Ansichten des Windes
Von Daniel Schaup
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Über dieses E-Book
Für viele Figuren funktioniert der Alltag seit der Wende '89 anders oder überhaupt nicht mehr. Dargestellt werden die kleinen noch heute nachwirkenden Erschütterungen dieses Ereignisses.
Meisterhaft werden auch über die ganz kleinen, zarten Momente des Lebens dargestellt, wie etwa die Erinnerung an die erste Liebe, die nur noch ein melancholischer Hauch ist.
Jede hat ihren eigenen Klang, der im Leser lange nachschwingt.
Zuerst erschien der Band im Jahre 2014.
Daniel Schaup
Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg. In seinen Romanen und Erzählungen gelingt es ihm, im Kopf des Lesers einen mitreißenden Film entstehen zu lassen - er ist mitten im Geschehen und doch Beobachter. Die Lektüre ist kurzweilig und gleichzeitig ein Bildungserlebnis. Wer seine Romane und Erzählungen liest, lernt etwas über die Welt und über sich selbst. Anfragen für Lesungen bitte unter: danielschaup(at)icloud.com
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Buchvorschau
Ansichten des Windes - Daniel Schaup
Waschtag
Ich höre das Drämmern des Eimers. Keine Zukunft, auch nicht die meine, streckt sich nach einem Fahrplan. Schritte schreien die Stufen herauf. Den Bahnsteig bedecken Pfützen aus vertaner Zeit. Ausharren: Der Frühe fängt das größte Huhn; goldene Morgenstunde im Gefieder. Stehen, sehen, warten, husten. Plötzlich kreischt die Luft, eine Stimme wirbelt. Weiß, roter Streifen, wind-schnittig: Züge von heute. Ohne Platzreservierung in der zweiten Klasse, das Geld bekomme ich zurück, erste Klasse sicher nicht, also zweite, ein Platz allein, Großraum-Wagon, gut. Es beginnt zu regnen. Tropfen schießen Scharten in die Scheiben; auch die Postmoderne hat dreckige. Ruhig bleiben, umsteigen nicht nötig, sitzen und sich beschäftigen. Die lange Fahrt vertreiben. Von Abfahrt zu Ankunft die Leine der Zeit: Von wem gespannt? Warum nimmst du das auf dich, eine Tortur das.
Niemand unterhält sich mit mir. Andere machen Bekanntschaften in Zügen. Zu viele Sitze im Wagon sind noch frei, als dass ein Einsteigender oder gar eine Einsteigende sich neben mich setzen müsste. Alle versuchen allein zu sitzen. Der Sommer ist noch weit, niemand schwitzt, keine Angst vor Gerüchen. Einige Menschen riechen ja immer nach ihrem Körper, auch mit sämtlichen Deodorants auf ihrer Haut. Geruchsmaschinen, ihre Poren kleine Zerstäuber-Kraftwerke. Klimaherrschaft: die Anlage schiebt kalte Luft an den Scheiben empor. Nicht dagegen lehnen! Achtung Halsschmerzen!
Sollte ich jetzt beginnen, mich auf das Gespräch vorzubereiten? Nachher werden sie vor mir sitzen und mich fragen, was ich da genau machen wolle. Eine Doktorarbeit will ich schreiben!
Oder besser vielleicht: ich brauche euer Geld zum leben. Schöne Räume werden es wohl sein. Ein Schloss weckt Erwartungen. Frisch renoviert – dünner, dezent befarbter Teppichboden: Nicht kippeln!
Rechts unten der kleine Hebel. Mit ihm den Sitz in eine bequemere Position manövrieren. Kippeln aber ist nicht möglich. Anlehnen. Der Rücken rollt ab, Wirbel für Wirbel presst sich gegen die Lehne. Den Nacken entspannen. Ein kleines Kissen empfängt den abgeknickten Kopf. Wie viele Hinterköpfe lehnten schon dagegen? Nicht daran denken! Entspannen!
Kippeln, ein anderes Wort für Denken? Zwischen zwei Extremen hin und her, hin und her, still sitzen oder nach hinten umfallen, leben oder sterben. Der Erde verbunden. Im Gegensatz zum Schaukeln, das in der Luft hängt. In meiner Schule starb einer. Er kippelte und fiel nach hinten weg, wobei er mit dem Hinterkopf auf die Tischkante schlug und sich sein Genick brach. Und das Denken? Brach es nicht auch so manchem das Genick, besonders wenn es nach Verwirklichung drängte?
Zur Entspannung: In blauem Pappeinband die Tagebücher von Thomasmann. Im Roman desinfiziert der Kliniker des Wortes zuerst sein Material, dann schneidet er mit scharfem Schnitt die Wortlücken in das Satzgeflecht, protesiert mit Satzzeichen, lässt ein und verfugt mit Grammatik. In der täglichen Rechtfertigung des Tages aber verharrt er oft in der Rolle des Patienten. Lesen? Oder soll ich doch mein Exposee durchgehen?
