Was ist ein Kinderleben wert?: Eine wahre Geschichte über Mut und Hoffnung
Von Georg Hader
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Buchvorschau
Was ist ein Kinderleben wert? - Georg Hader
Kapitel 1
Dana erzählte beim Abendessen von ihrem aufregenden Nachmittag, den sie trotz der kühlen Temperaturen im November mit ihrem Bruder im Freien verbracht hatte. Obwohl es in den letzten Tagen ziemlich windig war, war es doch für die Jahreszeit - selbst für die Wetterverhältnisse in Rumänien - ungewöhnlich warm und sonnig. Dana war ein fröhliches kleines Mädchen und kaum zu bändigen. Ihre blonden Haare waren wild durcheinandergeraten, die Augen blitzten schelmisch und lebensfroh aus ihrem Gesicht hervor. Der Tisch war reichhaltig gedeckt, viele der Produkte stammten vom eigenen Bauernhof. Trotz ihres großen Appetits war Dana sehr schlank. Das war das Ergebnis einer einfachen „Einfuhr-Ausfuhr-Rechnung": Obwohl sie mindestens vier Mal täglich große Mengen Essen in sich hineinschlang, verbrauchte ihr Körper immer noch zu viel, um sie zunehmen zu lassen.
Der Schmerz setzte mitten im Gespräch ein. Ohne den angefangenen Satz zu Ende zu sprechen, hielt sie inne. Dana wusste sofort, dass irgendetwas anders war als sonst. Ihre Augen weiteten sich. Schlagartig wurde ihr heiß und kalt zugleich. Der Bauch krampfte sich zusammen, sie musste ohne Vorankündigung erbrechen und konnte nicht mehr sitzen. Ihr Herz schlug plötzlich wie wild, während sie zu weinen begann und neben dem Esstisch zu Boden sank. Es war so, als würde jemand ein großes, glühendes Messer langsam in ihren Bauch drücken. Sie verspürte eine Angst, die sie in diesem überwältigenden Ausmaß noch nicht kannte. Danas Mutter sprang auf und rief etwas zu ihrem Mann. Dana konnte das schon nicht mehr hören. Der Schmerz war so intensiv, dass sie bewusstlos wurde. Das kleine Mädchen lag bleich neben dem Tisch am Boden und hatte sich in Embryostellung zusammengekauert. „Ins Krankenhaus, wir müssen sie sofort ins Krankenhaus bringen."
Es gibt vier große Lügen in der Chirurgie: „Das tut überhaupt nicht weh, „Das habe ich schon tausendmal gemacht
, „Da ist noch nie etwas passiert und „Ich komme gleich
. Die Erfahrung hat gezeigt, dass letztere Behauptung durchaus Sinn macht. Ich komme gleich. Der Empfänger dieser Nachricht ist sich sicher, dass Hilfe unterwegs ist. Dauert es allerdings ein wenig länger, bis man kommt, haben sich die meisten Probleme schon von selbst erledigt. Diesmal hatte er aber besonders lange gewartet, weshalb Dr. Hader auch bereits von seinem schlechten Gewissen getrieben wurde, als er losging, um dem Ruf in die Ambulanz zu folgen. Er kam jedoch nicht weit. Am Ende der großen Treppe wurde er aufgehalten.
„Das Kind braucht Hilfe… sonst wird sterben!, sagte der aufgeregt wirkende Mann in durchaus gutem Deutsch, aber mit deutlichem Akzent. Dr. Hader war sofort hellwach: „Hier muss niemand sterben, bringen Sie das Kind in den Schockraum, schnell, wo ist das Kind?
„Das Kind ist nicht hier, ich habe nur eine E-Mail, aus Rumänien…. Aha. Eine E-Mail aus Rumänien hat er also, dachte sich der Arzt. Kurz vor Weihnachten bekommt er eine E-Mail über ein sterbendes Kind. Wenigstens mal etwas Anderes. „O.K., hier haben Sie ein paar Euro, frohe Weihnachten, und jetzt gehen Sie bitte!
