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Kein Wort davon ist wahr
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eBook317 Seiten4 Stunden

Kein Wort davon ist wahr

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Über dieses E-Book

Jess ist verwirrt. Eigentlich läuft in ihrem Leben alles ganz normal. Sie ist nicht hässlich, wohnt mit ihrem besten Freund zusammen, hat eine Arbeit die sie wenig stresst und liebt Frauen. Eigentlich! Wäre das Leben nicht so wie es ist und ihre Gedanken nicht so wirr. Und zu allem Überfluss verdreht ihr auch noch dieser blöde Typ den Kopf…
Ja, das Leben ist kompliziert und steht manchmal Kopf.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. März 2018
ISBN9783957910806
Kein Wort davon ist wahr

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    Buchvorschau

    Kein Wort davon ist wahr - Melanie Ellinghoven

    10

    1

    »Wie geht es Ihnen?«

    Man sollte nicht annehmen, dass jene simple Frage bei irgendeinem Menschen Trotz auslöst. Wenn sie dir allerdings ein bebrillter, entsetzlich sympathischer Psychotherapeut in seiner Praxis stellt, dann ist dies ein deutliches Indiz dafür, dass irgendwas in deinem Leben ziemlich schiefgelaufen ist. Dr. Birnbaum unterdessen legte das vertraute, rote Klemmbrett auf seinen Schoß und musterte mich mit gezücktem Kugelschreiber erwartungsvoll.

    »Läuft«, meinte ich vage. »Alles supi.«

    »Erzählen Sie doch mal …«, forderte er und hob seine rechte Augenbraue. Er glaubte keine Silbe von dem, was ich sagte. Glücklicherweise hielt er nicht viel von der Methode, dies laut auszusprechen. Und so plätscherten unsere Gespräche nun seit vielen Sitzungen dahin. Ich wusste, dass er wusste, dass ich log, und er wusste ebenfalls, dass ich wusste, dass er wusste, dass ich log. Zugeben wollten wir es allerdings beide nicht.

    »Da gibt’s nicht so viel zu erzählen«, entgegnete ich achselzuckend. »Ich sag ja, es läuft.«

    »Haben Sie sich die Idee mit der Selbsthilfegruppe mal durch den Kopf gehen lassen?«, wollte er wissen.

    Das Thema ließ mich automatisch genervt brummen.

    »Ich hab keinen Bock auf die Gesellschaft von so ’ner Truppe Geistesgestörter.«

    »Wieso nicht?« Er lachte über meine bockig hochgezogene Oberlippe. »Es würde Ihnen sicher helfen. Und dadurch kommen Sie unter Leute.«

    »Großartig«, schnaubte ich.

    Einer Selbsthilfegruppe beizuwohnen, hielt ich für ungefähr so intelligent, wie in irgendein zerbombtes Kriegsgebiet auszuwandern, mit der Begründung, dass die Mietpreise dort niedrig waren.

    »Es gibt eine wirklich tolle Selbsthilfegruppe in der Innenstadt«, beharrte Dr. Birnbaum. »Ich habe nur Gutes davon gehört. Das sind wirklich nette Leute.«

    »Dann gehen Sie doch hin!«, schlug ich prompt vor.

    Er lächelte nachsichtig und meinte: »Gut, treffen wir uns da?«

    Ich sah ihn eine Sekunde verdutzt an, bis mir der Sarkasmus aus seinen Augen geradewegs ins Gesicht sprang.

    »Das war ja witzig«, sagte ich mit Grabesstimme. »Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder aufhören kann, zu lachen.«

    »Nun werden Sie mal nicht zynisch. Kommen wir zum Thema zurück«, entgegnete er locker. »Wir haben ja letzte Woche abgemacht, dass Sie diese Woche jeden Tag vor die Türe gehen. Wie ist das gelaufen?«

    Richtig scheiße, dachte ich und sagte: »Gut!«

    Er verdrehte die Augen. »Jetzt vielleicht nochmal ohne Lügen?«

    »Also, am Tag unseres letzten Termins war ich ja notgedrungen draußen«, verkündete ich blasiert. »Und vorgestern war ich mit meinem Mitbewohner einkaufen.«

    »Nachdem wir also ausgemacht hatten, dass Sie jeden Tag das Haus verlassen, dachten Sie sich, Sie gehen in sieben Tagen zweimal außer Haus?«, hakte er tadelnd nach. »Die Rechnung müssen Sie mir erklären.«

    »In Mathe war ich nie gut«, witzelte ich.