Dreißig Seiten, von mir geschrieben. Der Sinn von literaturwissenschaftlichen Arbeiten ist mir völlig unklar, aber dem Tertiärschwall einen Quartärschwall entgegen zu schleudern, ist leicht verdientes Geld. Mir blieb ja nichts anderes, ich musste mich um ein Stipendium bewerben. Und natürlich fällt es leicht, im Jargon schon Bekanntes so zu sagen, dass es neu und vor allem wichtig klingt. ,Höheres Abschreiben’ nennt das unser aller Kliniker des Wortes. Im Spalt der Sitzlehnen vor mir, ein Gesicht: Frau, Mitte vierzig. Alt aber immer noch wahr der Gedanke, die Beobachtung, dass Frauen nur kurze Zeit blühen, dann langsam verwelken: mit dem zwanzigsten Lebensjahr beginnt ihr Sterben. Vor ihr Gesicht schiebt sich eine Zeitung. Ist auch besser so. Wie viel Zeitungen ich in den letzten Wochen lesen musste! Weil auch Aktuelles auf der Frageordnung steht. Aber, was bitte schön ragt aus dem Artikelwust als aktuell hervor? Sie blättert um.
Ich hasse Zugtoiletten. Nächste Station muss ich raus. Schlucken, Fäkalien-Hoffnung auf das Schloss gerichtet. Alles zusammenpacken: Papier, Buch, Wasserflasche. Am Bahnhof werde ich mir ein Taxi nehmen. Mit dem Bus fahre ich nicht. Wer die Tagebücher von Thomasmann liest, fährt Taxi. Jacke anziehen, im Gang stehen. Eine Frau vor mir wird von ihrem Koffer aus dem Zug gezogen, ich nehme Stufe für Stufe und spähe nach dem Ausgang. Der Taxifahrer erzählt unaufhörlich. Wieder höre ich das Drämmern des Eimers.
Durch die Glastür des Eingangs schimmern schon beanzugte Gestalten: Uniformität aus Freiwilligkeit und Blödigkeit. SIND DENN DIR NICHT BEKANNT VIELE LEBENDIGEN? GEHT AUF WAHREM DEIN FUSS NICHT, WIE AUF TEPPICHEN? Nicht Schmerz, sondern Erfüllung von Erwartetem mauert meinen Schritt über der Schwelle fest.
Hinein! Eichenbohlen stemmen sich gegen frisch gewichste Absätze und quietschen unter meiner Gummisohle, irritiert erstarren die ledernen. Die Eichenbohlen winden sich gegenüber einem Kamin in das obere Stockwerk hinauf – das Wiehern der Stufen – aus ihren Poren hallen die Klänge geschlagener Mensuren.
Wieso haben die mich eingeladen? Anmeldungsbogen vom Tisch nehmen, daneben ein Glas mit Kugelschreibern. Stemme gleich fünf in meine rechte Tasche. „Guten Tag, Name, ja, abkreuzen, bitte, fünfzig Euro. „Danke
. Der braune Schein verschwindet in verblüfften Fingern. Nicht die ganze Fahrt erstattet! Nur fünfzig, Fünf-Zig ! ! ! 50 ! – Gestraft dafür, dass unsereins von so weit drüben anreist. Wut hämmert sich in meinen schweifenden Blick. Sind auch Frauen hier? Auch sie haben sich uniform fein gemacht, dunkle Anzüge, Maskulinität ist die Voraussetzung für … Knabenliebe auf dem Vormarsch, der Hügel in der Hose aber von der Venus ist.
Allgemeiner Aufbruch! Alle in Raum 047 zur Begrüßung. Alle sind wir Freunde, niemand will was Böses. Ach, sind wir alle nett. Und schön wird es werden. Zum ersten Mal höre ich, dass jeder, der aufgenommen wird in die Gemeinschaft der Stipendienbezieher, einen politischen Kurs besuchen muss. Na klasse: Parteischule gibt’s auch hier. Aber was macht man nicht alles für den täglichen Lebensunterhalt.
Die Namen der Angereisten werden verlesen. Mit dem Zusatz, woher sie kommen. Mein Ohr lehnt sich konzentriert gegen die Worte, vernimmt nur einen aus dem Osten, nämlich meinen. Regentropfen meißeln Stäbe aus dem Glas der Fenster. Alibi-Ossi? Gefangen im Opportunismus. Begeistert warten sie auf die politische Züchtung. Die Demokratie bietet eben vielerlei Nischen, in denen sich die Diktatur verstecken kann.
Mein Gespräch findet im Raum 012 statt. Aber zuvor sind alle zu einer kleinen Kaffeepause im Salon (wo sonst!) eingeladen. Mein hellbraunes Jackett lehnt sich im Stuhl zurück. Mit an den Tisch platzieren sich verstümmelte Pinguine. Unter ihnen ein weibliches Wesen, das meine Fantasie langsam aus der Hülle des Widerwillens schält. Die am Tisch Versammelten krampfen sich ein Lächeln aus ihren Gesichtern, nur die Orientalin mir gegenüber nicht. Sie schaut mit ihren schwarzen Augen in den blattgold-verzierten Saal.