„Nein, nein, antwortete der Mann verzweifelt, „Sie verstehen nicht, ich brauche kein Geld, ich brauche Hilfe für das Kind, es ist keine Zeit mehr…
Um in die Ambulanz zu kommen, hatte der Kinderchirurg die Treppe benutzt. Normalerweise lehnt er das Treppensteigen ab. Seinem langsam, aber stetig wachsenden Bäuchlein hätte ein wenig Bewegung allerdings nicht geschadet. „Wenn der liebe Gott wollte, dass wir Treppen steigen, warum hat er dann den Lift geschaffen?, sagte Georg Hader immer wieder mit einem Lächeln zu denjenigen, die ihn für das ständige Benutzen des Liftes kritisierten. Eigentlich: Dr. Georg Hader, genauer gesagt, Privatdozent Dr. Georg Hader, diensthabender Oberarzt an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie in Mertenburg. Es war kurz vor Weihnachten, noch vier Tage bis Heiligabend. Weder auf den Stationen noch in der Ambulanz gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse. Alle Visiten waren gemacht, am Samstag gab es keine geplanten Operationen. „Nach dem Stress der letzten Wochen endlich ein wenig Ruhe
, dachte sich Georg, als er ausnahmsweise einmal die Treppe nahm. Wochenenddienste waren unbeliebt, aber unvermeidbar. Neunundvierzig Stunden Dienst am Stück, von Samstag 8.00 bis Montag 9.00 Uhr – vorausgesetzt, es gab am Montag nicht noch irgendeine Besprechung, oder einen Krankenstand, oder sonst irgendwelche Besonderheiten, die leider viel zu oft vorkamen. Dann konnten aus 49 Stunden auch schnell einmal 56 Stunden werden. „Aber, wenn ich am Montag pünktlich heimkomme, dann beginnt für mich Weihnachten, am 24.12. habe ich frei, erst am 25. muss ich wieder arbeiten, das bedeutet zwei Tage mit der Familie, perfekt", dachte er sich, als er die ersten Stufen ins Erdgeschoß nahm.
Der Mann mit der E-Mail war vielleicht 35 Jahre alt, aufgeregt, mit einem fragenden Blick und einem Zettel in der Hand. Unter normalen Umständen wäre Dr. Georg Hader vermutlich einfach vorbeigegangen, aber es war ja bald Weihnachten, überall waren schon die selbstgebastelten Dekorationen aufgehängt, die die Kinder auf den Stationen gemacht hatten, und ein wenig weihnachtliche Stimmung war im ganzen Haus zu spüren, auch wenn Georg selbst nur wenige Gedanken an das Weihnachtsfest richtete. Er war froh, dass sich seine Frau Anna um alles kümmerte, sie hatte wie jedes Jahr die Geschenke besorgt, sich um das Essen gekümmert, und dafür gesorgt, dass die ganze Familie unter dem Christbaum zusammenkam. Sie hatten vier gemeinsame Kinder, die Großeltern kamen, wie jedes Jahr. So gesehen, war ihm das Dienstwochenende kurz vor Weihnachten gar nicht so unrecht, „wenn ich dann nach Hause komme, ist alles fertig", dachte er bei sich.
Und jetzt stand da dieser Mann mit der E-Mail über das sterbende Kind. „Zeigen Sie mal her, sagte Dr. Hader misstrauisch. Es war eigentlich keine E-Mail, sondern die schlechte Übersetzung einer E-Mail. Soweit er den Inhalt beurteilen konnte, handelte es sich wirklich um einen medizinischen Bericht, nicht alles war korrekt übersetzt, aber aus den verwendeten Fachbegriffen konnte er schließen, dass es einem 5-jährigen Mädchen ziemlich schlecht ging. So schlecht, dass die Ärzte beschlossen hatten, die Therapie zu beenden. Lediglich Kochsalzinfusionen wurden noch gegeben, um das Kind nicht verdursten zu lassen. Das ist durchaus üblich, wenn man ansonsten jegliche Therapie beendet. Man darf zwar sterben, aber nicht verdursten. „Medizin kann grausam sein
, dachte Dr. Hader bei sich. Er verstand nicht alles, aber offensichtlich hatte sich der Darm des kleinen Mädchens verdreht und die Ärzte in Rumänien konnten nichts mehr tun. In Rumänien…
„Wie kommen Sie zu dieser E-Mail?, fragte Dr. Hader, noch immer ein wenig in Sorge, ob er wohl nicht gerade hereingelegt wird. „Der Vater hat die Nachricht geschickt. An alle Menschen, die er kennt. Per E-Mail und auf Facebook. Er fleht um Hilfe für seine kleine Tochter. In die ganze Welt. Das ist die letzte Chance für seine Tochter.