    »Klasse«, er zog anerkennend die Mundwinkel nach unten, beugte sich leicht vor und sah mir in die Augen, »wenn Sie so weitermachen, können wir uns die komplette Therapie eigentlich auch sparen.«

    »Hey«, beschwerte ich mich, teils erschrocken, teils eingeschnappt. »Wer wird denn gleich bissig werden?«

    »Ich werde nicht bissig. Ich sage nur, wie es ist«, widersprach er. »Ein bisschen Mühe müssen Sie sich schon geben, Frau Kramer.«

    »Mach ich doch!«, entrüstete ich mich völlig unberechtigt.

    »Nicht genug«, er schüttelte den Kopf, »wir hatten das Thema schon so oft in den letzten Monaten. Das Beste, was Sie gegen ihre Angststörung tun können, ist, genau die Situationen aufzusuchen, vor denen Sie Angst haben. Und zwar immer wieder, bis es Gewohnheit wird. Ich verstehe, wie anstrengend das ist, aber für die Therapie ist es sehr wichtig.«

    »Jaha«, sang ich genervt dazwischen. »Ich hab’s doch langsam begriffen!«

    »Die Treffen der Selbsthilfegruppe sind donnerstags um vier. Bis zu unserem nächsten Termin ist die Aufgabe, dort aufzutauchen und …«

    »Find ich scheiße!«, warf ich ein.

    »… dann sehen wir weiter«, schloss er.

    »Ernsthaft?«, fragte ich aufrührerisch. »Ich muss da jetzt echt hin? Das ist bescheuert.«

    »Da gebe ich Ihnen Recht, Frau Kramer, das ist wirklich total bescheuert …«, nickte er, »… aber es hilft.«

    Nach der restlichen, hauptsächlich mit Schweigen verbrachten, Therapiesitzung winkte ich ihm noch einmal leidenschaftslos, bevor ich die Zimmertüre öffnete und dann mürrisch aus der Praxis schlurfte.

    Ich wollte nicht zur Selbsthilfegruppe.

    Der kurze Fußmarsch durch die Innenstadt ließ mich aufgrund irrationaler Ängste tausend Tode sterben. Ich hatte das Gefühl, jeder mir zugeworfene Blick drücke Abwertung, Überlegenheit und Spott aus. Mit jedem Schritt zitterten meine Hände mehr. Dr. Birnbaum schien seit neuestem den Plan zu verfolgen, meine Termine absichtlich auf den späten Nachmittag zu legen, wenn sozusagen alles, was Beine hat, durch die Einkaufsmeile tigert. Anstatt seinen Einfallsreichtum diesbezüglich zu bewundern, wünschte ich ihm im Augenblick lieber eine Geschlechtskrankheit an den Hals.

    Nach meinem langen, beängstigenden Weg bog ich scharf nach links ab, um eine schmale, ruhigere Nebengasse zu durchqueren. Wenige Minuten später erreichte ich endlich die vertraute Straße mit den vielen schnuckeligen Zweifamilienhäusern samt Gärten und schloss erleichtert die dunkelblau gestrichene Wohnungstüre auf.

    Als sich um halb sieben der Schlüssel im Haustürschloss drehte, gab ich vermutlich wieder ein relativ ausgeglichenes Bild ab. Ich saß mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Küchentisch und starrte geistesabwesend aus dem Fenster. Ausgeglichener ging ja wohl nicht.

    »Hast du meine Kippen geraucht?«, rief mein Mitbewohner aus dem Wohnzimmer, nachdem er geräuschvoll durch den Flur gepoltert war und seiner ungewöhnlich schlechten Laune mit einer liebevollen Sammlung an Schimpfwörtern Ausdruck verliehen hatte.

    »Ich rauche nicht mehr!«, antwortete ich desinteressiert und zog an der Zigarette, die ich aus seiner Schachtel genommen hatte. Mit »Ich rauche nicht mehr« meinte ich, dass ich mir kaum noch eigene Schachteln holte. Geklaute Kippen zählen nicht, das weiß jedes Kind.

    »Wie war dein Tag?«, Josh trug ein knallrotes, am Rücken und unter den Armen sichtlich durchgeschwitztes T-Shirt. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich seines ausgelatschten, staubigen Schuhwerks zu entledigen. Sauberkeit wurde in dieser Wohnung ganz groß geschrieben, wie der kluge Leser sofort bemerkt.

