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Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen
Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen
Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen
eBook346 Seiten4 Stunden

Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen

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Über dieses E-Book

Hörst du es? Das Knacken und Rascheln in der Dunkelheit, das einsetzt, sobald du das Licht gelöscht hast? Rede dir ein, dass es ganz harmlos ist, doch Ada weiß es besser.
Denn vor vierzig Jahren, als dem Kindermädchen einer ihrer Schützlinge abhandenkam, ist sie ihnen begegnet: den vergessenen Kreaturen, die zwischen den Wänden lauern.
Ausgerechnet in dem Haus, in dem das Unglück damals geschah, verschwindet jetzt erneut ein kleiner Junge und dieses Mal will Ada bis an ihre Grenzen gehen, um das Kind zu retten. Doch manche Geheimnisse sträuben sich dagegen, gänzlich gelüftet zu werden.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Jan. 2020
ISBN9783038961147
Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen

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    Buchvorschau

    Ada (Band 1) - Miriam Rademacher

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    Informationen zum Buch

    Impressum

    Widmung

    Kapitel 1 - Ein Ende und ein Anfang

    Kapitel 2 - Fragen über Fragen

    Kapitel 3 - Misstrauen und Vertrauen

    Kapitel 4 - Aufwachen und Einschlafen

    Kapitel 5 - Geheimnisse

    Kapitel 6 - Freunde und Helfer

    Kapitel 7 - Reden ist Silber Schweigen ist Gold

    Kapitel 8 - Sichtbares und Unsichtbares

    Kapitel 9 - Auswege und Einlässe

    Kapitel 10 - Ausbrecher und Eindringlinge

    Kapitel 11 - Von Katzen und anderen Haustieren

    Kapitel 12 - Wahl der Waffen

    Kapitel 13 - Risiken und Nebenwirkungen

    Kapitel 14 - Große Hoffnungen und große Enttäuschungen

    Kapitel 15 - Wer bist du und was bist du?

    Kapitel 16 - Aus Kindern werden Monster

    Kapitel 17 - Blut und keine Tränen

    Kapitel 18 - Ein anderes Leben

    Kapitel 19 - Vorratskammern

    Kapitel 20 - Sieg und Niederlage

    Kapitel 21 - Abschiede

    Dank

    Miriam Rademacher

    Ada

    Band 1: Die vergessenen Kreaturen

    Fantasy

    Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen

    Hörst du es? Das Knacken und Rascheln in der Dunkelheit, das einsetzt, sobald du das Licht gelöscht hast? Rede dir ein, dass es ganz harmlos ist, doch Ada weiß es besser.

    Denn vor vierzig Jahren, als dem Kindermädchen einer ihrer Schützlinge abhandenkam, ist sie ihnen begegnet: den vergessenen Kreaturen, die zwischen den Wänden lauern.

    Ausgerechnet in dem Haus, in dem das Unglück damals geschah, verschwindet jetzt erneut ein kleiner Junge und dieses Mal will Ada bis an ihre Grenzen gehen, um das Kind zu retten. Doch manche Geheimnisse sträuben sich dagegen, gänzlich gelüftet zu werden

    Die Autorin

    Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

    www.sternensand-verlag.ch

    info@sternensand-verlag.ch

    1. Auflage, Januar 2020

    © Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2020

    Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

    Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

    Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

    Satz: Sternensand Verlag GmbH

    ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-113-0

    ISBN (epub): 978-3-03896-114-7

    Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

    Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Für Emilia.

    Weil sie diese Geschichte schon immer ganz besonders gemocht hat. Vielleicht wird sie eines Tages ja doch noch verfilmt. ;-)

    Kapitel 1 - Ein Ende und ein Anfang

    August 2019

    ADA

    Vor ihr erstreckte sich ein langer Flur, in dem es nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel stank. Grelles Neonlicht ließ die weißen Bodenfliesen glänzen. Ebenso weiß waren die Wände und die Gitter vor den Fenstern. Nie zuvor war Ada an einem so weißen Ort gewesen, und sie fühlte, dass dies kein guter war.

    Von hinten umklammerten zwei paar Hände ihre Arme und schoben sie vorwärts. Ada hätte sich gewünscht, die Gesichter, die zu den Händen gehörten, sehen zu können, aber sie blieben stets einen halben Schritt hinter ihr und für eine Drehung des Kopfes schmerzte selbiger noch zu sehr.