„Woher kennen Sie die Familie?, fragte der Arzt, der nun zunehmend neugierig wurde. „Ich kenne die Familie nicht, aber meine Frau kennt einen Bekannten der Familie, der hat die Nachricht weitergeleitet. Er wollte beim Vater des Mädchens Futtermais kaufen und hat davon erfahren.
„Wie alt ist das Mädchen? „Fünf. Dana ist fünf Jahre alt.
Die beiden Männer sahen sich eine Weile schweigend an. Die Geschichte klang so abenteuerlich, dass sie eigentlich gar nicht erfunden sein konnte. „Kann ich den Zettel haben?, fragte Dr. Hader. „Natürlich! Werden Sie der Familie helfen?
, antwortete der Mann, der sich nun als Liviu vorstellte. Er war Lastwagenfahrer in Österreich. „Ich kann nichts versprechen, aber lassen Sie mir mal Ihre Telefonnummer da, ich schaue mir das in Ruhe durch." Liviu versuchte vergeblich, im Gesicht von Dr. Hader zu lesen, ob er sich ernsthaft mit dem Fall beschäftigen, oder ihn nur abwimmeln wollte. Aber Dr. Hader war schon zu lange im Geschäft und Profi genug. Er hatte seinen professionellen Blick auf das Papier gerichtet, war freundlich, aber distanziert.
Ohne wirklichen Erfolg, aber wenigstens mit einem Funken Hoffnung, verließ Liviu die Klinik. „Schauen wir mal, dachte sich Dr. Hader. Etwas auf diesem Blatt Papier hatte das Interesse des Mediziners geweckt. Das erwähnte Krankenhaus in Olut, einer kleinen Stadt im Südwesten von Rumänien, kam ihm irgendwie bekannt vor. „War da nicht vor ein paar Jahren mal ein Gastarzt bei uns?
, grübelte er, als er in sein Dienstzimmer kam und den Computer einschaltete.
Dienstzimmer sind so etwas wie der Spiegel der Seele. Manche wirken aufgeräumt, alles hat seinen Platz. Sogar der Bildschirm steht im rechten Winkel zum Computer und das Kabel der Computermaus hat keine Schlaufen. Stapel von unerledigten Akten oder alten Zeitschriften sucht man vergeblich. Meist sind dann die zugehörigen Ärztinnen oder Ärzte zwar routiniert und zielorientiert, aber langweilig und farblos.
Das Dienstzimmer von Dr. Hader war genau das Gegenteil. Links am Schreibtisch ein Stapel derjenigen Zeitschriften, Befunde, Zettel mit Notizen und Briefe, die er vor kurzem als wichtig eingestuft hatte und die er unbedingt aufheben wollte. Rechts am Schreibtisch fand sich ein ähnlicher Stapel mit identem Inhalt, nur älteren Datums. „Eigentlich sollte ich den ganzen Mist einfach wegwerfen, ohne darüber nachzudenken, grummelte er in sich hinein. Die Tastatur seines Computers könnte schon seit langem eine Reinigung vertragen, der Schreibtischsessel knackte bedrohlich, als er sich hineinfallen ließ. „Wie hieß dieser rumänische Gastarzt nochmal?
, fragte sich Dr. Hader und startete sein E-Mail-Programm. Mit den Suchbegriffen „Rumänien und „Gastarzt
wurde er nicht fündig. Als er aber den Ort „Olut eingab, poppte eine bereits 2 Jahre alte E-Mail auf dem Bildschirm auf. „Gut, dass ich die alten Mails nicht gelöscht habe
, dachte er bei sich und betrachtete nun unter einem anderen Blickwinkel die beiden Papierstapel auf seinem Schreibtisch. „Manchmal zahlt es sich doch aus…, murmelte er. Er hatte vor ein paar Monaten den Krieg gegen die EDV-Abteilung gewonnen, sie hatten sein volles E-Mail-Postfach erweitert. „O.K., also Dr. Arian Popescu, ich kann mich sogar noch an ihn erinnern
. Er griff zu seinem mobilen Kliniktelefon, das er immer bei sich trug, um die Nummer des Krankenhauses zu wählen, als es plötzlich in seiner Hand zu läuten begann. Die Nummer der Intensivstation leuchtete auf dem Display auf. „Das bedeutet nichts Gutes, sagte er laut und hob ab. Eine routinierte Stimme am anderen Ende der Leitung fing sofort zu sprechen an: „In 10 Minuten, Hubschrauber, 15 Jahre, männlich, Skisturz, beatmet, Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma mit Wirbelsäulenbeteiligung
. Dr. Hader atmete tief durch: „Das war´s also mit der vorweihnachtlichen Ruhe". Er erhob sich langsam und machte sich auf den Weg zum Schockraum.