    »Alles gut«, sagte ich leichthin. »Wie war die Uni?«

    »Ich bin immer mehr der Meinung, dass Studieren doch nicht ganz das Wahre für mich ist. Vielleicht werd ich Klempner«, überlegte er mürrisch.

    »So schlimm?«, hakte ich in mitleidiger Belustigung nach, öffnete den Kühlschrank, nahm ein weiteres Bier heraus und reichte es ihm.

    »Schlimmer. Studenten sind echt das Letzte, Jess, das Letzte. Was sind das für streberische, kleine Wichser mit ihren Vorträgen und ihrer Bionade und den Dreadlocks und dem Gerede über die Besetzung eines leerstehenden Gebäudes …« Entnervt verdrehte er die Augen.

    »Hast du nicht letztes Jahr ebenfalls einer Hausbesetzung beigewohnt?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. »War da nicht was?«

    »Ach, pf …« Er tat meine Worte mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, wirkte aber kurz recht verlegen. »Und außerdem habe ich es ja damit ernst gemeint. Nicht so wie diese ganzen Wichtigtuer mit ihren reichen Eltern und Reitbeteiligungen und diesen mit Peace-Zeichen bedruckten Smartphone-Hüllen.«

    Ich blickte pikiert auf die Buttons, die seine Umhängetasche zierten. Ein Peace-Zeichen war auch dabei.

    »So, so«, schnaubte ich.

    »Und dann predigen die Dozenten uns ununterbrochen, dass wir die Elite seien, und ich sitze da, guck mich im Raum um, sehe in diese komplett intelligenzlosen Gesichter und denk mir nur: ‚Alter, du kannst denen doch nicht einreden, sie seien die Elite, am Ende glauben die den Scheiß noch.’ Und das will ja nun wirklich niemand«, schloss Josh.

    »Ach, scheiß auf die«, riet ich. »In ein paar Jahren, wenn wir durch einen unerwarteten Lottogewinn Millionäre sind, auf Gran Canaria hocken und uns durchgehend hemmungslos die Rübe wegsaufen, hat sich diese ganze Sache eh erledigt.«

    »Ich habe es bereits gesagt und ich sage es immer wieder …«, Josh musterte mich eindringlich, »… wir spielen nicht mal Lotto!«

    »Ach, wen kümmert denn solcher Kleinkram?«, konterte ich unwirsch.

    »Meinetwegen.« Er zuckte mit den Schultern, setzte sich neben mich auf die Küchentischplatte und ließ die Beine baumeln. »Wir gewinnen also im Lotto?«

    »Ganz genau.«

    Josh und ich lebten in einer von seiner Oma finanzierten, für so zwei Nichtsnutze, Schrägstrich Tunichtgute, skandalös großen Wohnung. Dies war einerseits praktisch und mir andererseits angemessen peinlich. Nach der Schulzeit fiel uns damals einfach nichts Besseres ein, als aus einem Dorf in die nächste Großstadt zu ziehen und hier nun seit knapp sechs Jahren, aus einer Art Zentrale des ultimativen Blödsinns heraus, an dem Gestalten eines normalen Lebens zu feilen. Er hatte irgendwann angefangen, zu studieren, und ich arbeitete lange aus Alternativlosigkeit in einer kleinen Bäckerei. Das würde ich vermutlich heute immer noch tun, aber die Dinge hatten sich anders entwickelt. Und zwar insofern, dass ich aus irgendwelchen bescheuerten Gründen seit geraumer Zeit eine soziale Angststörung mein Eigen nennen durfte. Seither lief alles eher ungeil.

    »Wir sollten vielleicht damit beginnen, unser Leben entsprechend zu planen«, überlegte ich laut. »Also schon mal im Internet nach schicken Häusern auf Gran Canaria suchen oder so. Man will ja vorbereitet sein.«

    Sich in andere Realitäten zu grübeln, weil die tatsächliche so beängstigend auf mich wirkte, war einfach mein Ding. Das sollte ich beruflich machen.