    Sie war diesen Leuten nicht böse. Sie wusste genau, dass sie nur ihren Job machten, aber Ada verlor hier in dieser befremdlichen Klinik wertvolle Zeit. Denn das Kind war ihr gestohlen worden und sie musste es unter allen Umständen zurückbekommen. Dieses Mal wollte sie schneller sein.

    Hinter sich hörte sie jetzt eine aufgeregte und zornige Stimme, die sie ohne Probleme zuordnen konnte. Sie gehörte dem kettenrauchenden Polizisten, der in der vergangenen Stunde unentwegt auf sie eingeredet hatte. Den konnte sie nicht besonders leiden. Seine Dummheit hatte sie hierhergebracht. Ohne ihn könnte sie jetzt schon hinter den Wänden sein, um nach Paul zu suchen.

    »Sie wollen diese Frau jetzt nicht einfach zu Bett bringen, oder?«, hörte sie ihn protestieren. »Ein Kind ist verschwunden. Es schwebt vielleicht in Lebensgefahr! Und so wie die Dinge liegen, ist diese alte Schachtel der einzige Mensch, der uns etwas darüber sagen kann. Ich hatte gehofft, Sie würden mir helfen, sie endlich zum Reden zu bringen.«

    ›Alte Schachtel‹ hatte er sie genannt. Er war also nicht nur dumm, sondern auch ungezogen, dieser Polizist. Aber in einem Punkt hatte er recht: Ada war die Einzige, die ihm etwas über den Verbleib des Kindes hätte sagen können. Doch was für einen Nutzen hatte Wissen, wenn einem niemand glaubte?

    Eine zweite Stimme erklang und aus dem Augenwinkel entdeckte sie einen gut aussehenden Mann, der neben ihr herlief: groß, hager, ein wenig kurzsichtig hinter seinen runden Brillengläsern und fast so alt wie sie selbst. »Jetzt hören Sie mir mal zur Abwechslung zu, Herr Inspektor: Diese Dame ist nun meine Patientin.« Er machte einen strengen und zugleich besorgten Eindruck auf sie. »Es geht ihr offensichtlich nicht gut«, fuhr er fort. »Und meine Aufgabe ist es, ihr zu helfen. Ihre Ermittlungen werden ein paar Stunden ohne ihre Hilfe auskommen müssen.«

    Ada hätte gelächelt, wenn ihre Lage ein wenig rosiger gewesen wäre. Dieser Doktor gefiel ihr. Er schien die Leitung dieses beängstigend weißen Ortes innezuhaben. Leider würde auch er ihr kein Wort glauben.

    »Es könnte für das Kind aber zu spät sein, wenn die Alte aus einem künstlich herbeigeführten Nickerchen wieder erwacht«, hörte sie die eindringliche Stimme des Polizisten. »Wollen Sie diese Schuld auf sich laden?«

    Ada pflichtete ihm stumm bei, diese Gefahr bestand tatsächlich. Und viel lieber hätte sie sich jetzt selbst auf die Suche nach dem Jungen gemacht, anstatt sich einem Beruhigungsmittel zu ergeben.

    Doch leider war das, was sie wollte, an einem Ort wie diesem vollkommen irrelevant. Sich kooperativ zu zeigen und diesen Leuten die Wahrheit anzuvertrauen, hätte sie nur noch tiefer in Schwierigkeiten hineingeritten, in denen sie ohnehin schon steckte.

    Die Stimme des netten Doktors klang verärgert, als er dem Polizisten jetzt antwortete: »Diese Frau weigert sich derzeit, mit irgendjemandem zu sprechen. Sie wurde völlig verstört und leicht verletzt im verwüsteten Vorgarten eines nicht minder beschädigten Hauses aufgefunden, und alles deutet darauf hin, dass diese Frau die Verursacherin der Schäden ist. Eine Ersthelferin aus der Nachbarschaft, die ihre Schrammen versorgen wollte, wurde von ihr angegriffen, und dann ist diese Dame hier auch noch mit der Tür eines Streifenwagens kollidiert, weil sie aufgebracht war und den Ort des Geschehens nicht verlassen wollte. Auch hier hat sie sich erst mal gegen alles und jeden zur Wehr gesetzt. Sie stellt derzeit eine Gefahr für fremdes Eigentum und sich selbst dar. Deswegen wurde sie auch in die Psychiatrie eingeliefert. In diesem Zustand kann sie Ihnen gar keine Hilfe sein. Gönnen wir ihr einfach etwas Ruhe, und morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.«

