halbtote schmetterlinge
Von Thomas Schädler
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Buchvorschau
halbtote schmetterlinge - Thomas Schädler
Prolog
An einem sonnigen Montagmittag Ende Juli raste auf der Autobahn ein knallroter Ferrari aus der Stadt in Richtung Süden. Immer auf der linken Spur bleibend, überholte er mit stark erhöhter Geschwindigkeit ein Fahrzeug nach dem anderen und entging dabei mehrmals nur knapp einer Kollision.
Die unbändige Beschleunigung des Achtzylinders, das röhrende Heulen des Motors und die verschwommen an ihm vorbeiziehende Landschaft berauschten den Fahrer und ließen ihn Zeit und Raum vergessen.
In einer langgezogenen, nicht enden wollenden Rechtskurve beließ er den Fuß auf dem Gaspedal und forcierte den Wagen unaufhörlich weiter. Durch die enormen Kräfte, die dabei freigesetzt wurden, verlor das Fahrzeug die Bodenhaftung, scherte aus der Spur und streifte die Leitplanke. Brüllend drehte es sich mehrfach um die eigene Achse, schlitterte die steile Böschung auf der gegenüberliegenden Seite hinauf, um durch die Luft zurück auf die Fahrbahn katapultiert zu werden, auf der es sich ein paar Mal überschlug und schließlich gegen einen Brückenpfeiler prallte.
Sofort bildete sich hinter dem Unfall ein kilometerlanger Stau und die schnell herbeigerufenen Rettungskräfte hatten Mühe, die Einsatzstelle zu erreichen. Der rote Ferrari hatte sich buchstäblich um den Betonpfeiler gewickelt und das völlig zerstörte Fahrzeug konnte nur mit schwerem Gerät zerlegt werden, um den schwerverletzten Fahrer aus dem Auto zu ziehen.
Für ihn kam jede Hilfe zu spät.
***
Am Freitag zuvor, kurz vor Geschäftsschluss, hatte ein sympathischer Mann mittleren Alters die Agentur in der Innenstadt, die Luxus- und Sportfahrzeuge der Extraklasse vermietet, betreten. Er ging an einem Stock, humpelte leicht und schien unter Schmerzen zu leiden. Trotzdem machte er einen seriösen Eindruck und hinterlegte, ohne zu zögern, eine größere Summe als Sicherheitsdepot. Den Ferrari hatte er vorab online für ein verlängertes Wochenende reserviert und erläuterte nun mit einem Lächeln, dass er damit zu einem Treffen mit alten Schulfreunden fahren wolle, um sie zu überraschen und zu beeindrucken. Von ihm würde niemand erwarten, einen solchen Wagen zu besitzen.
Nachdem die Formalitäten erledigt waren und ihn der Vermieter in die Bedienung des Sportwagens eingewiesen hatte, stieg er mit einiger Mühe in das tiefliegende Fahrzeug. Er legte den Stock auf den Beifahrersitz, startete den hochgezüchteten Motor, ließ die schwere Kupplung gefühlvoll kommen und fuhr ohne Rucken los.
1.
Das Beste, das Ambühl als Kind geschehen konnte, war, krank zu sein. Nicht wirklich schwerkrank. Aber gerade so krank, dass er nicht zur Schule gehen musste und zu Hause im Bett liegen bleiben durfte. Zugegeben, der Preis, den er dafür zu bezahlen hatte, war groß. Bei seiner Mutter galt die strikte Regel, zum Abschluss einer jeden Krankheit einen Tag fieberfrei im Bett bleiben zu müssen, bevor sie einen wieder in den Alltag entließ. Und das war bitterer Ernst. Vierundzwanzig Stunden gesund im Bett.
Gleichzeitig war Kranksein, wenn man sich einmal dazu entschieden hatte, das absolute Paradies. Besser konnte es einem Kind in der kleinen Vierzimmerwohnung gar nicht gehen. Vier Zimmer mögen zwar nach recht viel Platz klingen, doch da Ambühls Eltern – wohl aus Statusgründen – darauf bestanden hatten, ein separates Wohn- und Esszimmer einzurichten, und die Eltern den dritten Raum als Schlafzimmer bewohnten, blieb für zwei der drei Kinder lediglich ein Raum von zwölf Quadratmetern, den sie sich teilen mussten. Dieser wurde ausgefüllt von einem neuartigen Doppelstockbett, das „schwedisches Bett genannt wurde, um ihm eine besondere Note zu verleihen. Ambühls älterer Bruder passte in das kleine Zimmer nicht mehr rein. Für ihn wurde etwas anderes „Modernes
angeschafft. Im Esszimmer gab es für ihn ein Ausziehbett. Was tagsüber wie eine schlecht konzipierte Sitzgelegenheit aussah, ließ sich nachts mit wenigen Handgriffen in ein schäbiges Bett verwandeln. Dort schlief der Bruder.