Kapitel 2
Dana Stefanescu lag in einem dunklen Zimmer. Es war still. Das Piepsen der Monitore war seit heute Morgen verstummt, jemand war im Zimmer und hatte sie ausgeschaltet. Auch das Stöhnen des kleinen, abgemagerten Mädchens war nicht mehr zu hören, sie hatte einfach keine Kraft mehr, um zu jammern. Ihre Mutter saß neben ihr am Bett und hatte Tränen in den Augen. Sie konnte ihr Kind nicht einmal streicheln, da sogar leichte Berührungen Schmerzen hervorriefen. Aus diesem Grund hatten die Schwestern auch aufgehört, sie im Bett hin und her zu drehen, wie man es tun muss, um Druckstellen zu vermeiden. Lediglich die Windeln wurden gewechselt, obwohl sie ohnehin meist trocken waren. Der kleine Plastikbeutel über dem künstlichen Darmausgang am rechten Unterbauch war seit Tagen leer geblieben. Dana war wundgelegen, hatte eine große fleischige Stelle oberhalb des Gesäßes und ein handtellergroßes Geschwür am Hinterkopf. Die Ärzte nannten es „Dekubitus, was zwar deutlich besser klang als „Geschwür
, dadurch aber auch nicht erträglicher wurde. Eine Behandlung dieser Wunden würde Dana nur Schmerzen bereiten und das Leiden verlängern, hatten die Ärzte gesagt. Ohne Behandlung hatte sie aber auch Schmerzen…
Ab und zu wischte Danas Mutter mit ihrer flachen Hand wie ein sanfter Hauch über die blonden Haare und hoffte jedes Mal, dass das einfach nur ein böser Traum war, aus dem sie alle erwachen würden. Nur das flache, schnelle Atmen des Mädchens war zu hören, die Stille wurde gelegentlich durchbrochen, wenn die Schwester hereinkam, um die Kochsalzinfusion zu wechseln. „Was soll diese Infusion jetzt noch helfen", dachte sich Frau Stefanescu immer wieder, aber sie traute sich nicht, mit den Schwestern oder Ärzten darüber zu reden.
Vor vier Wochen war Dana noch ein ganz normales, fröhliches 5-jähriges Mädchen, lebte mit ihren Eltern und ihrem um ein Jahr jüngeren Bruder Marius auf einem kleinen Bauernhof. Sie waren zwar nicht reich, aber es war genug zum Leben da. Und Dana liebte das Leben. Sie hatte einen kleinen Hund, mit dem sie auf dem Hof herumtollte, und die Kinder hatten gemeinsam sogar ein kleines Pony, mit dem sie über die Wiesen hinter dem Bauernhaus jagten.
Dann, an einem Freitag, Ende November, es war schon Zeit, um schlafen zu gehen, bekam Dana plötzlich diese unglaublichen Bauchschmerzen. Es fing nicht langsam an, es traf sie mit voller Wucht. Eltern wissen meist, wann es ernst ist, und auch im Fall von Dana zögerten sie keine Sekunde. Sie trugen das wimmernde Kind zum Auto, legten Dana mit angezogenen Beinchen auf den Rücksitz und rasten in das nahegelegene Krankenhaus. Es war kurz nach zehn Uhr abends, als sie dort eintrafen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich ein Arzt und untersuchte das Kind. „Sehr laute Darmgeräusche, bemerkte er, nachdem er das Stethoskop zur Seite gelegt hatte. „Hat sie Durchfall?
, fragte er und schrieb in dem spärlich eingerichteten Untersuchungsraum etwas auf ein Blatt Papier. „Nein, kein Durchfall, antwortete die Mutter, als Dana sich wieder übergeben musste. Obwohl nur mehr wenig Mageninhalt hochkam, waren die Liege und der Boden voll von grünem Erbrochenen und der Arzt wandte sich angewidert ab. Während sich ein süßlich-saurer Geruch im Zimmer ausbreitete, sagte der Arzt: „Das ist ein Darmvirus, haben jetzt viele, geben Sie ihr schluckweise Tee. Wenn es morgen nicht besser wird, kommen Sie nochmal
. Dann bemerkte er jedoch die Verzweiflung der Mutter, den feindseligen Blick des Vaters und sah das aschfahle Gesicht des zarten Mädchens. Schließlich meinte er: „Na gut, heute Nacht bleiben Sie erst einmal hier, morgen machen wir ein paar Tests, um diese Uhrzeit geht das leider nicht mehr".