    »Aber eigentlich läuft doch alles gar nicht so schlecht bei uns«, räumte Josh plötzlich munter ein. Ich sah ihn an, als hielte ich ihn für geistig zurückgeblieben, was ihn wohl zum Fortfahren animierte. »Ja, okay, du bist momentan vielleicht nicht ganz auf der Höhe, aber das wird doch wieder. Du bist nur krank, das ist alles. Ein Schnupfen geht auch irgendwann wieder weg.«

    Ich hätte antworten können, dass ein banaler Schnupfen eventuell nicht der beste Vergleich war. Dass ich in alltäglichen Situationen Todesangst bekam und sich diese lächerliche Tatsache einzugestehen mir dermaßen gegen den Strich ging, dass ich abgesehen von einer Menge Scham und Wut nicht mehr viel für die eigene Person übrighatte. Die Worte lagen brennend auf meiner Zungenspitze. Und trotzdem hielt ich die Klappe, weil ich vor Josh einfach nicht zugeben konnte, wie schlimm es wirklich war. Konnte nicht, wollte nicht.

    »Wie lief eigentlich die Therapie?«, wollte er neugierig wissen.

    Nun muss ich anmerken, dass mein werter Mitbewohner unglücklicherweise und obwohl er die Sache nicht allzu ernst nahm, der Ansicht war, er hätte die Pflicht, meine Genesung zu beaufsichtigen. Ich wusste nicht, wo dieses Verantwortungsgefühl mir gegenüber herrührte. Schätzungsweise hatte er sonst keine Hobbies.

    »Ich beginne anzunehmen, dass ein Selbstmord meinerseits wesentlich witziger für alle Beteiligten gewesen wäre. Und unkomplizierter«, fügte ich bissig hinzu.

    Er warf mir mit Schmackes seine Zigarettenschachtel an den Kopf und rief: »Wer bringt sich im 21. Jahrhundert denn noch um? Das war doch schon in den Neunzigern irgendwie voll uncool.«

    »Zumindest angesichts der Tatsache …«, fuhr ich fort, »… dass Dr. Birnbaum der felsenfesten Ansicht ist, ich solle mir eine Selbsthilfegruppe suchen. Um darüber zu reden.« Dabei setzte ich das letzte Wort mit Zeige- und Mittelfinger feierlich in Anführungsstriche.

    »Ich wette, das wird super«, kicherte Josh. »Ich stell mir das voll geil vor, da mit so einem Haufen Vollpsychos zu sitzen und sich gegenseitig in Grund und Boden zu bemitleiden.«

    Für eine Sekunde gab ich mich der Hoffnungslosigkeit in meinem Inneren hin und blickte verlegen zu Boden. »Ich dachte immer, eine Therapie wäre wie in Good Will Hunting und am Ende kommt dann praktischerweise heraus, dass ich hochbegabt bin.«

    Josh musterte mich mitleidig. »Und das von jemandem, der mit der Bedienung eines Dosenöffners überfordert ist.«

    Ich ignorierte das.

    »Zumindest habe ich nicht erwartet, dass man dabei so viel über sich reden muss«, sagte ich. »Ich komme mir größtenteils vor wie bei einem Psychotest der Bravo und am Ende bin ich immer überrascht, dass Dr. Birnbaum nicht so was sagt wie: ›Herzlichen Glückwunsch, du bist der Party-Typ! Du solltest mehr auf andere eingehen, damit sie nicht denken, du seist oberflächlich.‹ Oder so’n Scheiß eben.«

    »Ich war nie der Party-Typ«, schmollte Josh.

    »Du hast ja auch die komplette Schulzeit beim Killerspiele zocken verbracht, wenn ich mich da recht entsinne«, konterte ich abschätzig.

    »Touché.«

    Was sollte das alles nützen? Es war mir doch schon vor Josh unmöglich, darüber zu reden. Ein Gespräch mit anderen Betroffenen würde ganz genauso ablaufen. Entweder ich bekam den Mund gar nicht erst auf oder nur, um beängstigende Vorgänge in meinem Kopf zu banalisieren, zu ignorieren oder eiskalt wegzulügen. Ich konnte einfach nicht anders. All das emotionale Durcheinander innerhalb meiner Schädeldecke löste seit Jahren nur verbissene, starrsinnige Ablehnung so ziemlich jeder Gefühlsregung gegenüber aus. Rationalität lag mir mehr als Emotionalität und sie fühlte sich bei weitem nicht so scheiße an. Deshalb blieb ich bei zynischer Erhabenheit. Warum auch Selbstliebe, wenn man Selbsthass kriegen kann?