    »Morgen ist mir aber zu spät und den Eltern des Kindes auch!« Der Polizist war inzwischen so wütend, dass Ada glaubte, er bräuchte eine Beruhigungsspritze nötiger als sie. Doch das behielt sie klugerweise für sich. »Seit besagte Ersthelferin meine Leute gerufen hat, ist diese Frau hier abwechselnd apathisch und dann wieder wehrhaft und unberechenbar. Sie sagt, dass sie zurück in das demolierte Haus will, aber nicht, warum. Und solange ich nicht weiß, wo das Kind abgeblieben ist, werde ich sie nicht in Ruhe lassen.«

    »Oh doch, das werden Sie«, erwiderte der Arzt gelassen. »Zumindest bis morgen früh.«

    Der darauffolgende unterdrückte Wutschrei des Ermittlers entlockte Ada ein flüchtiges Grinsen, da wurden ihre Schritte unvermittelt durch die Hände ihrer Begleiter gebremst. Sie hatten eine Tür erreicht, die jetzt für sie geöffnet wurde. Dahinter lag ein Raum mit vergitterten Fenstern und einem schlichten Krankenhausbett.

    Ob es hier Überwachungskameras gab? Sicher würde man sie in den nächsten Stunden nicht aus den Augen lassen. Schließlich zweifelte man an ihrem Verstand, was, wie sie sich eingestehen musste, ihre eigene Schuld war. Doch hatte sie eine Wahl gehabt? Schweigen war das Klügste, das sie jetzt noch tun konnte. Schweigen und überlegen, wie sie wieder von hier fortkam.

    Während sie zu dem nicht gerade bequem wirkenden Bett geführt wurde, gab der Polizist in ihrem Rücken noch immer nicht auf. »Morgen sieht alles anders aus, meinen Sie?«, wiederholte er entrüstet. »Was, wenn es dann noch schlimmer geworden ist? Was, wenn der Junge in der Zwischenzeit stirbt? Oder wenn er einfach nie wieder auftaucht? Sie wissen doch ganz genau, wer sie ist. Das ist nicht das erste Kind, das in ihrer Obhut verloren ging. Hören Sie, dieser Paul Dreyer ist erst anderthalb Jahre alt. Anderthalb Jahre! Wissen Sie, was seine Eltern gerade durchmachen?«

    Ada konnte es sich vorstellen und vermutete, dass es dem Arzt auch so ging. Und ein weiteres Mal verfluchte sie stumm die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Hätte diese übereifrige Nachbarin sie nicht einfach in Ruhe lassen können? Ada hatte weiß Gott nicht um Hilfe oder die Polizei gebeten.

    »Dann schlage ich vor, dass Sie nun dieses Krankenzimmer verlassen und unverzüglich mit der Suche nach dem Jungen beginnen.« Der Arzt klang jetzt genauso ärgerlich wie der Polizist. »Hier ist er nicht, und Antworten haben Sie auch keine bekommen, also suchen Sie bitte woanders und verschwenden Sie nicht länger Ihre Zeit!«

    Eines der Händepaare, die sie hierhergebracht hatten, drückte sie jetzt sanft auf das Bett und zog ihr die Pantoffeln von den Füßen, während das andere Lederriemen um ihre Handgelenke schnallte.

    »Das ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, Miss Lippnik.« Es war die Stimme des Arztes, die diese wenig beruhigenden Worte sprach. »Sobald wir uns davon überzeugt haben, dass Sie keine Gefahr für sich selbst sind, machen wir die wieder los.«

    Reflexartig begann Ada, sich wieder zu wehren, doch es war sinnlos. Die Besitzer der Hände, zwei kräftige Männer, setzten sich wortlos und erfolgreich gegen ihren Widerstand durch. Sie konnte nichts anderes mehr tun, als sich ihrem Schicksal zu ergeben.

    Ada schloss die Augen, um die Spritze in der Hand des netten Doktors nicht sehen zu müssen, und fühlte schon die kühle Feuchtigkeit des Desinfektionsmittels in ihrer Armbeuge. Gleich darauf folgte der Einstich.

