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Winterstern
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eBook313 Seiten3 Stunden

Winterstern

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Über dieses E-Book

Was ist ein Winterstern? Ein magisches Artefakt? Ein verwunschener Ort? Eine verzauberte Person? Oder etwas, das gar nicht greifbar ist? Lasst euch in fremde Welten entführen, lernt fantastische Legenden kennen, kämpft für die Gerechtigkeit, Liebe oder Freiheit, erlangt Ruhm und Ehre, erfahrt, was wirklich zählt im Leben. Dies ist eine Fantasy-Anthologie, die euch zum Lachen, Lieben, Gruseln, Träumen, Hoffen und Bangen einlädt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Feb. 2017
ISBN9783961640669
Winterstern

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    Buchvorschau

    Winterstern - C. M. Spoerri

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    Impressum

    Vorwort

    Jasmin Aurel – Gewispert

    Jamie L. Farley – Verloren

    Tara Florents – Entflammt

    Christina Krüger – Schneeweiß

    Juliane Maibach – Windstill

    Regina Meißner – Vergangen

    Anne Neuschwander – Allein

    Janine Prediger – Bleich

    Madeleine Puljic – Erwählt

    Miriam Rademacher – Ahnungslos

    Veronika Rothe – Ganz

    Maya Shepherd – Vereist

    Nele Sickel – Getäuscht

    C. M. Spoerri – Selbstlos

    Henrik Sturmbluth – Ruhmreich

    Sabrina Weisensee – Hölzern

    Dank

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    Jasmin Aurel, Jamie L. Farley, Tara Florents, Christina Krüger, Juliane Maibach, Regina Meißner, Anne Neuschwander, Janine Prediger, Madeleine Puljid, Miriam Rademacher, Veronika Rothe, Maya Shepherd, Nele Sickel, C. M. Spoerri (Hrsg.), Henrik Sturmbluth, Sabrina Weisensee

    Winterstern

    (Anthologie)

    Fantasy

    www.sternensand-verlag.ch

    info@sternensand-verlag.ch

    1. Auflage, Februar 2017

    © Sternensand-Verlag GmbH, Zürich 2017

    Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski | www.kopainskiartwork.de

    Lektorat / Korrektorat: Martina König | Sternensand Verlag GmbH

    Titelillustrationen: lolo2013| fotolia.de

    Illustrationen Seitenränder: Cattallina | fotolia.de

    Illustrationen Geschichtenende: lolo2013| fotolia.de

    Illustrationen Autorenbilder: lolo2013| fotolia.de

    Satz: Sternensand Verlag GmbH

    Satz: Sternensand Verlag GmbH

    ISBN (Taschenbuch): 978-3-906829-32-6

    ISBN (epub): 978-3-906829-33-3

    Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

    Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Vorwort

    Diese Anthologie wurde anlässlich eines Schreibwettbewerbs zum Thema ›Winterstern‹ verfasst. Zahlreiche Autoren haben sich von dem Begriff inspirieren lassen. Entstanden sind zauberhafte Kurzgeschichten, die die Leser in mystische, magische, gruselige und romantische Welten entführen. Sie spiegeln nicht nur die unzähligen Interpretationsmöglichkeiten eines Wortes wider, sondern auch die unterschiedlichen Persönlichkeiten, Vorlieben, Leidenschaften und Fantasien unserer Autorinnen und Autoren.

    Aus über 160 eingereichten Kurzgeschichten ist es uns gelungen, einen schönen, abwechslungsreichen Fantasy-Mix zusammenzustellen. Ich bin sicher, dass für jeden Geschmack etwas dabei sein wird und schöne Lesestunden auf euch warten.

    Viel Vergnügen mit ›Winterstern‹ wünscht

    Corinne Spörri (Herausgeberin)

    Übersicht über die mitwirkenden Autoren:

    Jasmin Aurel - Gewispert

    Jamie L. Farley - Verloren

    Tara Florents - Entflammt

    Christina Krüger - Schneeweiß

    Juliane Maibach - Windstill

    Regina Meißner - Vergangen

    Anne Neuschwander - Allein

    Janine Prediger - Bleich

    Madeleine Puljic - Erwählt

    Miriam Rademacher - Ahnungslos

    Veronika Rothe - Ganz

    Maya Shepherd - Vereist

    Nele Sickel - Getäuscht

    C. M. Spoerri - Selbstlos

    Henrik Sturmbluth - Ruhmreich

    Sabrina Weisensee - Hölzern

    Jasmin Aurel – Gewispert

    Über die Geschichte:

    Als Ethan im Kaminzimmer seines guten Freundes Gabriel einschläft, hat er eine unheimliche Begegnung.

