Bett, um ihn an weiteren Suizidversuchen zu hindern. Aber

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