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Leben mit Karin: Liebevolle Erinnerungen
Leben mit Karin: Liebevolle Erinnerungen
Leben mit Karin: Liebevolle Erinnerungen
eBook531 Seiten7 Stunden

Leben mit Karin: Liebevolle Erinnerungen

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Über dieses E-Book

45 Jahre durfte durfte ich eine wundervolle Frau in inniger Gemeinschaft lieben und wurde von ihr geliebt, bis ihr früher Tod sie mir nahm. Bis wir zusammen leben konnten, wechselten wir eine große Zahl langer Briefe, von denen hier nur eine kleine Auswahl der schönsten und wertvollsten abgedruckt ist. In dieser Zeit hatte ich einen schweren Unfall und verzweifelte, wurde aber von Karin liebevoll aufgefangen. Die vielen Jahre der Gemeinschaft, in der wir vier Kinder erfolgreich großzogen und Karin mir bei meinen beruflichen Erfolgen den Rücken freihielt, waren die schönsten meines Lebens. Nach Karins Tod habe ich aus einem Teil unserer Briefe und vielen schönen Erinnerungen dieses Buch zusammengestellt, um die Erinnerung an sie zu bewahren und auch an andere weiterzugeben.
Wenn ein Mensch einem anderen in Liebe begegnet, ist Gott in ihm. Nie kommt seine Würde, seine Innigkeit, seine ureigenste Bestimmung schöner zum Ausdruck als in diesem Moment, und das geschieht gleichermaßen im Handeln des Samariters wie in der innigen Begegnung.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum9. Juli 2021
ISBN9783754141021
Leben mit Karin: Liebevolle Erinnerungen
Autor

Ernst-Günther Tietze

Dipl.-Ing. Ernst-Günther Tietze, hat in seiner beruflichen Tätigkeit die zentrale Führung und Überwachung von Versorgungsnetzen durch zahlreiche Veröffentlichungen maßgeblich beeinflusst. Zur Belletristik ist er erst im Ruhestand gekommen. Seit 2000 hat er mehrere Romane geschrieben und veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Leben mit Karin - Ernst-Günther Tietze

    Prolog

    Im Alter von 16 Jahren kam ich 1947 zur Evangelischen Jugend und einige Zeit später zur Christlichen Pfadfinderschaft (CP), einer straffer organisierten Gruppierung innerhalb der Evangelischen Jugend. Mein Spitzname war „Fyps". Ab 1949 führte ich eine Jungengruppe und begann ab 1951, an der Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde in Berlin-Zehlendorf einen Stamm der CP aufzubauen, eine größere Gemeinschaft mehrerer Gruppen. 1955 wurde der Stamm mit etwa 50 Jungen in fünf Gruppen offiziell bestätigt.

    Im Frühjahr 1953 verliebte ich mich in Dietlind, die Schwester meines Pfadfinderkameraden Hartmut Teuffel, die aus Kleinmachnow bei Berlin in die Pfalz übersiedelte. Wir schrieben uns lange Briefe, konnten uns aber nur selten sehen. Mitte 1954 verunglückte sie tödlich. Ich wollte nicht mehr weiter leben, und nur mein Freund Bringfried, der mir 600 km zur Beerdigung nachfuhr, bewahrte mich vor Verzweiflung und furchtbaren Dummheiten. Doch in tiefer Trauer lebte ich die nächsten zwei Jahre wie ein Mönch.

    Dann lernte ich Karin kennen und lieben. Die folgenden Erinnerungen, Brief- und Tagebuchausschnitte beschreiben das Entstehen und Bestehen dieser wundervollen, mehr als 45 Jahre währenden grenzenlosen Liebe zwischen uns. Die ersten zwei Jahre, in denen wir getrennt lebten, sind durch Briefe gut dokumentiert, alle folgenden nur durch Erinnerungen, einige Briefe und Reisetagebücher.

    Selten gab es Unstimmigkeit und Streit zwischen uns und stets gelang es uns dabei, den Partner als geliebten Menschen mit lediglich konträrer Meinung zu achten und seine Würde zu wahren. Nie dauerte eine Meinungsverschiedenheit über den Tag hinaus. Bei allem, was uns begegnete, waren wir ganz sicher, den Partner viel stärker zu lieben, als irgend jemanden oder irgend etwas anderes. Wir beide wussten um den Wert des Satzes „Liebende leben von der Vergebung". Ich habe die Vergebung der geliebten Frau oft genug gebraucht – und bekommen. Dass wir sehr oft zur selben Zeit genau das Gleiche dachten, war uns der Beweis einer seelischen Übereinstimmung, wie sie nur aus tiefer Liebe entsteht.