    London, 1893

    Es war einer dieser düsteren Tage im Februar, an denen der Winter nie zu enden schien.

    Ich war zu jener Zeit bei Gabriel zu Gast, einem meiner engsten Freunde seit Kindertagen. Er war Musiker und wie stets nach dem Abendessen ließen wir uns in seinem Musikzimmer nieder, er am Klavier, ich vor dem Kamin.

    Wir tranken ein Glas Wein und ich rutschte tiefer in den Sessel. Gabriels Diener Adrian reichte Tee.

    Die zarte Melodie des Instruments, die knisternde Wärme der Flammen – schon nach wenigen Minuten fiel ich in tiefen Schlaf.

    »Ethan«, flüsterte es.

    Nur mit Mühe öffnete ich die Augen. Meine Lider waren schwer wie Blei.

    »Schlaf nicht ein. Wenn wir einschlafen, war alles nur ein Traum.«

    Mit einem Seufzen drehte ich den Kopf zur anderen Seite, wollte nicht aufwachen. Ich war müde, so müde …

    »Schlaf nicht ein«, flüsterte es erneut.

    Ich öffnete die Augen.

    »War denn alles nur ein Traum?«

    Ich fror. Der Kamin war düster und kalt.

    Verwirrt richtete ich mich auf. Mein Atem nahm in der eisigen Luft Gestalt an.

    Der Raum lag in Dunkelheit. Alle Lichter waren erloschen, lediglich ein paar wenige Kerzen flackerten noch.

    Mein Freund war mit dem Oberkörper auf das Klavier gesackt.

    »Gabriel! Gabriel, was ist mit dir?« Erschrocken trat ich zu ihm, rüttelte an seiner Schulter, fühlte seinen Puls.

    Sein Arm rutschte dabei über die Tasten, erzeugte krude Missklänge.

    Gabriel atmete, doch er war bewusstlos. Seine Haut fühlte sich kalt an, als wäre er tot.

    »Ethan«, flüsterte es.

    Weißer Nebel kroch über den Teppich auf mich zu, kringelte sich in Schlieren und Schleifen, löste sich auf, um mich zu umhüllen.

    Mein Schuh stieß gegen eine Teetasse. Adrians Finger berührten sie noch, er selbst lag bäuchlings auf dem Boden. Die Kanne war zerbrochen und der Tee tränkte den Teppich. Auch der Diener war nicht bei Bewusstsein, fühlte sich kalt und leblos an.

    »Sie träumen«, flüsterte es.

    Langsam hob ich den Blick.

    Dort stand Annabel. Träge zog der Nebel seine Bahnen um sie, als wäre sie das Zentrum seiner Kraft.

    »Annie.« Ich bekam kaum Luft. Das konnte nicht sein. »Das ist unmöglich.«

    Sie lächelte. Sie trug das zarte Spitzenkleid, in dem sie beerdigt worden war.

    »Das ist ein Traum«, erkannte ich und doch klang es wie eine Frage.

    »Nicht ganz.«

    Ein Kichern huschte durch den Raum und sie war fort.

    Verwirrt drehte ich mich im Kreis. Wie war das möglich? Annabel, Gabriels Schwester, meine Annie … meine Verlobte.

    Ich spürte einen Luftzug. Im Flur flackerte ein warmes Licht auf.

    »Annie?«

    Das hier war nicht echt.

    Ich hörte sie singen.

    Aber Annie konnte nicht mehr singen. Sie war tot, begraben, schon seit ein paar Jahren.

    »Das Eis zerbricht, ein Splitter gar,

    Bohrt sich in dein Herz, für immer da.«

    Was war das für ein Lied?

    Früher hatte Annie viel gesungen. Bei jeder Gelegenheit hatte sie am Klavier gestanden, mit dem Gabriel sie begleitete. Sie hatte wie ein Engel gesungen und ich hatte sie nie stärker angebetet.

    Tatsächlich glaubte ich, jedes ihrer Lieder zu kennen.

    Wie ich mich doch irrte …

    Ich verließ den Raum, rannte in den Flur.

    Hinter der Ecke huschte Licht über die Wand wie Flammenschein.