    Einer der Männer beugte sich über sie und sprach sie an. Sein Atem roch nach Pfefferminz und Zwiebeln. »Ada? Können Sie mich hören? Es ist alles in Ordnung. Sie werden jetzt ein wenig schlafen und sich ausruhen. Neben Ihrer rechten Hand liegt ein Klingelknopf an einer Schnur. Wenn Sie Hilfe brauchen, drücken Sie kräftig drauf, ja?«

    Sie reagierte nicht auf die Worte. Da war eine bleierne Müdigkeit, die langsam von ihr Besitz ergreifen wollte. Die Erinnerung an die Ereignisse des Abends schienen plötzlich weit weg.

    Ja, ein wenig Schlaf würde ihr guttun. Sie konnte auch später ausbrechen und mit ihrer Suche beginnen.

    Noch einmal vernahm sie die aufgeregte Stimme des Polizisten. »Herr Doktor, dies ist nicht irgendeine alte Frau. Dies ist Ada Lippnik, das berüchtigte Kindermädchen. Es ist das zweite Mal, dass ihr ein Kind abhandengekommen ist. Und das erste wurde niemals wiedergefunden.«

    »Ein Grund mehr, dass sie eine Weile in meiner Obhut bleibt, finden Sie nicht?«, erwiderte der nette Arzt. »Wir werden Miss Ada Lippnik sicher verwahren und herausfinden, wie gefährlich sie wirklich ist.«

    Ada dachte noch kurz, dass sie sehr wohl gefährlich sein konnte, wenn es drauf ankam, dann spülte eine schwarze Woge ihr Bewusstsein davon.

    August 1979 (vor vierzig Jahren)

    ADA

    »Bist du mein neues Kindermädchen?«, hörte sie eine hohe Kinderstimme fragen.

    Ada blickte sich suchend um, konnte aber nicht ausmachen, woher die Worte gekommen waren. Das Büro, in dem sie augenscheinlich ganz allein saß, um auf ihren potenziellen Arbeitgeber zu warten, schien menschenleer zu sein.

    »Ich mag deinen Hut«, ergänzte die Stimme.

    Ada fasste sich instinktiv an das kecke blaue Hütchen auf ihrem Scheitel. Sie hatte es sich von ihrem letzten Bargeld gekauft. Sollte sie diese Stelle auch nicht bekommen, würde sie bis zum Monatsende von Tütensuppe leben müssen.

    Noch immer war sie unsicher, woher die Stimme kam, aber nach dem Ausschlussprinzip bot der Raum, dessen Wände größtenteils mit hohen Bücherregalen zugestellt waren, nur eine einzige Versteckmöglichkeit. Ada zögerte einen kurzen Moment lang, dann ließ sie sich vom Stuhl gleiten, kniete sich in ihrem besten blauen Kostüm auf den orientalischen Teppich und spähte unter den Schreibtisch.

    Es handelte sich dabei um ein spätviktorianisches Monstrum, das diesem Raum seinen Stempel aufdrückte. Er erweckte den Eindruck, als wären an ihm schon literarische Werke von großer Bedeutung verfasst worden, doch das niedliche Geschöpf, das Ada nun unter der Tischplatte erspähte, hatte nichts Nobles an sich.

    Es war ein Mädchen von etwa fünf Jahren. Die Knie der Kleinen waren zerschrammt, das kurze Kleidchen verdreckt und ihre schwarzen Zöpfe in Auflösung begriffen. Als sie lachte, sah Ada, dass dem Kind beide Schneidezähne fehlten.

    Ada versuchte eine möglichst würdevolle Position einzunehmen, hockte sich auf ihre Unterschenkel und machte ein ernstes Gesicht. »Guten Tag. Mein Name ist Ada. Ich bin hier, um deine Erzieherin zu werden oder auch deine Lehrerin, ganz wie gewünscht. Aber vielleicht könnten wir beide ja auch Freundinnen werden. Meinst du, dass du eine Freundin wie mich brauchen kannst?«

    Die Kleine blickte genauso ernst zurück und musterte sie aus großen grünen Augen. Dabei legte sie den Kopf schief und kaute mit den Eckzähnen auf ihrer Unterlippe. »Du kannst keine Lehrerin sein, du bist viel zu jung.«

    Ada holte tief Luft. Vor genau diesen Worten hatte sie sich gefürchtet. Allerdings war sie davon ausgegangen, diese von dem Vater des Kindes zu hören.