Krank zu sein, war gut. Die Mutter kümmerte sich noch mehr um einen als sonst. Wenn er krank war, durfte Ambühl allein im Zimmer sein. Er wurde täglich in neue Bettlaken gehüllt, durfte sich sein Lieblingsessen wünschen und bekam tatsächlich „die Glocke" auf den Nachttisch gestellt. Damit ließ sich jederzeit die Mutter rufen, um ihr einen weiteren Wunsch vorzutragen oder ein bisschen über Schmerzen zu klagen. Nicht, dass es dieser Glocke tatsächlich bedurft hätte. Im Gegenteil, die Wohnung war wirklich so klein, dass selbst ein leichtes Räuspern nicht hätte überhört werden können.
Die Glocke hatte eine magische Bedeutung. Sie symbolisierte das wirkliche Kranksein, das sogar so weit führte, dass sich Frau Ambühl dazu hinreißen ließ, bei der Nachbarin, die auf demselben Flur eine Dreizimmerwohnung bewohnte, zu klingeln, um sich einen Stapel Comics für ihr krankes Kind auszuleihen. Sowas hätte sie nie selbst gekauft.
Um die Dramatik der mütterlichen Selbsterhöhung dieser Aktion zu verstehen, ist es wichtig zu erwähnen, dass die Nachbarin eine geschiedene Frau war, die ihren Sohn gemäß der Einschätzung der Eltern nicht im Griff hatte. Weil sie eben ein „Lotterleben" führte. Der Begriff faszinierte Ambühl, obwohl er ihn nicht einzuordnen wusste.
Der Sohn schaute immer fern, verbrachte ganze Abende allein zu Hause und nannte seine Mutter öfter mal derart laut eine „verfickte Nutte", dass es im ganzen Haus zu hören war.
Für Ambühl aber war er vor allem ein Gelehrter des Fachbereichs Kindercomics. Er besaß eine ganze Kollektion davon. So stellte Kranksein für Ambühl auch eine Chance dar, endlich diese Heftchen zu lesen, damit in seinen „Studien des Banalen" aufzuholen und am wahren Leben zu schnuppern.
Der absolute Höhepunkt jeder häuslichen Krankheitsgeschichte war der Besuch von Doktor Larcher. Er war der Kinderarzt der Familie und ein Hausbesuch die ausdrückliche Bestätigung dafür, dass die Mutter in ihrer Einschätzung recht behielt. Der letzte Krankheitszweifel wurde aus dem Weg geräumt. Gut vorbereitet, wurde die Visite von Frau Ambühl entsprechend inszeniert. Wenn Doktor Larcher endlich klingelte, lag das kranke Kind längst in einem frisch bezogenen Bett, trug einen netten Calida-Pyjama und die Mutter hielt für den Doktor sowohl einen Silberlöffel des Sonntagsbestecks als auch ein feines weißes Tuch von der besonderen Qualität bereit, das für gewöhnlich dem Vater zur morgendlichen Nassrasur vorbehalten war.
Der Doktor war ein freundlicher Mann. Wenn er mithilfe des Silberlöffels tief in den Rachen geschaut, sich die Hände gewaschen und sie mit dem feinen Tuch getrocknet hatte, stellte sich jedes Mal heraus, dass die Mutter einfach alles richtig gemacht hatte und der Patient lediglich ein paar Tabletten benötigte. Der GuteMutter-Stolz war das eigentliche Ziel des Arztbesuchs. Ambühl spürte, wie dieser sich nach dem Abgang von Doktor Larcher wie ein süßlicher Geruch in den vier Zimmern ausbreitete und sich auf alles legte. Es war klar, dass der Doktor Frau Ambühl bewunderte. Und sie sich auch.
Die Nachbarin hatte keine Chance.
2.
Ambühl saß bei Dr. Brenz in der etwas dunklen und nicht wirklich standesgemäß erscheinenden Praxis in der Innenstadt. Er hörte, dass es vielleicht nicht falsch sei, sich darüber Gedanken zu machen, in einem Jahr nicht mehr zu leben. Dr. Brenz war Professor für Urologie und Ambühl von mitwissenden und mitdenkenden Freunden als Koryphäe für die Notsituation empfohlen worden.