    Kein Dichter hat das Wunder der körperlichen Gemeinschaft zwischen Liebenden so großartig ausgedrückt wie Christus: „ ... und sie werden sein ein Fleisch." Uns war dies immer wieder ein Wunder, das deshalb auch zur Dokumentation unserer Liebe gehört.

    1. Zueinander finden

    1956

    Für die Osterferien plane ich eine Fahrt mit meinem Stamm nach Westdeutschland. Bringfried empfiehlt mir St. Andreasberg im Harz, wo er die Jugendherberge kennt. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Wir sind dort mit einer Familie befreundet, bei der du für die Vorbereitung unterkommen kannst. Du kennst auch die Tochter, sie hat in Fräulein Murachs Kunstgewerbeladen gearbeitet". Das ist ein starkes Argument: Im Geiste sehe ich ein anmutiges blondes Mädchen in dem kleinen Laden sitzen und sticken.

    Mit Nepf fahre ich im März nach St. Andreasberg, um die Unterkunft in der Jugendherberge und einen Abend mit der Gemeinde zu vereinbaren. Deine Familie beherbergt uns freundlich. Und du bist, obwohl 20 Jahre alt und reifer geworden, noch genau so anmutig wie früher in Zehlendorf: schlank mit langen blonden Haaren und blaugrauen Augen mit einem goldenen Rand der Iris in deinem schönen, offenen Gesicht. Mit einem Mal weiß ich, dass ich nun lange genug um Dietlind getrauert habe.

    Du erzählst später, dass du überlegt hast, wer dieser Ernst-Günther Tietze sei, als ich euch schrieb. Mitten in der Nacht bist du dann aufgewacht und hast mein Gesicht vor dir gesehen.

    Das Lager ist ein voller Erfolg. Neben vielen Streifzügen durch die schöne Gegend gestalten wir einen offenen Abend mit Sketches, Liedern und einem von mir erarbeiteten Laienspiel über den Philemonbrief. Ich freue mich, dass du unter den Zuschauern bist.

    Aus Berlin schreibe ich einen Dankesbrief an deine freundlichen Eltern, in dem ich einen kleinen Angelhaken für dich verstecke:

    Berlin, den 13. 4. 56

    Liebe Frau Elsholz, ... es gibt nur eine Meinung in meinem Stamm: St. Andreasberg ist dufte! Ob es nun die Gegend war oder die freundliche Aufnahme oder der offene Abend oder einfach alles zusammen, ich weiß es nicht. – Zu dem Abend möchte ich Roswitha bitten, mir eine ehrliche Stellungnahme zu schicken. Denn wer etwas gestaltet, ist meist davon eingenommen, braucht jedoch Kritik für das weitere Wirken. Ich wäre ihr sehr dankbar.

    Und nun herzliche Grüße, auch an Ihren Gatten und die Töchter, und es war nicht das letzte Mal, dass ich in St. Andreasberg war. Dazu ist es zu schön dort. Ihr Ernst-G. Tietze

    St. Andreasberg, den 16. 4. 56

    Lieber Fyps! Ich freue mich, dass Sie so bald etwas von sich hören ließen. ... Gerne sage ich Ihnen meine persönliche Meinung über den offenen Abend. Im Großen und Ganzen waren wir doch alle recht beeindruckt, und eine kleine Aufpulverung war für uns bestimmt auch nötig. Ich persönlich hatte mir allerdings vorgestellt, dass wir uns zusammensetzen, Sie uns mit Ihrer Gruppe über Ihre Arbeit berichten und wir zusammen darüber diskutieren. Hinterher habe ich allerdings erkannt, dass da wohl die Altersunterschiede zu groß waren und sich die Jüngeren wahrscheinlich gelangweilt hätten. Es ist eine gute Lösung, der Jugend auf diese Art Ihr Ziel als Pfadfinder darzulegen. Bei Älteren würde ich es aber keinesfalls dabei belassen. Ich denke, dass wir uns darüber auch mal persönlich unterhalten können.