    Sie war in der Tat noch sehr jung. Erst zweiundzwanzig Jahre alt. Doch sie war klug und begabt und wie ein Wirbelwind durch ihre eigene Schul- und Lehrzeit gefegt. Sie war jetzt eine Erzieherin, ausgebildet an einer der besten Schulen des Landes. Und sie fühlte sich dieser Aufgabe gewachsen.

    Während Ada noch an einer passenden Antwort herumformulierte, bemerkte die Kleine: »Du hast ein lustiges Gesicht.«

    Auch das stimmte. Ada schielte ein wenig, und Wangen und Stirn waren über und über mit Sommersprossen gesprenkelt. Ihr schicker Kurzhaarschnitt erstrahlte in einem feurigen Rot.

    Sie schnitt eine Grimasse. »Ich finde dein Gesicht auch lustig. Besonders wenn du lachst.«

    Die Kleine zog beleidigt die Oberlippe über ihre Zahnlücke. »Ich bekomme bald neue Zähne«, nuschelte sie.

    »Und es werden die allerschönsten sein«, beteuerte Ada, was die Kleine noch einmal strahlen ließ, bevor sie den Mund hastig wieder schloss.

    Als Ada ein Räuspern hinter sich vernahm, sprang sie auf, als wäre ein Schuss gefallen. Sie wirbelte herum und sah sich einem schlanken Mann mit Halbglatze und Hornbrille gegenüber, der einen teuer aussehenden Rollkragenpullover trug. Er strahlte so viel Ernst und Würde aus, dass sich Ada sofort sehr klein, sehr jung und sehr unerfahren vorkam.

    Sie schob sich das Haar hinter die Ohren und senkte den Blick, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. »Ich bin Ada Lippnik. Ihre Köchin ließ mich ein. Wir haben einen Termin für ein Vorstellungsgespräch.«

    Einen kurzen Moment lang schien ihr Gegenüber Schwierigkeiten zu haben, sich zu erinnern. Dann aber leuchteten seine Augen auf. »Oh, Miss Lippnik, jetzt weiß ich es wieder. Schön, dass Sie gekommen sind. Haben Sie eine Schwäche für orientalische Teppiche?«

    Ratlos sah sie ihm ins Gesicht.

    »Oder war es mein Schreibtisch, dessen Schönheit Sie in die Knie zwang? Na, ist ja auch egal. Jetzt stehen Sie wieder und sollten sich setzen.«

    Noch während sie auf dem bereitstehenden Stuhl erneut Platz nahm, erholte sich Ada von ihrer Verwirrung und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, warum er sie auf dem Boden kniend angetroffen hatte, als der Mann auch schon weitersprach.

    »Ich bin Martin Holt. Und es ist richtig, dass ich eine Dame suche, die mit Kindern umzugehen weiß.« Mit diesen Worten ließ er sich in den klobigen Ledersessel auf der anderen Seite des Tisches fallen.

    Ada rechnete damit, dass er das Mädchen unter dem Tisch nun selbst entdecken würde, doch dies geschah nicht. Die Kleine verhielt sich mucksmäuschenstill.

    Ada hatte das Gefühl, einen schlechten Start hinzulegen, wenn sie das Mädchen verriet. Also schwieg sie, öffnete ihre mitgebrachte Aktentasche und reichte Martin Holt ihre Zeugnisse, auf denen die Tinte kaum getrocknet zu sein schien.

    Lächelnd nahm er sie entgegen, warf aber nur einen flüchtigen Blick darauf. Sein Hauptinteresse lag wohl auf ihr als Person.

    »Sie sind also ein ausgebildetes Kindermädchen, Miss Lippnik?«

    Ada nickte. So konnte man es auch sagen.

    Er legte beide Unterarme auf die Tischplatte, beugte sich vor und sah ihr direkt in die Augen. »Ich bin mir sicher, dass Sie hervorragende Zeugnisse mitbringen. Sie scheinen mir eine aufgeweckte und zielstrebige junge Frau zu sein.«

    »Danke, Mister Holt«, antwortete Ada und wartete auf das große Aber. Und da kam es auch schon.