Er sah den unbekannten Arzt an, der gerade die Befunde seiner Prostatauntersuchung gelesen hatte und sonst nichts von ihm wusste. Er verstand, dass er in zwölf Monaten vielleicht schon tot sein könnte, und dennoch kam keine Panik in ihm auf, nur Ernsthaftigkeit und eine aufmerksame Sachlichkeit. Es war auch nicht die erste ärztliche Meinung. Dass er schwerkrank war, war Ambühl schon ein paar Tage zuvor klargemacht worden. Wegen einer kleinen Schwellung im Unterleib hatte sein Hausarzt angeordnet, alle möglichen Blutwerte bestimmen zu lassen.
Am darauffolgenden Tag hatte eine sehr aufgeregte Sprechstundenhilfe aus der Praxis angerufen und ihn gebeten, so schnell wie möglich vorbeizukommen. Der PSA-Normwert bei einem gesunden Mann liegt bei 0,4. Der Hausarzt eröffnete Ambühl, sein PSA-Wert läge bei 159, dass es sich natürlich um einen Messfehler handeln könnte, Prostatakrebs sehr gut behandelbar sei und man nun sofort weitere Tests und Untersuchungen machen müsse.
Über Nacht hatte sich Ambühl via Internetrecherchen und langen Telefonaten mit befreundeten Ärzten über PSA-Werte und Prostatakrebs informiert. In den kurzen Momenten, in denen er den unglaublichen Schock beiseite hatte schieben können, begann er, sich mit dem Thema ernsthafter auseinanderzusetzen, und versuchte hilflos, die Krisen-Notfallpläne anzuwenden, die er aus dem Berufs-, Privat- und Liebesleben kannte.
Er war an einem hochgradig gefährlichen Krebs erkrankt und die Prostata musste schnellstmöglich entfernt werden. Dabei würden auch die Nerven zerstört, die zur Erektion nötig waren. An Krebs zu sterben oder impotent zu sein, was für eine Alternative! Ambühl wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sein Krebs schon über den Prostatarand hinausgewachsen war und auch die Lymphknoten befallen hatte. Dies machte die Krankheit systemisch und unheilbar.
Er wusste auch nichts von den Hormonentzugstherapien, die – neben der Bestrahlung – der Operation folgen sollten.
Er hatte Angst.
3.
In seiner Panik begann er, lange Listen zu schreiben, was alles noch zu tun und zu erledigen wäre, bevor er starb. Dabei fühlte sich Ambühl zugleich chaotisch und exaltiert. Alles war anders als jemals zuvor, so hatte er sich bisher noch nie erlebt.
Wie der Hasenstall zu reinigen sei, ohne die Glasscheibe zu beschädigen, wo die Bedienungsanleitung der neuen Waschmaschine deponiert, die Zugangsdaten für den WLAN-Router und die Verträge der TV-Kinderkanäle zu finden waren. Sämtliche Kontaktdaten der verschiedensten Handwerker fürs Bad, das Dach, das ab und zu undicht war, und das Garagentor, wenn es wieder einmal klemmte. Und dem neuen Gärtner sollte klargemacht werden, dass der alte Rasenmäher zwar beim Kaltstart erst einmal spuckte, er aber dessen ungeachtet nicht ersetzt werden müsse, weil er sonst noch recht gut funktionierte. Außerdem dürften die unteren Äste der Bäume nicht runtergeschnitten werden, weil die Kinder gerne daran hochkletterten. Eigentlich waren sie inzwischen schon fast zu alt dafür und interessierten sich mehr für freien Ausgang und ungestört pubertierendes Alleinsein in ihren Zimmern, für die er ihnen schon lange neue und altersgerechte Möbel versprochen, jedoch den verhassten Besuch im schwedischen Möbelhaus immer wieder hinausgeschoben hatte. Diese Einkaufstouren endeten regelmäßig mit völlig überladenen Einkaufswägen voller Dinge, die man eh nicht brauchte. Vor allem nicht, wenn man starb.
Die Nachbarn besaßen eine lange Leiter, die man ausleihen und ausziehen konnte, einmal im Jahr nur, im Herbst, zur Reinigung der Dachrinnen. Wie würden die wohl reagieren, wenn sie von ihm hörten? Man hatte zwar sonst fast keinen Kontakt, aber mochte sich distanziert. Und der Schlüssel zum Keller funktionierte ausschließlich, wenn man die Tür stark zu sich heranzog und leicht anhob, bevor man ihn drehte. Niemand außer ihm ging je in den Keller. Da