    Jedenfalls wünsche ich Ihnen für Ihr weiteres Studium alles Gute und ich würde mich freuen, wenn Sie uns bald wieder aufsuchen würden. Recht herzliche Grüße,       Ihre Roswitha

    Berlin, den 6. 5. 56

    Liebe Roswitha, Sie haben mich ohne Umschweife mit „Fyps angeredet und ich freue mich darüber. Nun müssen Sie auch gestatten, dass ich die gleiche Art der Anrede wähle. Herzlichen Dank für Ihren Brief ... und besonderen Dank für die Kritik an unserem Abend. Ich muss etwas berichtigen: Wäre ein vernünftiger Kreis da gewesen, hätten wir den Abend mehr auf Gemeinsamkeit aufgezogen. Da ich aber im März festgestellt habe, dass keine Gruppe existiert, entschied ich mich mehr für ein generelles Ansprechen aller Gäste, besonders, da der Abend ja als „offen deklariert war. ...

    Das Lager in St. Andreasberg ist immer noch Gespräch bei meinen Jungen. Und dass dieses Lager geplant und durchgeführt werden konnte, ist weithin der Hilfe Ihrer Familie zu verdanken.

    Wie gut es mir gefallen hat, zeigt die Tatsache, dass ich überlege, ob ich Pfingsten einmal vorbei komme, um die Gegend bei schönem warmem Wetter zu besehen. Aber das ist noch nicht klar. Trotzdem würde ich mich über eine gelegentliche Antwort von Ihnen freuen. Nun recht herzlich Grüße, Ihr Ernst-Günther

    St. Andreasberg, den 16. 5. 56

    Lieber Fyps! Recht herzlichen Dank für Ihren Brief. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Vielleicht klappt es, dass Sie zu Pfingsten herkommen können. Es ist jetzt gerade eine schöne Zeit. Wir würden mit Ihnen auch tüchtig herum strolchen. Falls es nichts wird, sollen Sie wenigstens einen Pfingstgruß von mir bekommen. Sie haben es gut. Als Pfadfinder kommen Sie sicher schön herum. ...

    So langsam regt sich auch in unseren Kreisen wieder etwas. Wir wollen ein Laienspiel aufführen und uns mit anderen Gruppen in Verbindung setzen. Ein gewisser Stamm von Jugendlichen ist vorhanden. ... Ich hoffe, dass es bald wieder aufwärts geht.

    Nun will ich schließen. Wie schon erwähnt, wünsche ich Ihnen gesegnete Pfingstfeiertage, wenn Sie sie nicht bei uns verbringen wollen und grüße Sie herzlich, Ihre Roswitha

    Berlin, den 21. 5. 56

    Liebe Roswitha, nun hat es doch nicht geklappt, dass ich zu Pfingsten kommen konnte. Es ist aber derartig viel liegen geblieben, was ich in den freien Tagen erledigen muss, dass es unverantwortlich gewesen wäre wegzufahren. Doch es ist mir schon schwer gefallen, Ihre freundliche Einladung auszuschlagen. ... Mein Schrieb ist nicht nur Antwort auf Ihre Zeilen – also endlich recht herzlichen Dank dafür – sondern eine Revolution gegen das, was ich schon den ganzen Tag tue. Ich habe die Vorlesung über elektrische Schaltanlagen erst einmal mit Gewalt beiseite gelegt, um Ihnen zu schreiben.

    Es stimmt schon, dass wir viel umher kommen als Pfadfinder. Und ich möchte die Jahre nicht missen, in denen ich so auf Fahrt ging. Sie sind die schönsten, die ich erlebt habe. Leider wird dieses Jahr wohl vorläufig das letzte sein. Denn wenn ich erst im Beruf bin und zwei Wochen Urlaub im Jahr bekomme, lässt sich nicht mehr allzu viel machen. Außerdem werde ich ja auch immer älter.

    So gebe ich die Führung meines Stammes wahrscheinlich schon Anfang Juli ab. Das hat zwei Gründe, einmal weil ich im Spätsommer fast ¼ Jahr nicht in Berlin bin – ich gehe erst auf Fahrt nach Frankreich und arbeite dann in Hamburg im Elektrizitätswerk – zum anderen aber auch, weil ich im Winter ins Examen steige. Und die Führung eines solchen Stammes nimmt einen doch außerordentlich in Anspruch, wenn etwas Vernünftiges heraus kommen soll. ...