    »Er schmilzt nicht, nein, er brennt und sticht,

    Verdunkelt deiner Seele Licht.«

    Der Nebel war hier dichter, ich torkelte blind durch ihn hindurch.

    Plötzlich stand ich im zweiten Stock vor dem Gästezimmer.

    Wie war ich die Treppe hinaufgekommen?

    Annie stand vor der offenen Tür und starrte auf mein Bett. Der Nebel kräuselte sich zu ihren Füßen. Sie trug ihr Haar offen, ein blonder Schleier.

    Einen Wimpernschlag später stand sie im Zimmer.

    Traurig blickte sie auf die Fotografie auf dem Nachttisch, die sie selbst zeigte.

    Sie wiegte sich leicht und summte die eingängige Melodie der Strophe. Die Töne vibrierten in meinem Kopf und schmerzten unerträglich.

    »Annie, bitte hör auf damit!«, flehte ich sie an, hielt mir die Ohren zu.

    Das Summen erstarb. Langsam drehte sie sich zu mir um, sah mich aus großen Augen an.

    »Hörst du das Wispern?«, flüsterte meine Annabel. »Es ruft mich zurück, ich sollte nicht hier sein.«

    Ich hörte nur sie, sie, sie.

    »Du bist tot«, beharrte ich. Als würde diese Tatsache dadurch an Wirklichkeit gewinnen. Dabei wünschte ich mir nichts mehr, als dass es nicht der Wahrheit entspräche.

    »Suche nach dem Winterstern«, sagte sie und machte einen Schritt auf mich zu. »Er ist nicht fern.«

    Wie bitte?

    Ich nickte unsicher, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.

    Winterstern? Was redete sie nur?

    Da stand sie vor mir, meine Annie. Sie sah nicht aus wie ein Geist. Sie war lebendig, atmete, bewegte sich.

    Wie konnte es ein Traum sein? War es echt? War ich wahnsinnig? Hatte ich ihren Tod nur geträumt? War sie ein Spuk? Ein Gespenst? Eine Manifestation des Wahnsinns?

    Vorsichtig hob ich die Hand. Meine Finger berührten schon fast die weiße Spitze ihres Ärmels, als sie sich ruckartig abwandte und vor sich hin murmelte.

    »Schürt ein Fieber, treibt dich in die Nacht,

    Wo die Finsternis ist an der Macht.

    Schürt ein Fieber, treibt dich in die Nacht,

    Wo die Finsternis ist an der Macht.

    Schürt ein Fieber, treibt dich in die Nacht,

    Wo die Finsternis ist an der Macht …«

    Sie wiederholte es immer und immer wieder, schneller und schneller.

    »Was ist der Winterstern?«, fragte ich laut, um sie zu übertönen.

    Sie hielt inne und drehte sich von mir weg, löste sich im Nebel auf.

    Ich blieb allein zurück, blickte hilflos um mich.

    Wenn das ein Traum war, warum wachte ich dann gottverdammt noch mal nicht endlich auf?

    Ich fror, fühlte Schmerzen. Was für eine elende Sorte Traum sollte das sein?

    Doch am meisten schmerzte mein Herz …

    Nichts geschah. Sogar meine Taschenuhr, die neben dem Bild von Annie auf dem Nachttisch lag, stand still. Die Zeiger bewegten sich nicht. Kein Ticken, nicht das geringste Geräusch drang an mein Ohr.

    Mit einem Mal fühlte ich mich einsam.

    Was hatte ich getan, dass mir so etwas widerfuhr?

    Da hörte ich sie wieder singen.

    Die Melodie drang die Stufen herauf, hing in der Luft wie Annabels Parfum.

    »Hörst du das Wispern, gar nicht fern?

    Suche nach dem Winterstern, Winterstern.

    Hörst du das Wispern, gar nicht fern?

    Suche nach dem Winterstern, Winterstern.«

    Ich folgte dem Ursprung ihrer Stimme bis in die Eingangshalle.

    »Ich höre dich. Rede mit mir! Was ist der Winterstern?«

    »Hast du ihm von uns erzählt?«

    Kerzengerade aufgerichtet, stand sie mitten in der Halle, die Hände in den Stoff ihres Kleides gekrallt.

    Ich wusste, was sie meinte. Sie sprach von ihrem Bruder und unserer heimlichen Verlobung.