    »Aber Sie sind noch sehr jung.« Er lehnte sich im Sessel zurück und sein Blick bekam etwas Abschätzendes. »Und jetzt, da Sie hier vor mir sitzen, darf ich Ihnen sagen, Sie sehen sogar noch jünger aus, als Sie tatsächlich sind.«

    Ada wusste, dass es nicht als Kompliment gemeint war. Sie drückte das Kreuz durch und streckte ihr Kinn hoch, um ein wenig größer zu wirken, als sie war. »Mister Holt, ich habe, wie Sie bereits bemerkten, hervorragende Zeugnisse und bin bestens auf meine Aufgabe vorbereitet. Ich werde auch in fünf Jahren noch klein und zierlich sein, denn ich wachse nicht mehr. Doch wenn Sie mir eine Chance geben, könnte ich vielleicht an Erfahrung wachsen, meinen Sie nicht?«

    »Zweifellos.« Er schien amüsiert und wirkte nun etwas entspannter auf sie.

    Ada atmete noch einmal auf. Die erste Hürde war genommen. Sie war ihm sympathisch. Damit war sie dicht dran, die erste Anstellung ihres Lebens zu ergattern. Jetzt durfte sie es nicht vermasseln.

    »Haben Sie zuvor schon einmal mit kleinen Kindern gearbeitet, Miss Lippnik? Ich spreche von Kindern im Vorschulalter?«, lautete seine nächste Frage.

    »Ich habe zwei jüngere Schwestern. Mich um sie zu kümmern, gehörte vom Tag ihrer Geburt an zu meinen Aufgaben. Unsere Mutter kränkelte häufig. Sie sehen, ich habe schon vor Beginn meiner Ausbildung reichlich praktische Erfahrungen sammeln dürfen«, gab sie zur Antwort.

    Schon wieder gepunktet. Ihr Gegenüber blickte zufrieden drein.

    »Meine Tochter wächst völlig ohne Mutter auf. Ich bin Witwer.« Er machte eine kleine Pause und schien eine Reaktion von ihr zu erwarten.

    Ada murmelte ein paar Worte des Bedauerns, die er mit einem Nicken quittierte.

    »Ich erzähle Ihnen das, damit Ihnen bewusst wird, dass das Kind eine große Anhänglichkeit entwickeln könnte. Ich würde es also begrüßen, wenn Sie sich für länger vertraglich binden würden.« Er lehnte sich in seinem Sessel vor und blickte sie forschend an. »Wenn Sie allerdings planen, in Kürze eine eigene Familie zu gründen, was Ihnen natürlich freisteht, dann wäre dieser Arbeitsplatz wohl nicht der richtige für Sie.«

    Ada schüttelte hastig den Kopf. »Derartige Pläne existieren nicht. Wenn wir uns einig werden, brauchen Sie nicht zu fürchten, mich bald wieder zu verlieren.«

    Mr Holt musterte ihr Gesicht und schien nicht ganz überzeugt. Doch dann wechselte er das Thema. »Meine Tochter Valerie ist jetzt fünf Jahre alt. Ich würde sie gern bald auf eine staatliche Schule schicken, wenn ich der Meinung bin, das Kind wäre reif dafür. Aber Valerie hat den Tod ihrer Mutter nicht gut verkraftet. Ihre Fantasie, Miss Lippnik, schlägt Purzelbäume. Sie erfindet ständig Sachen, die es nicht gibt, spielt ihren Mitmenschen hässliche Streiche, stiehlt manchmal Kleinigkeiten. Sie werden Geduld mit ihr haben, aber auch streng sein müssen. Die Kleine schleicht überall herum, steckt ihre Nase in alles und kennt keine Disziplin.«

    Unter dem Schreibtisch erklang ein verärgertes Schnauben.

    Ada täuschte hastig ein Hüsteln vor und fragte dann laut: »Sie sind sich sicher, dass das Kind lügt und stiehlt? Vielleicht handelt es sich auch um Missverständnisse.«

    Mister Holt lächelte gnädig und faltete die Hände über dem Bauch. »Glauben Sie mir. Valerie lügt so unglaublich schlecht, dass einfach jeder Erwachsene sie durchschaut. Sie weiß genau, dass sie lügt.«

    Wieder schnaubte es leise unter dem Schreibtisch.

    Ada klatschte spontan in die Hände und rief: »Sie haben hier ein so traumhaft schönes Anwesen. Es fiel mir gleich auf, als ich durch Ihre Pforte trat. Wollen Sie mir nicht bei einem Spaziergang durch Ihren Garten mehr von Valerie erzählen? Es ist ein so herrlicher Tag.«

    »Aber gern«, erwiderte Mister Holt, der ein wenig überrumpelt schien, sich aber rasch erhob und ihr galant einen Arm anbot.