    Ich freue mich, dass Sie so persönlich von dem Kreis dort berichten. Das klingt ja, als ob Sie wieder aktiv mit arbeiten. Nach Ihrem Bericht im März war das noch nicht so der Fall. Sie haben bestimmt nicht zu Hause gesessen an den Feiertagen, sondern sind „umher gestrolcht" und ich beneide Sie darum. Den Besuch jedoch, den ich Pfingsten vor hatte, hole ich bestimmt einmal nach. Denn noch gibt es genug, was ich von St. Andreasberg und seiner Umgebung nicht gesehen habe. Ich werde also demnächst mal für ein Wochenende hinüberkommen.

    Etwas fällt mir noch ein: Wenn Sie in der Evangelischen Jugend mitarbeiten, könnten wir doch, wie es unter diesen Mädchen und Jungen üblich ist, das feierlich „Sie" fallen lassen. Schreiben Sie mir doch bitte Ihre Meinung dazu. – Und nun sende ich Ihnen die herzlichsten Grüße,      Ihr Ernst-Günther

    St. Andreasberg, den 10. 6. 56

    Lieber Fyps! Ich werde also von dem netten Angebot, uns Du zu sagen, gleich Gebrauch machen. Ich habe mich über Deinen Brief gefreut, trotz Deiner wenigen Freizeit und muss mich nun ein bisschen schämen, dass es bei mir so lange gedauert hat. Es ist trotzdem nicht weniger herzlich gemeint. ...

    Um auf die Evangelische Jugend zu kommen, ich bin wieder ganz dabei und habe den Chor unserer Firma, der gerade auf den Mittwoch fällt, dafür aufgegeben. Mit den jüngeren Pfarrersleuten, die noch nicht lange hier sind, ist schon eher etwas anzufangen. Ganz davon abgesehen, dass wir oftmals unsere Kreise selber abhalten. ...

    Am Donnerstag waren wir alle in der Kirche zu dem Spiel „Kain und Abel", das hier von Künstlern der Evangelischen Akademie aus Braunschweig aufgeführt wurde. ... Bei Kain geht es um einen Klumpen Gold, der ihm alles bedeutet und mit dem er auszieht, um die Welt zu erobern, nachdem er Abel umgebracht hat. Das Spiel hat uns alle zum Nachdenken angeregt. ...

    Ich hoffe, dass Du noch einmal bei uns vorbeikommst, bevor Du auf Fahrt gehst und wir gemeinsam im Harz wandern können.

    Nun wünsche ich Dir alles Gute und sende Dir die herzlichsten Grüße,                        Deine Roswitha

    Berlin, den 12. 6. 56

    Liebe Roswitha, ich habe schon auf Deinen Brief gewartet, ... weil ich Euch Ende dieser Woche einen kurzen Besuch abstatten will. Ja, es ist wahr: wenn mir nichts Entscheidendes dazwischen kommt, treffe ich am Freitag Abend in St. Andreasberg ein und bleibe bis Sonntag am späten Nachmittag. Was kann man in dieser Zeit anfangen? ... Für den Abend wäre ich nicht abgeneigt, tanzen zu gehen. Ich weiß nicht, wie das im Harz ist. Am Sonntag ist ja dann noch genug Zeit. Vielleicht können wir zum Gottesdienst in ein kleines Dorf gehen.

    Ich habe mich gefreut, dass Du auf meinen Vorschlag eingegangen bist. Das „Sie" klingt immer so fremd und unpersönlich. ...

    Über alles andere können wir uns ja am kommenden Wochenende direkt unterhalten. Ich freue mich schon sehr auf den Besuch bei Euch, weil ich mal wieder aus der Großstadt raus muss. Aber das ist nicht der einzige Grund.

    Nun recht herzlichen Gruß, Dein Ernst-Günther

    Erinnerung: 15. – 17. 6. 56 im Harz

    Trotz der schon vertrauten Briefe sind wir uns noch etwas fremd. Ich schenke dir mein Zeichen der Evangelischen Jugend, das ich vor Jahren selbst angefertigt habe. Du freust dich sehr darüber. Wir strolchen in der Gegend umher und gehen am Abend tanzen. Auf dem Heimweg erzähle ich dir, dass dies mein erster richtiger Tanz seit zwei Jahren war, weil ich so lange um Dietlind getrauert habe.