    »Nein, Annie. Wir wollten es ihm gemeinsam sagen und dann … dann konnten wir es ihm nicht mehr gemeinsam sagen.«

    Weil ihr das Leben genommen worden war. Und allein hatte ich es nicht geschafft.

    »Wieso hast du es ihm nicht nach der Beerdigung gesagt?«

    Sie schien fast wütend darüber.

    Ich war ein solcher Nichtsnutz, ich erzürnte sogar einen Geist, der mich heimsuchte.

    Ich seufzte. »Wozu sollte ich ihm auch noch diesen Schmerz zufügen? Wir haben alle genug gelitten, Annie.«

    Sie schwieg.

    »Außerdem … außerdem ist unser Geheimnis das Einzige, was mir geblieben ist«, gestand ich in die Stille hinein.

    Das war selbstsüchtig und die reine Wahrheit.

    So dringend brauchte ich etwas Kostbares von ihr, das mir allein gehörte und mir niemand mehr nehmen konnte. Wenn auch sonst nichts blieb von unserer heimlichen Liebe, dann wenigstens das.

    Wenn ich meine Erinnerungen teilte, waren sie nicht mehr mein allein. Sie war mein, und dann nicht mehr.

    »Annie, ich habe dich so vermisst«, presste ich gequält hervor, hob erneut die Hand, um sie zu berühren.

    Wenn ich sie doch nur spüren könnte, ihre Wärme …

    Annie hob den Blick. Blutige Tränen liefen ihr aus den Augen. Ein Schnitt, hauchdünn, zeichnete sich quer über ihre Kehle … und begann zu bluten.

    Das Blut lief erst langsam und dann in Strömen.

    Es sollte spritzen, doch es lief stetig und unaufhaltsam aus ihr heraus, ohne einen Puls, ohne einen Herzschlag.

    So viel Blut, dass es nicht mehr rot war, sondern schwarz wurde.

    Voller Entsetzen wich ich vor ihr zurück.

    »Nein!«

    Es war überall.

    Blut, Blut, B L U T!

    Ein Meer aus Blut!

    Es färbte ihr Kleid, strömte über den Boden, machte ihn glitschig, breitete sich immer weiter aus.

    Es sprudelte in Wellen über meine Schuhe, tränkte meine Hose, nässte mein Bein.

    Ich hatte Wärme erwartet, doch es war kalt.

    Eisig wie der Tod.

    Erschrocken wich ich zurück, rutschte aus, stürzte hart auf die Fliesen.

    Annie krallte ihre Hände in die Haare und schrie.

    Ich schrie.

    Hielt die Arme in purem Grauen schützend vor meine Augen, konnte nicht hinsehen. Meine Ohren knackten und bluteten.

    Zu laut, zu schrecklich …

    STILLE.

    Mein Herz hämmerte gegen meine Brust.

    S T I L L E.

    Blut, kalt wie der Tod.

    STILLE. STILLE. STILLE.

    Ich fürchtete mich davor, die Augen zu öffnen. Was würde ich sehen?

    S

    T

    I

    L

    L

    E

    .

    In diesem Moment bemerkte ich, dass ich die Luft anhielt.

    Vorsichtig atmete ich aus und anschließend wieder ein. Erst dann ließ ich die Arme sinken.

    Ich war allein.

    Mondlicht fiel durch die Fenster in die Eingangshalle. Der Boden war mit Erde und braunem, vertrocknetem Laub bedeckt, das knirschte, als ich mich erhob.

    Kein Blut. Kein Gespenst.

    Wie um mich zu verhöhnen, schlug die große Standuhr neben der Treppe elf Uhr. Bei jedem Schlag glühte ein warmes Licht in ihrem Inneren auf und erlosch sogleich wieder.

    Was war das?

    Der letzte Schlag erklang, das Licht pulsierte ein letztes Mal, dann verglomm es und auch der Ton verklang in der Halle.

    Ich wandte mich von der Uhr ab und betrachtete meine Hände.

    Kein Blut.

    Ich scharrte im Laub. Auch die Fliesen in der Eingangshalle waren unter der Erde sauber.

    Kein Blut.

    Es war nur ein Traum gewesen. Oder ein Traum in einem Traum. Oder ein Albtraum in einem Albtraum? Oder war es doch schon wieder die Wirklichkeit?

    Dong … Dong … Dong … Dong …

    Wieder schlug die Uhr.

    Ich drehte mich um.