    Als Ada an seiner Seite das Büro verließ, warf sie noch einen Blick über die Schulter und sah, wie das Mädchen aus seinem Versteck gekrabbelt kam. Sie zwinkerten einander verschwörerisch zu, dann schloss sich die Tür zwischen ihnen.

    Ada fühlte sich sogleich etwas unwohl. Hier im Hause schien es mindestens zwei Fronten zu geben und sie hatte sich soeben spontan auf Valeries Seite geschlagen. Aber sollte ihre Loyalität nicht eigentlich ihrem Arbeitgeber gelten?

    Kapitel 2 - Fragen über Fragen

    August 2019

    ADA

    »Ada? Ada, sind Sie wach?« Die fremde Stimme einer Frau drang an ihr Ohr.

    Ada war sich nicht sicher, ob sie wach war. Sie fühlte sich seltsam träge, so als ob ihr Körper nicht ihr eigener wäre. Doch dann spürte sie, wie jemand an ihrem Arm rüttelte.

    Nur mit Mühe konnte sie die Lider heben. Der weiße Raum um sie herum wurde nun vom Tageslicht und nicht mehr von Neonröhren erhellt.

    »Ada, Sie müssen jetzt aufwachen. Da sind eine Menge Leute gekommen, die mit Ihnen sprechen wollen. Es geht um das verschwundene Kind.«

    Die Stimme sprach ruhig und eindringlich und sie schien einem freundlichen Wesen zu gehören. Freundlicher als jene beiden Männer, die sie kurz zuvor ins Bett verfrachtet hatten.

    Kurz zuvor? Ada fuhr hoch, wurde aber von den Lederriemen an ihren Handgelenken zurückgehalten. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, konnte es etwa schon zu viel sein, um Paul zu retten?

    Ada spürte das Adrenalin in ihrem Kreislauf brodeln. Je länger es andauerte, umso mehr verschlechterten sich die Chancen des Kindes auf eine Rückkehr zu seiner Familie.

    »Ada?« Eine Spur von Besorgnis mischte sich in die Stimme der fremden Frau. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

    Ada nickte, schüttelte dann den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und schluckte einige Male trocken. Ihr Hals fühlte sich rau und entzündet an.

    Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass ihr jemand ein Glas Wasser angeboten hatte. Und die junge Krankenschwester an ihrem Bett hatte augenscheinlich auch nicht an etwas so Gewöhnliches wie Wasser gedacht. Sie hielt Adas Hand, die noch immer ans Bett gefesselt war, und sah sorgenvoll auf sie herab.

    Ada sah ein, dass sie ihr beharrliches Schweigen vom Vorabend aufgeben musste, wenn sie nicht vertrocknen wollte. »Ich bin wach, Kindchen«, murmelte sie heiser und räusperte sich. »Könnte ich bitte etwas zu trinken bekommen, ehe ich vor das Tribunal gebracht werde?«

    DOKTOR WARNING

    Im Büro des Psychiaters Dr. Warning war es an diesem Augustmorgen sehr eng geworden. Der penetrante Kommissar, der ihm schon am Abend zuvor auf den Wecker gefallen war, hatte bei seinem Eintreffen nicht nur zwei Assistenten, sondern auch die Eltern des vermissten Jungen im Schlepptau gehabt.

    Der Vater des Kindes, ein rotgesichtiger Riese mit eng beieinanderstehenden Augen, lief unruhig im Zimmer auf und ab und unterbrach Warnings Ausführungen immer wieder mit wütenden Zwischenrufen.

    Die Mutter hingegen saß still und blass in ihrem Stuhl und sprach von sich aus kein Wort. Sie mochte bereits Mitte vierzig sein, kleidete sich nach der neuesten Mode und hatte ihr schwarzes Haar sogar an einem Morgen wie diesem sorgfältig frisiert. Eine späte Mutter, die nun ihr einziges Kind vermisste. Warning empfand Mitleid mit ihr.

    Der Kommissar, der gemeinsam mit seinen Assistenten an der Wand nahe der Zimmertür Posten bezogen hatte, entpuppte sich zunehmend als echte Plage. Er kommentierte die Zwischenrufe des Vaters mit überflüssigen Bemerkungen, was es für Warning nicht leichter machte, mit irgendeinem der Anwesenden ein vernünftiges Gespräch zu führen.

    Es reizte ihn immer

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