    Der Sonntagvormittag gehört dann ganz uns beiden. Wir wandern durch den schönen aufblühenden Wald in Richtung zur Sprungschanze, ohne uns sehr an die Wege zu halten. Als wir an einem Hochsitz vorbei kommen, schlage ich vor, hinauf zu klettern. Wir schauen hinaus auf die Gegend, doch ich sehe nur dich, du wunderbares Mädchen, und mir wird immer wärmer ums Herz. Zu gerne würde ich dich küssen, doch ich weiß nicht, ob du schon dazu bereit bist. Und du bist mir zu wertvoll, um dich zu erschrecken und vielleicht zu verlieren.

    Du merkst wohl, was in mir vorgeht. Du lächelst mich freundlich an und sagst ganz ruhig: „Komm, lass uns wieder hinabsteigen." Die Spannung in mir löst sich und ich folge dir, dankbar, dass dein feiner Takt mir die Sache so leicht macht. – Als wir uns abends am Bus verabschieden, gebe ich dir die Hand. Doch du legst auch deine linke noch dazu und drückst sie mir ganz fest. Glücklich wie schon lange nicht mehr fahre ich durch die Nacht nach Berlin zurück.

    Berlin, den 18. 6. 56

    Liebe Roswitha, damit Du ruhig schlafen kannst: Ich bin gut angekommen. Kurz vor sieben war ich heute früh zu Hause und wie geplant um acht in der Schule. Doch meine Gedanken waren viel mehr bei Dir als bei elektrischen Maschinen. ...

    Liebes Mädel, Du wirst gemerkt haben, was jene Tage für mich bedeutet haben: ein langsames Neu-Einfinden in eine Welt, von der ich vor zwei Jahren glaubte, dass ich mich nie wieder hinein finden könnte. Denn wenn ich erwähnte, dass ich Dietlind sehr gern hatte, so ist das außerordentlich schwach ausgedrückt. Ich habe sie geliebt mit meiner ganzen Liebesfähigkeit.

    Ungefähr ein Jahr nach ihrem Unfall habe ich zuweilen etwas getanzt, aber die vollständige innere Freiheit und Gelöstheit von jenem Geschehen suchte ich vergeblich. Du hast mich von diesem Gefühl befreit, unfähig zu sein, noch einen Menschen gern zu haben; ein Griesgram geworden zu sein. Dafür danke ich Dir von Herzen. Gleichzeitig möchte ich Dich aber auch bitten, Geduld mit mir zu haben, wenn jetzt einiges in meiner Erinnerung auftaucht, was ich bisher gewaltsam unterdrücken musste, um nicht wahnsinnig zu werden. Ich werde Dir, wenn wir uns gut genug kennen, alles erzählen, was zwischen Dietlind und mir war, weil ich glaube, dass das auch zur Ehrlichkeit zwischen uns gehört. Also noch mal: Hab’ bitte Geduld mit mir. ... Sage bitte Deinen Eltern noch einmal herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme und sei selbst von Herzen gegrüßt von                  Deinem Ernst-Günther

    Ich ging im Walde so für mich hin

    und nichts zu suchen, das war mein Sinn.

    Im Schatten sah ich ein Blümchen steh’n,

    wie Sterne leuchtend, wie Augen so schön.

    Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein:

    „Soll ich zum Welken gebrochen sein?"

    Ich grub’s mit all seinen Wurzeln aus,

    zum Garten trug ich’s an meinem Haus.

    Und pflanzt’ es wieder an stillem Ort,

    nun zweigt es immer und blüht so fort.

    Johann Wolfgang von Goethe

    St. Andreasberg, den 21. 6. 56

    Lieber Ernst-Günther! Erst mal tausend Dank für Deinen lieben Brief und besonders für das schöne Gedicht, das Du sehr gut ausgewählt hast und ich sehr fein finde. Ich denke noch viel an unser gemeinsames Wochenende. Es war wirklich wunderbar für mich, sicher so wie für Dich. Ich mache mir nur Gedanken um Dich. Gewiss, ich kann mir vorstellen, dass Du jetzt viel in Dir zu verarbeiten hast mit dem, was Du mir schriebst von Dietlind. – Ich möchte Dir einen Vorschlag machen. Hoffentlich verstehst Du mich richtig. Wollen wir das, was gewesen ist, nicht lieber ruhen lassen? Ich möchte Dich nicht unnötig quälen und Dir weh tun mit dem, was nicht mehr zu ändern ist. ... Wenn wir beide Geduld miteinander haben, kann es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang kommen. Wenn es Dich aber befreit, Dir alles vom Herzen zu sprechen, dann will ich Dir gerne helfen.

