Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Konstruktion einer Stadt: Versuche
Konstruktion einer Stadt: Versuche
Konstruktion einer Stadt: Versuche
eBook105 Seiten1 Stunde

Konstruktion einer Stadt: Versuche

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

„Dieses Buch schrieb ich im Bauch von Berlin, als die Stadt noch ein ummauertes, gefesseltes Tier war.
Wenn man die Augen schloss, konnte man sein trauriges Knurren hören. Wenn ich an meine Berliner Winter denke, umschließt mich ein körperloses Grau, in dem nichts leichter fällt als sich zu verlieren. Was ich schrieb, waren wohl Protokolle des Verlusts. Ich veröffentliche meine tastenden Protokolle vom Nichtbegreifen des Tiers der Stadt mit großer Verspätung, jetzt, wo das alte Westberlin als Chimäre am Horizont verdämmert.“
Wolfgang Hermann legt mit Konstruktion einer Stadt Versuche vor, eine Stadt - Berlin - flanierend, beobachtend, träumend zu vermessen. Hermann ist kein einfacher Beobachtender, er ist ein mäandernder Requisiteur poetischer Miniaturen, die er - selbst staunend - in den Fundus der Wahrnehmungen urbaner Alltäglichkeit aufnimmt und so zu bewahren hilft.
SpracheDeutsch
HerausgeberLimbus Verlag
Erscheinungsdatum16. März 2015
ISBN9783990390573
Konstruktion einer Stadt: Versuche

Mehr von Wolfgang Hermann lesen

Ähnlich wie Konstruktion einer Stadt

Ähnliche E-Books

Noir für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Konstruktion einer Stadt

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Konstruktion einer Stadt - Wolfgang Hermann

    Wolfgang Hermann

    Konstruktion einer Stadt

    Versuche

    Dieses Buch schrieb ich im Bauch von Berlin, als die Stadt noch ein ummauertes, gefesseltes Tier war. Wenn man die Augen schloss, konnte man sein trauriges Knurren hören. Wenn ich an meine Berliner Winter denke, umschließt mich ein körperloses Grau, in dem nichts leichter fällt als sich zu verlieren. Was ich schrieb, waren wohl Protokolle des Verlusts. Ich träumte viel in dieser Stadt, Träume vom Geborgensein wie im Bauch eines schlafenden Tiers. Es waren Träume der Unruhe, ich träumte sie auf langen Fußwegen durch die zersplitterte Topographie einer verwundeten Stadt, von den Saumwegen entlang verrottender Bahnlinien hinaus an die Randzonen, wo die Ferngläser des Wachpersonals des anderen Deutschlands warteten. Ich veröffentliche meine tastenden Protokolle vom Nichtbegreifen des Tiers der Stadt mit großer Verspätung, jetzt, wo das alte Westberlin als Chimäre am Horizont verdämmert.

    Namen

    und sie leben in ihren Leibern wie in unbekannten Häusern welk und stumm und sie haben sie in Gebrauch wie ein Stück Holz wie Eisen wie Asche und sie gehen hierhin und sie gehen dorthin das Holz zu spalten das Eisen zu behauen die Asche zu streuen, so haben sie sich selbst in Arbeit, als Leib, als Kran, als Wasserschlauch, als Leibeigene. Was über all dem geschieht – das alles hat Namen, aber keiner will von denen wissen –, wie sie sich in Gebrauch haben, wie sie Buch führen, wie sie Ziffern zu Ziffern zählen und andere von ihnen abziehen und nach Maßen Häuser errichten, in denen sie als Körper wohnen mit Augen und Ohren oder ohne Sichtbares und ohne Hörbares. Was dem an Unzählbarem hinzukommt verkennend, so leben sie, oder aber sie zählen es hinzu, haben eigene Namen und Männer und Frauen für dies und jenes, aber die Namen betrügen sie nicht, die kommen wieder als schlechtes Geschick, als Unglück oder als Menschenfalle. Aber sie unterscheiden nicht zwischen Kehle und Stimme, zwischen Arm und Gewicht, und sie wissen nicht von Innen und Außen des Körpers. So leben sie, Spiegel in den Augen, und atmen Rauch und träge Luft aus Schächten und füllen ihre Münder mit unerkennbarer Nahrung und mit Teilen aus Zungen und Gerede und Nachgeahmtem. Wie im Schlaf sprechen sie, und sie sagen es ist gut, sie sagen gut gut sprich nur sprich, und sie haben keine Augen zu sehen aber sie geben vor zu sehen und keine Münder aber sie sprechen öffnen Schächte schließen Gefäße. Nach allen Seiten suchen sie die Ausgänge aus diesem Leben, das nicht das ihre ist. Klopfen alle Wände ab nach der Möglichkeit der Flucht. Finden nichts als Hände, die an den Wänden klopfen, ihre eigenen Hände, im Leeren. Sie haben sich in ihr Leben verrannt wie in einen dunklen Tunnel. Niemand kennt den Ausgang. Sie leben mit gestundetem Wissen, blind, taub, öffnen Türen ohne Sinn. Eines Tages verharren sie, sehen sich um, sie werden nicht mehr sprechen. So denken sie und hören doch nicht auf zu sprechen, in allen Sprachen delirieren sie. Sie sagen ‚Ich wohne in Stadtstadt‘, sie sagen ‚Mir ist als ob‘, sie sagen ‚Ich bewohne ein Haus‘, sie sagen ‚Meine Frau heißt‘, sie sagen ‚Meine Frau hat einen Namen‘, und sie schweigen den Namen, schweigen ihren Körper und die Dinge, die durch ihren Körper gehen, sie schweigen ihr Leben, das ein Kreis ist, ein Gefäß ohne Henkel. ‚Wenn ich das Haus verlasse, sieht die Welt aus, als hätte ich sie noch nie gesehen‘: so sprechen sie mit ihren Zungen und Mündern, andere haben Ohren und nicken. Das alles geschieht vor den Augen aller.