    »Ehrlich gesagt halte ich das mit der Selbsthilfegruppe für eine gute Idee. Ich mein, du bist ein psychisches Wrack. Du kannst froh sein, wenn die Therapie überhaupt noch was bringt bei deinem Schatten«, sagte Josh frohen Mutes und riss mich damit aus meinen Grübeleien.

    Ich brauchte einige Sekunden für meine Antwort.

    »Danke, Josh.«

    »Ich helf, wo ich kann.«

    Und ja, ich ging echt hin. Und auch ja, es war das Grauen, vereint in zwölf Menschen, die da quasi mit Schaum vor dem Mund saßen und darauf warteten, ihren Senf dazuzugeben. Naja, eigentlich nicht. Das hatte ich mir nur so ausgemalt. Ich wäre wahrscheinlich auch wieder umgekehrt, aber Josh marschierte dicht hinter mir und trat bei jedem noch so kleinen Zögern in meine Hacken. Als ich dann endlich auf einem relativ bequemen Stuhl neben ihm platziert war, grinste er selbstzufrieden in die Runde. Ich konnte mich nicht einmal umsehen. Stattdessen starrte ich auf meine schwarz-rot karierten Stoffschuhe. Ich wollte weg, spann mir im Kopf Horrorszenarien zusammen, die niemals eintreten würden, und nahm jeden mir zugeworfenen Blick als klare Bestätigung meiner Minderwertigkeit. Im Folgenden galt es, abzuwägen, ob ich in die Handtasche meiner Sitznachbarin oder lieber gleich auf den Boden kotzen sollte.

    Abgesehen von mir war die Stimmung im Raum entspannt. Der Großteil des knapp fünfzehnköpfigen Grüppchens unterhielt sich im Plauderton über Alltägliches. Nur wenige saßen stumm wie ich auf ihren Stühlen. Keine zwei Minuten nach unserer Ankunft schwatzte Josh bereits lebhaft mit zwei älteren Damen. Ich war zu nichts anderem fähig, als mir die Unterlippe blutig zu beißen und zu atmen. Als ich Josh elend ansah, zeigte er mir breit grinsend zwei Daumen hoch.

    Im Folgenden stellte ich mich knapp vor. Danach ließen sie mich glücklicherweise erst mal in Ruhe. Ich freundete mich im Rahmen der darauffolgenden eineinhalb Stunden mit dem Gedanken an, einmal wöchentlich hier aufzutauchen, ohne je ein Wort von mir zu geben.

    »… und ich denke, ich habe das nie verwunden«, schloss Josh irgendeine rührselige Kindheitsgeschichte ab und seufzte dabei, als habe er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. Dankend nahm er eine Packung Taschentücher von der Sturzbäche weinenden Frau zu seiner Rechten entgegen, um sich anschließend die Augen zu betupfen.

    »Wie willst du in Zukunft damit umgehen?«, fragte Regina, die mir bereits im ersten Viertel dieser Sitzung aufgefallen war, weil sie sich mit ihrem Zeigefinger zwischen den Backenzähnen herumgepuhlt hatte. Diese junge Dame verstand es zweifellos, einen vortrefflichen ersten Eindruck zu hinterlassen. Josh ließ ein kleines, theatralisches Seufzen verlauten, sah Regina tapfer an und antwortete: »Ich denke, ich muss einfach lernen, damit zu leben.«

    »Ich kotz gleich«, rutschte mir zähneknirschend heraus und ich erschreckte mich selbst am meisten darüber. Ich sah gerade noch rechtzeitig auf, um das Grinsen des Typen mir gegenüber zu sehen. Prompt lief ich rot an. Man kennt das ja.

    Eine sehr lange Stunde später war mir immer noch schlecht. Diesmal allerdings, weil ich mich durchgehend über meinen Mitbewohner geärgert hatte.

    »Das war gut«, seufzte er gelöst, nachdem er sich drinnen mit Umarmungen von allen verabschiedet und dabei tatsächlich noch mehr Rührung bei unseren Mitstreitern hervorgerufen hatte. »Ich find’s voll geil hier!«

    Ich kicherte noch, während der Typ von vorhin an mir vorbeilief und »Tschüss!« sagte.

    »Hä?«, machte ich geistreich.