    Einstweilen solltest Du Deine Gedanken beim Studium haben, weil es jetzt doch für Dich schwierig wird. Nach dem zu urteilen, wie ich pünktlich an Dich und Deine Arbeit heute gedacht habe, könntest Du sie gar nicht verhauen haben. ... Im Übrigen hat noch keine von unseren Mädels mein EJ-Zeichen entdeckt. Du glaubst gar nicht, was Du mir mit diesem Zeichen für Freude bereitet hast, schon weil Du es selber gemacht hast. – Lieber Ernst-Günther, ganz herzliche Grüße von mir, Deine Roswitha

    Berlin, den 24. 6. 56

    Liebe Roswitha, ich hatte schon gehofft, dass ich gestern nach der Schule Post von Dir vorfinden würde und wirklich, Dein lieber Brief war da. Herzlichen Dank dafür. Ich hätte gestern schon geantwortet, aber ich hatte am Nachmittag meine ersten 1½ Stunden Fahrschule, und abends war ich zu einem Fest von Nuddles Klasse geladen.

    zu 1: Ich habe mir das Autofahren viel schwieriger vorgestellt. Gewiss, ich habe noch manches falsch gemacht, z. B. vergessen, den Winker nach der Kurve wieder hereinzunehmen, aber im Großen und Ganzen ist es ein Kinderspiel. Ich werde also gar nicht viele Fahrstunden brauchen und freue mich schon auf die Prüfung.

    zu 2: Ich bin seit Jahren nicht mehr so fröhlich und unbeschwert gewesen, wie auf dem Klassenfest. Wer daran Schuld ist? Du! Seit dem gemeinsamen Wochenende sieht die Welt ganz anders aus. ...

    Ich glaube, Du hast mich im letzten Brief etwas missverstanden. Ich meinte, dass ich manche schöne Erinnerung unterdrückt habe, weil sie sich sonst in einen Stachel verwandelt hätte. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Es ist nicht so, dass ich gewesenen Dingen nachhänge. Dazu ist mir die Notwendigkeit des Leidens viel zu klar geworden. So quält mich auch der Gedanke an das Gewesene nicht, sondern ich bin froh, dass ich schon so Schönes erleben durfte, wenn ich auch glaube, dass ich noch viel Schöneres zu erleben habe. Eben deshalb hoffe ich, dass es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang kommen kann.

    Und da das nun einmal ausgesprochen ist, kann ich auch das andere sagen, dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe und hoffe und bete, es möge zwischen uns eine Liebe wachsen, die das Leben überdauert. Deshalb aber meinte ich, es gehöre zur Ehrlichkeit, dass wir uns ganz kennen lernen, auch mit dem, was gewesen ist. Dass jeder von uns eine Menge Geduld mit dem anderen wird aufbringen müssen, ist mir auch klar. ...

    Liebes Mädel, eines vergaß ich Montag: Als ich morgens die Losung aufschlug, stand dort: „Bis hierher hat uns Gott geholfen." Ein feines Wort und genau für uns passend, nicht wahr? Nun sei Du von Herzen gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

    St. Andreasberg, den 29. 6. 56

    Lieber Ernst-Günther! Recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich habe mich sehr gefreut, wie immer, wenn ich Post von Dir bekomme. Ich freue mich auch, dass ich Dir so viel bedeuten kann, dass Du wieder froh und frei bist und in die richtigen Gleise zurückfindest. Mir bedeutest Du sehr viel. Du hast mir schon einiges zu denken gegeben und ich bin dankbar, dass ich Dich überhaupt kennen gelernt habe. Durch Dich habe ich erst mal so einen kleinen Aufschwung bekommen. Du hast auch bewirkt, dass ich mich jetzt als Jungscharleiterin betätige. Ich helfe der Inge, eine Rasselbande von 25 Mädchen zusammen zu halten. Sie sind alle freudig dabei und mir macht es auch viel Spaß. – Inge und ich, wir würden gern vom 10. bis 21. September zu einem Jugendgruppenleiterkurs nach Hessen fahren. Schreibe mir doch bitte, wann Du im September zu uns kommen kannst, damit ich weiß, ob ich zusagen kann. ...