    Die Poren verstopft wagen sie sich nicht aus ihren kleinen Häusern. Sterben vor Angst, das ist Gesetz. Lieber Maus sein als einmal freien Wind atmen. Und was sagen sie? Sie sagen ‚Beim Friseur fühle ich mich am wohlsten‘, sie sagen ‚Jeder seines Glückes Schmied‘ und gehen an die Arbeit, körperlos in Körpern, blutleer in der Lache ihres Blutes, Stachel im Herzen. So haben sie sich ihre Eingeweide verdorben, die Krankheit der Vergiftung ist gekommen und bei ihnen geblieben. Sie hat alles in ihnen umgekehrt, aus Rot ist Weiß geworden, aus dem Leben der Hände ist die Fallsucht entstanden, und mit dem Widerhaken des Geschlechts haben sie ihr Blut zerstört. Sie träumen von allem, was sich wiederholt, sich umkehrt, sie träumen davon, dass ein Ding mit einem andern übereinstimmt, und schon fallen sie, haben keine Zeit nach dem Rechten zu sehen. So sind sie von Geheimnissen umgeben, ein Geheimnis ist ins andere gelegt, eine Tür öffnet sich und ein neues Geheimnis entströmt, und wenn sie schläfrig in der Bäckerei die Form einer Frau ausmachen, so sind sie wie erweckt und die Verwandlung macht aus ihnen einen andern. Und was nachgeahmt ist in Körpern als Stempel, als Blume, als Töpferei oder Form menschlichen Abdrucks, es wächst ihnen entgegen, Wildwuchs erstaunten Wiedererkennens. Im Traum sehen sie Sümpfe, Dschungel, Geflechte, Ungeheuer, sie schlagen jemanden, sie erwachen, sie fragen ‚Warum bin ich hier‘, sie verstehen nicht, aber es muss etwas mit Gott zu tun haben, dem namenlos Beispielgebenden. Und sie übertreiben, um das Maß wiederzufinden, sie sagen ‚So groß‘, sie zeigen es und meinen die Hälfte. Das Maß, fragen sie selbst, welches ist es, sie haben Halterungen, Gefäße, in welche sie alles gießen, und der Stempel ist die Form. Aus solchen Berechnungen, Vervielfältigungen von Stufen und aus Gewohnheit entsteht der Mann, die Frau, und jeder wohnt in der einen oder andern Hülle, sei es Mann oder Frau. Und sie ahmen Häuser nach, mit Tisch, Wiege und Bett, und das Fernsehen bringt ihnen abends den Bescheid. Sie sind die Zimmerleute ihres eigenen Bluts und dessen ihrer Kinder und wo ein Name genannt wird, da folgt Verstehen.

    Ein Freund

    Es ist Winter und die Bänke in den U-Bahn-Stationen am Hauptbahnhof füllen sich. Obdachlose sitzen mit hängenden Köpfen beisammen. Sie haben raue Stimmen und wenn sie lachen, fürchten sich die Kinder. Eine Flasche Schnaps geht von Mund zu Mund. Die Passanten halten ein paar Schritte Abstand zur Bank der Obdachlosen. Sie schauen vor sich hin.

    An einer Säule beim Treppenaufgang lehnt ein Schwarzer mit roter Mütze und leuchtenden Augen. Er redet mit sich selbst, zeigt mit dem Finger auf sich, schlägt sich selbst auf die Wange. Seine Augen blitzen. Die Passanten schauen an ihm vorbei.

    Die meisten starren vor sich hin. Sie wirken erschöpft. Es ist Wochenanfang und die Arbeit steht den Menschen ins Gesicht geschrieben. Am Wochenende haben sie andere Augen. Sie sind nicht unbedingt glücklicher. Aber sie haben mehr Raum.

    Auf den Straßen um den Hauptbahnhof herrscht großes Gedränge. Die Intervalle der Ampeln sind für die Fußgänger so kurz, dass sie einander anrempeln. Man hört kurze, zischende Flüche. Ein eiskalter, rauer Wind weht den ganzen Tag um die glatten, unverbunden stehenden Hochhäuser des Bahnhofsviertels. Alles ist abweisend und kalt und es gibt keinen Mantel, der gegen die Kälte schützt. Das Schwerste ist, in dieser großen Unruhe einen einzigen Gedanken zu verfolgen. Die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1