    »Bis nächste Woche!«, sang Josh ihm fröhlich hinterher. »Ich freu mich schon!«

    Der Typ drehte sich noch einmal zu Josh um. Sein Blick drückte nichts anderes als Missbilligung aus.

    »Das war ja eine herzzerreißende Geschichte. Deine Mutter hat also dein Meerschweinchen an deine Tante weiterverschenkt, weil du dich nicht drum gekümmert hast, und du machst daraus allen Ernstes den Grund für massive Verlustängste im Erwachsenenalter«, sagte er schnaubend. »Meinst du, du wirst das jemals verarbeiten?«

    Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht zu grinsen. Es freute mich diebisch, dass Josh auf eine solche Reaktion traf. Immerhin hielt er all das hier für einen einzigen Witz.

    »Es war ein Hase, kein Meerschweinchen«, entgegnete Josh gerade ärgerlich.

    »Machst du ernsthaft deshalb eine Therapie?«, fragte der Typ verständnislos. »Das wäre wirklich seltsam. Also noch seltsamer, meine ich.«

    »Nein, mach ich nicht«, gab Josh patzig zurück und ruckte mit dem Kopf in meine Richtung. »Ich bin wegen der da gekommen.«

    Mir fiel auf der Stelle das Grinsen vom Gesicht. Igitt, Aufmerksamkeit.

    »Und weshalb machst du ’ne Therapie?«, erkundigte sich der Typ. »Hat dein Wellensittich sich ein Bein gebrochen?«

    Leider musste ich an dieser Stelle lachen. Und das Ende vom Lied war, dass mein Mitbewohner mich zornentbrannt stehen ließ und im Weggehen noch schimpfte, ich solle doch mit dem Bus nach Hause fahren.

    »Ups«, bemerkte der Typ in die jäh entstandene Stille hinein.

    Ich seufzte genervt. Mir war gar nicht danach, Josh hinterherzurennen und bei ihm zu Kreuze zu kriechen.

    Ich sah den Kerl zum ersten Mal wirklich an, was ich bisher aus Verlegenheit vermieden hatte. Er war riesig, trug den Ansatz eines Dreitagebarts und seine fast schulterlangen, rötlich braunen Haare umrahmten das Gesicht. Er wirkte sehr sympathisch, aber ich kam nicht sofort dahinter, woran das lag. Vielleicht an den Grübchen um seinen breiten Mund oder den sanften, braunen Augen. Nichts an ihm schien bedrohlich, trotz seiner enormen Körpergröße. Obwohl ich diesen gigantischen Teddybären fürchterlich putzig fand, blieb meine Laune natürlich trotzdem mies.

    »Ich hab doch bloß Small Talk betrieben!«, wehrte er sich, als er mein Gesicht sah. »Mein Therapeut meint, das schafft Freunde?!«

    Ich sagte immer noch nichts. Meine Gedanken kreisten um die bevorstehende Busfahrt. Sich mit Sozialphobie in öffentlichen Verkehrsmitteln aufzuhalten, is no fun.

    »Kannst du überhaupt sprechen?«

    »Was soll die Frage?«, moserte ich. »Ich bin doch kein Vollidiot.«

    »Menschen, die nicht sprechen können, sind also Vollidioten?«, hakte er freundlich nach.

    »Das hab ich nicht gesagt«, widersprach ich hastig.

    »Doch, irgendwie schon.«

    Ich stieß geräuschvoll Luft zwischen meinen Lippen hervor. Mir war gerade alles peinlich. Dass ich hier wie angewurzelt stand, dass der Kerl meine Unsicherheit scheinbar mitbekam, mich aufgrund dessen vermutlich für dämlich hielt und allem voran mein rotes Gesicht.

    »Musst du jetzt echt wegen mir mit dem Bus fahren?«, fragte er verhalten.

    »Nein, ich laufe«, erwiderte ich matt und freute mich schon auf den halbstündigen Fußmarsch. Nicht! Aber Bus fahren kam nicht in Frage.

    »Ich kann dich mitnehmen«, bot er an. »Ich bin zwar depressiv, aber wenn du Glück hast, werde ich den Wagen nicht in einen entgegenkommenden Lastwagen lenken, um uns bei einem Autounfall auszulöschen.«

    »Reizend«, konterte ich trocken. »Ich weiß gar nicht, wie ich da ablehnen kann.«

    Weil er mich fortwährend erwartungsvoll ansah, steckte ich mir eine Zigarette an.