Die schwarzen Augen spiegeln den Wechsel von Hässlichkeit und Schönheit gekonnt, bei mir aber siegt immer die Nase, leider. Ihr zarter Körper umschmeichelt von einem Blazer, darunter eine Bluse mit endlosem Ausschnitt, nichts aber, was des Ausschneidens wert wäre. Ihr Anzug schwarz. Es gibt wohl nichts Paradoxeres als orientalische Frauen in Anzügen. Die lange Mauer ihres Nasenbeinknochens läuft zum Nadelstreif parallel.
Das Zimmer (012), indem sie mir ihre Liebe beweisen wollen, liegt im Keller. Gang durch die unbeleuchteten Flure, wo das Tageslicht abgestanden herumliegt. An der Tür die Liste mit den Namen, der meine an Position eins. Einige, die erst später gecheckt werden sollen, schauen trotzdem vorbei: Wie sicher fühlt sich das Schwein, wenn es den Weg zum Schlachter kennt.
Ach sind sie alle nett, wollen mit mir reden, mich bedauern, dass ich der erste, aber ich habe nur Fetzen für sie übrig. Das antrainierte Grinsen in ihren Fressen ist deshalb so grade, weil sie Angst vor der Mensur haben. Ein Stipendium für ein Schwert, um diese Mäuler auszurichten! Aus der ehemaligen DDR? Staunen! Je weiter man gen Westen fährt, desto höher wäre der Eintrittspreis für die Ausstellung eines Ossis. Auch heute noch!
Ich kann nicht lächeln. Frage nach ihren Projekten, doch was zurückfällt an Wortschlamm sind Namen von Professoren, die jeden Inhalt erübrigen, oder der Glanz von Parteifreunden. Warum müssen die dann noch in den Keller? Ach ja, wir wollen ja immer hübsch demokratisch sein: auch der Schein einer Chance ist eine Chance. Gebt mir eine Chance, auch wenn es nur für die Akten ist: Öffnet die Arena!
Sie kommen, zwei Frauen und ein Mann. Sie entscheiden über drei Jahre meines Lebens, oder fiel die Entscheidung bereits im Hintergrund. Somit doch: Alibi-Ossi. Der Raum wird geöffnet: klein, in der Mitte ein runder Tisch. Oben eine Linie Fenster, durch die das faulende Laub hereinlugt. Papier ablegen, lächeln, ich warte, Manieren zeigen, da die Geste, dass auch ich mich setzen solle.
Die Tischkante amputiert die Unterleiber. Eine der beiden Frauen sitzt mir gegenüber. Vor ihr liegt ein Stapel Papier. Rechts von ihr Frau Nr. 2, vor ihr ein einzelnes weißes Blatt, ebenso vor dem Mann links. Daraus schließe ich, dass die Dame vor mir die Chefin vom Ganzen ist. Ihre Augen blitzen mich hellbraun an. Dünne Finger kramen im Papierstapel. Ihre Stirn furcht sich und schiebt das kurz geschorene graue Haar nach oben.
Gegenseitiges Vorstellen. Mir gegenüber Frau Professor. Sie glaubt, jeder müsse sie kennen. Ich kenne sie nicht, habe ihren Namen noch nirgendwo gelesen, aber vielleicht lese ich das Falsche. Der Mann links: Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Wahrscheinlich steckt sein Kopf gerade im Hintern eines für ihn Drittmittelanträge unterschreibenden Professors. Von rechts lächelt mich ein jüngerer Frauenmund an.
Die erste Frage von Frau Professor! Jetzt weiß ich eins: Mein Exposee hat diese Person nie gelesen! Ergo: Vorhaben erläutern. Es entwickelt sich eine Art Gespräch. Die nächste Frage wabert von rechts außen heran – der Mann darf erst reden, wenn die Frauen fertig sind (das ist in anderen Situationen durchaus richtig). Ich solle über mein Studium berichten, welche Schwerpunkte usw. (usw.!). Ich berichte ihnen, dass ich zum größten Teil Seminare nach Oxforder Modell besucht habe. Erstaunen glättet das Gesicht mir gegenüber. Ganz verwirrt fragt sie nach, ob es das denn wirklich an einer Uni im Osten gäbe. Mein Opportunismus zerbricht, zerspringt, platzt.
Selbstverständlich gibt es diese Seminarform auch ‚im Osten’. Wir haben auch Strom seit wir endlich von ihnen befreit wurden und, Kohl sei Dank, auch eine Kanalisation. Sie nicken langsam ein ernstes Ja. Die Ironie haben sie nicht verstanden. Die Demontage beginnt! Jetzt darf der Mann auch mitmachen. Er fragt, wie man sich verhalten solle in einem diktatorischen System, das menschenfeindlich agiere. Ich denke an Heinrich Düring. Er wartet keine Antwort ab, sondern meint, dass es doch die Pflicht eines jeden Menschen sei, gegen