Als am nächsten Morgen die Krankenschwester zur Morgenpflege ins Zimmer kam und Dana erblickte, drehte sie sofort um und lief zum Büro des Chefarztes, in dem sich um diese Uhrzeit alle Ärzte zur Morgenbesprechung trafen. „Jetzt nicht, sagte Chefarzt Dr. Moretti genervt, als die Schwester hereinplatzte. „Sie müssen aber kommen, bitte schnell!
, beharrte die Schwester. Dr. Moretti erhob sich widerwillig und folgte ihr zum Bett der kleinen Dana. Der Anblick, der sich ihm dort bot, ließ sogar den erfahrenen Kinderarzt kurzfristig erschaudern. Das kleine, blasse Mädchen lag gekrümmt, die Augen tief in ihren Höhlen, sie wimmerte leise. Neben ihr stand eine Schale mit Erbrochenem, die die Mutter gerade nahm, um den grünen Inhalt in die Toilette zu leeren. Herr Stefanescu sprang sofort von seinem Sessel in der Ecke des Zimmers auf und kam einen Schritt näher. Dr. Moretti drücke vorsichtig auf den flachen, aber bretthart gespannten Bauch, was zu einem kurzen, schrillen Schrei des Mädchens führte, den man ihr gar nicht zugetraut hätte. Sie verfiel jedoch sofort wieder in das monotone Wimmern, das die Eltern schon durch die ganze Nacht begleitet hatte. Ohne ein Wort zu sagen, verließ Dr. Moretti eilig das Zimmer. Wenig später lagen die Röntgenaufnahmen vor. Ein kurzes „Wir müssen operieren" war alles, was Danas Eltern erfuhren, als die Pfleger kamen, um das Bett Richtung OP-Saal zu schieben.
Es dauerte bis in den frühen Nachmittag, als endlich die Schwingtür zu dem für Eltern und Besucher verbotenen OP-Bereich aufging und ein Arzt auf Danas Eltern zukam, den sie noch nie zuvor gesehen hatten. Er trug eine blaue OP-Haube und einen Mundschutz, den er zum Hals heruntergeschoben hatte. Er hatte einen Drei-Tage-Bart und schwarze Locken quollen unter der Kopfbedeckung hervor. Er ging direkt auf Danas Eltern zu und fragte: „Gehören Sie zu Dana? Ich habe Ihre Tochter gerade operiert. Bitte kommen Sie mit in mein Büro, wir müssen reden. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging der Chirurg durch eine nahegelegene Tür, die er hinter sich offenließ. Herr Stefanescu nahm vorsichtig die Hand seiner Frau und drückte sie. Dann folgten sie ihm in das Büro. „Nehmen Sie bitte Platz
, sagte der ca. 40 Jahre alte Chirurg mit sanfter, ruhiger Stimme. Er hatte inzwischen die OP-Haube und den Mundschutz abgenommen und man konnte die ersten grauen Haare an seinen Schläfen erkennen. Während Danas verzweifelte Eltern gespannt jede Bewegung im Gesicht des Arztes verfolgten, schaute der Chirurg ihnen kein einziges Mal in die Augen. Nach einer endlosen Zeit des Schweigens hob er den Blick plötzlich und sagte: „Ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Während sich unter Danas Vater ein Abgrund öffnete und er das Gefühl hatte, jemand würde ihm die Kehle zuschnüren, hörte er seine Frau mit leiser Stimme schluchzen: „Ist sie… ist meine kleine Dana…
„Nein", sagte der Chirurg, „aber es sieht nicht gut aus. Der Darm hat sich verdreht und ist abgestorben. Warum, das wissen wir nicht. Scheinbar ist das gestern ganz plötzlich passiert. Wir mussten einen Großteil von Danas Darm entfernen. Sie hat jetzt zwar einen künstlichen Darmausgang, aber der übrig gebliebene Darm ist zu kurz. Ohne Darm, kein Leben. So einfach ist das. Dana hat keine Chance. Es ist eine Frage der Zeit, und sie wird sterben. Manchmal gibt es Wunder. Aber nicht im Fall von Dana. Der Darm ist weg und kommt nicht wieder. Da kann man nichts machen. Es