    Dong … Dong … Dong … Dong …

    Bei jedem Schlag glühte wieder etwas im Inneren des Gehäuses.

    Die Standuhr war alt und kaputt. Sie funktionierte schon lange nicht mehr. Gabriel ließ sie nur deshalb in der Halle stehen, weil er ihre Optik mochte. Sie konnte nicht schlagen. Die Uhr war tot.

    Dong … Dong … Dong … Dong …

    Zwölf Mal.

    Mitternacht.

    Als ich im Sessel eingeschlafen war, war es früher Abend gewesen. Innerhalb von Minuten waren die Stunden auf dieser stehenden Uhr verflogen.

    Der letzte Schlag hallte nach, diesmal erlosch das Glühen nicht.

    Ich trat an die Uhr, fuhr mit den Fingerkuppen an ihrer Kante entlang, bis ich den Verschluss fand, mit dem man die Glastür zum Pendel öffnete.

    Aus der Nähe erkannte ich, dass das Glühen hinter dem Pendel herrührte.

    Ich öffnete die Glastür und sah genauer hin.

    Hinter dem Pendel fehlte die Rückwand. Und was dort glühte, war die Sonne, deren Strahlen durch die bunten Blätter eines Baumes fielen.

    Golden und warm und hell und einladend …

    Ich schob das Pendel zur Seite und stieg in die Standuhr.

    Nun stand ich unter dem Baum im Garten. Es war Herbst und erstaunlich warm. Friedlich segelte ein Blatt an mir vorbei zu Boden. Erleichtert atmete ich ein, die Luft roch würzig nach Laub und Regen und Sonnenschein.

    Der Albtraum war vorbei. Endlich.

    »Annie?«, rief ich lächelnd. »Bist du hier?«

    »War denn alles nur ein Traum?«, trug mir der Wind zu.

    »Komm heraus! Es ist wunderschön hier!«

    Ich drehte mich im Kreis, hielt das Gesicht ins Sonnenlicht und fiel kopfüber in ein Grab.

    Erde und schmutziger Schnee bröckelten von den Rändern der ausgehobenen Grube auf mich herab.

    Benommen setzte ich mich auf und blickte unter mich.

    Ich lag auf Annabels Sarg. Er war mit Eisblumen überzogen, Schneeflocken legten sich auf das Holz, auf mich, auf mein Haar und mein Gesicht.

    Mit einem Schrei sprang ich auf und versuchte aus dem Grab zu klettern, krallte mich in die gefrorene Erde, in das scharfkantige Eis.

    Mit blutenden Händen kroch ich aus dem offenen Grab in das schneebedeckte Gras.

    Dort blieb ich liegen, rollte mich auf den Rücken.

    Kahl und trostlos hingen die Äste des Baumes über mir.

    Kein buntes Blätterdach, keine Sonne.

    Statt des Himmels sah ich dort die Decke der Eingangshalle in Gabriels Haus.

    Es war dunkel und kalt. Ich lag auf den blanken Fliesen.

    Ich keuchte, ich schluchzte. Mein Atem stieg wieder vor mir auf, sichtbar wie Nebel.

    Nebel. Er kroch auf mich zu, breitete sich um mich herum aus wie die endlose See in der Nacht.

    »Wind und Himmel, sternenklar,

    Folge ihnen, sie sind für dich da«, flüsterten die trüben Schleier.

    Ich wollte nichts mehr davon hören, stand auf und wankte aus der Halle, zurück zum Musikzimmer.

    Mein Herz schmerzte, meine Seele weinte.

    Nein … ich weinte.

    Ich hielt das nicht aus, das war zu viel.

    Ich schaffte es nicht zurück.

    Im Flur sank ich an der Wand hinab, kauerte mich zusammen und fragte mich, wie ich diesem Albtraum entkommen konnte.

    Warum suchte sie mich heim? War das wirklich ihr Geist? Raubte sie mir den Verstand? Wieso tat sie mir das an?

    Ich liebte sie doch.

    So sehr.

    »Schhh«, raunte sie.

    Sie saß neben mir auf dem Boden, wieder unversehrt. Sie sah so lebendig aus! So warm und echt. Sie lächelte sogar.

    »Suche den Winterstern, Ethan.«

    Den hatte ich schon wieder vergessen.