    »Also«, bohrte er nach, »sollen wir losreiten?«

    Ich hatte keinen Bock. Es galt, minutenlangem, peinlichem Schweigen irgendwie zu entrinnen. Konversationen lagen mir nicht. Nichtsdestotrotz sah ich mich plötzlich neben ihm den Bürgersteig entlangtraben. Das einzige, was mir noch peinlicher war, als mit ihm mitzufahren, wäre, sein Angebot abzulehnen.

    »Und wie heißt du?«, mir fiel echt nichts anderes ein.

    Wir saßen in seiner dunkelblauen Familienkutsche und er ließ gerade den Motor an.

    »Elliott«, sagte er.

    »Jess«, sagte ich.

    »Und?«, das freundliche Lächeln schien ihm im Gesicht zu kleben. »Wieso bist du in Therapie?«

    Diese dämliche Tatsache, dass man als zwei Besucher einer Selbsthilfegruppe scheinbar keine persönliche Distanz mehr pflegte, weil ja allen Beteiligten klar ist, wie gestört die anderen und man selbst sind. Ein Mist war das.

    »Ich bin in Therapie, weil ich meinen linken Arm hasse und den trotz völliger Funktionstüchtigkeit amputieren lassen will«, entgegnete ich todernst. »Ich hasse ihn einfach.«

    Er brauchte drei Sekunden für eine Antwort.

    »Echt jetzt?«

    »Nee, aber krass, oder?«, meinte ich. »Hab ich letztens gelesen, dass es da so einen kranken Wicht gab, der sich den Arm hat amputieren lassen, weil er ihn hasste. Wie bescheuert kann man sein?«

    Elliott warf mir einen irritierten Blick zu.

    »Lästerst du gerade allen Ernstes über die psychischen Unebenheiten anderer Menschen?«

    »Wieso denn nicht, das ist doch witzig.« Ich lachte, um souverän zu überspielen, wie peinlich mir die Situation war. »Und was hat wohl der arme, bemitleidenswerte Therapeut zu dem Kerl gesagt? Ich mein, da studierst du dir den Arsch ab, um dich dann irgendwann einem Typen gegenübersitzend vorzufinden, der vor lauter Langeweile, oder weil ihm nichts anderes einfällt, Hass auf irgendein unschuldiges Körperteil entwickelt. Findest du das nicht auch irgendwie derart geisteskrank, dass es schon wieder lustig ist?«

    »Ähm. Nee?«

    Und ich begann, restlos verlegen am Saum meines rosa-weiß gepunkteten Tanktops herumzufummeln.

    »Wieso bist du denn nun in Therapie?«, hakte er nach kurzer Stille nochmal nach.

    »Du bist echt groß. Wie groß bist du genau, sechs Meter?«

    Subtiler konnte man nicht mehr ablenken, da war ich mir sicher. Langsam dämmerte dem guten Elliott wohl, was ich hier veranstaltete. Dementsprechend nachsichtig wurde plötzlich das Lächeln auf seinem Gesicht.

    »Hach ja, Verdrängung. Wie erfrischend.«

    »Joah, das ist das einzig Wahre«, konterte ich heiter.

    »Du hättest ruhig sagen können, dass du nicht drüber reden willst«, versicherte er mir. »Ich versteh das.«

    »Ich rede doch?«, antwortete ich verärgert.

    »Schon gut«, sprach’s und wechselte endgültig das Thema. Ich war heilfroh darüber.

    Auf diese unkomplizierte Art und Weise lernte ich Elliott kennen. Wir redeten eine Menge, nur – und das lag zu 99 Prozent an mir – nie tiefgehend über unsere gestörten Rüben. Größtenteils versuchte er, ehrliche Antworten aus mir herauszukitzeln, und ich berichtete im Gegenzug von den dummen und dümmeren Dingen, die man eben manchmal so in den Nachrichten liest. Mir gefiel diese Koexistenz.

    Wir begannen dennoch irgendwann, vor oder nach den Treffen der Selbsthilfegruppe etwas trinken zu gehen und mehr als nur Blödsinn in unsere Konversationen einfließen zu lassen. Und eines schönen Donnerstags fand ich mich ihm gegenüber in einem Café wieder und sah mir selbst dabei zu, wie ich sagte: »Ich denke, ich bin mindestens so kaputt im Kopp wie der Depp

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