    »Den Winterstern«, krächzte ich verzweifelt. »Sag mir doch, was das ist. Wie soll ich ihn sonst finden?«

    »Du weißt es längst. Ich habe es dir bereits verraten.«

    Verständnislos starrte ich sie an. Ich wusste überhaupt nichts.

    »Leb wohl, Ethan«, flüsterte sie, legte ihre Hand auf meine Wange und küsste mich.

    Mit einem Ruck wachte ich auf.

    Panisch sprang ich aus dem Sessel und blickte wie im Wahn um mich.

    Wo war sie? Wo war der Nebel? Wo war Annie?

    Das Feuer brannte, es war warm und hell. Adrian räumte das Teegeschirr zusammen.

    Gabriel unterbrach sein Lied und runzelte die Stirn. »Ethan? Geht es dir gut?«, fragte er besorgt.

    Sprachlos starrte ich ihn an. Zweifellos musste ich wie ein Irrer auf ihn wirken.

    Endlich fing ich mich, räusperte mich und kam mir töricht vor. Ein Traum …

    »Es war nur ein Traum.«

    »Muss ja höllisch gewesen sein«, brummte Gabriel und widmete sich wieder dem Instrument.

    »Scheint so.«

    Ich wollte mich gerade wieder setzen, als ich die Töne erkannte, die er da unbedarft erklingen ließ.

    Die Melodie! Es war das Lied, das sie die ganze Zeit gesungen hatte!

    Und Gabriel streute die Töne einfach so in den Raum, ohne etwas davon zu ahnen. Er summte dabei leise vor sich hin.

    Ich kannte den Text. Ich hatte dieses Lied noch nie zuvor gehört, doch ich wusste die Worte.

    Wie war das möglich?

    »Was ist das für ein Lied?«, verlangte ich etwas zu vehement zu wissen.

    Das Stirnrunzeln vertiefte sich.

    »Winterstern«, sagte Gabriel lediglich.

    Winterstern!

    »Wie … wie geht das Lied?«, fragte ich aufgeregt und vergaß all das Grauen.

    Wie blind und dumm ich war! Sie hatte es mir verraten! Es war ein Lied! Es war ein Lied, bei Gott!

    »Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte nun auch Adrian. Vermutlich fragte er sich, ob er seinen Herrn vor meinem hysterischen Anfall beschützen musste.

    »Alles bestens, wenn Gabriel mir nur dieses Lied vorsingt!«

    Die beiden tauschten einen sichtlich irritierten Blick. Ich musste mich zusammenreißen. So konnte ich nicht weitermachen.

    Trotz meines wahnhaften Verhaltens begann Gabriel zu spielen und sang leise dazu.

    »Das Eis zerbricht, ein Splitter gar,

    Bohrt sich in dein Herz, für immer da.

    Er schmilzt nicht, nein, er brennt und sticht,

    Verdunkelt deiner Seele Licht.

    Hörst du das Wispern, gar nicht fern?

    Suche nach dem Winterstern, Winterstern.

    Hörst du das Wispern, gar nicht fern?

    Suche nach dem Winterstern, Winterstern.

    Schürt ein Fieber, treibt dich in die Nacht,

    Wo die Finsternis ist an der Macht.

    Wind und Himmel, sternenklar,

    Folge ihnen, sie sind für dich da.

    Hörst du das Wispern, gar nicht fern?

    Suche nach dem Winterstern, Winterstern.

    Hörst du das Wispern, gar nicht fern?

    Suche nach dem Winterstern, Winterstern …«

    Er ließ den letzten Akkord fast schon fragend ausklingen.

    Das Lied war der Winterstern. Und meine Aufgabe war es, den Winterstern zu finden!

    Was bedeutete das?

    »Hat das Lied irgendwas mit Annie zu tun?«, fragte ich. »Wieso spielst du das?«

    Gabriel zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen.

    Wir sprachen eigentlich fast nie über seine Schwester, seit jenem Tag. Zumindest nicht derart unvermittelt.

    »Sie mochte das Lied. Schon als Kind. Ich empfand es ja immer als etwas morbid und düster. Es fiel mir heute einfach wieder ein.« Er überlegte. »Sie besaß sogar eine Spieluhr mit dieser Melodie, wenn ich mich recht entsinne.«

    Es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

    »Wo ist diese Spieluhr?«

    Er gab sie mir und ließ mich damit allein.

    All die Zeit hatte sie in einer der Kisten mit Annies persönlichen Habseligkeiten gelegen, ohne

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