    Nun lieber Ernst-Günther, ich werde aufhören zu schreiben. Es ist schon spät. Ich sende Dir ganz herzliche Grüße, Deine Roswitha

    Berlin, den 2. 7. 56

    Liebe Roswitha, ich bin eben aus dem Kino gekommen: „Ich denke oft an Piroschka". Wenn es diesen Film bei Euch gibt, musst Du unbedingt hingehen. Er hat etwas Befreiendes an sich und zwingt dadurch den Zuschauer zu einem inneren Lächeln, wie über eine gelungene Überraschung. Solche Filme sind selten. Wenn er bis September nicht bei Euch war, werde ich ihn Dir erzählen.

    Nun erst mal herzlichen Dank für Deinen Brief. Ich hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. ... Da siehst Du, wie gefährlich Du bist: Jetzt warte ich schon darauf, dass von Dir Post kommt. Noch schöner aber wird es werden, wenn ich erst wieder bei Dir bin.

    Gestern habe ich meinen Stamm abgegeben. Samstag Abend hatten wir Thing auf einem kleinen Zeltplatz beim Kontrollpunkt Dreilinden. Siebzehn Jungen waren wir, die schon lange genug im Stamm sind, um beurteilen zu können, wer als neuer Führer in Frage kommt. Es wurde eine schwere Entscheidung. Endlich um 1:30 nachts war dann Nuddle gewählt. Du kennst ihn ja, mit der kaputten Skihose zu Ostern. Es ist immer wieder fein zu sehen, wie Jungen, die sonst nicht viel sagen, bei einer wichtigen Entscheidung verantwortlich und überlegt reden und handeln. Vor allen Dingen ist es schön, wenn man weiß, dass man den Jungen das erst beigebracht hat. Es war ein seltsames Gefühl, als ich gestern den Stamm ohne mich sah, den Stamm, den ich selbst aufgebaut habe, in dem ich jeden Jungen ganz genau kenne, manchen genauer als seine Eltern ihn kennen, von den Lehrern ganz zu schweigen. Irgendwie war ein Loch da, eine leere Stelle. ...

    Ich freue mich sehr, dass Du Dich dort jetzt betätigst. Es ist doch jeder, der irgendwie ein bisschen begriffen hat, gerufen, sich in den Dienst zu stellen und das weiterzugeben. ... Nur daraus resultiert die Freude, die sich auf jeden verantwortlichen Dienst einstellt. ...

    Es ist übrigens selbstverständlich, dass Du im September zu dem Jugendgruppenleiterkursus fährst. Wann ich kommen werde, liegt ganz in meiner Hand und ich werde mich danach richten. ...

    So mein liebes Mädel, jetzt ist es spät genug. Schreib mir bitte recht bald wieder und grüß zu Hause schön. Dir selbst auch die herzlichsten Grüße,      Dein Ernst-Günther

    Der Lausebengel

    Als Amor in den goldnen Zeiten

    verliebt in Schäferlustbarkeiten

    auf bunten Blumenwiesen lief,

    da stach den kleinsten von den Göttern

    ein Bienchen, das in Rosenblättern,

    wo es sonst Honig holte, schlief.

    Durch diesen Stich ward Amor klüger;

    der unerschöpfliche Betrüger

    sann einer neuen Kriegslist nach:

    Er lauscht in Rosen und Violen,

    und kam ein Mädchen, sie zu holen,

    flog er als Bien’ heraus und stach.

    Gotthold Ephraim Lessing

    St. Andreasberg, den 7. 7. 56

    Lieber Ernst-Günther! Ich danke Dir recht herzlich für Deinen Brief. Übrigens warte ich genau so sehnsüchtig auf Deine Briefe wie Du und freue mich dann jedes Mal schrecklich, wenn meine Mutti im Büro erscheint, denn sie kommt nur, um mir Post zu bringen. ... Dein Lausebengel ist ja allerliebst. Das Gedicht passt so recht zu Dir. Dieser kecke Amor könntest Du gewesen sein. Es ist wunderbar, dass es so einfallsreiche Dichter gegeben hat.

    Lieber Ernst-Günther, der Film „Ich denke oft an Piroschka" wird bei uns einen Tag vor meinem Urlaub gespielt. Wenn es irgend geht, werden wir ihn uns alle ansehen. ...

    Wenn morgen schönes Wetter ist, werde ich mit dem jüngeren Mädchenkreis eine Wanderung unternehmen. Wir bemühen uns, die Jüngeren bei unserer Arbeit mit einzuspannen. Das ist aber nicht so einfach. Darum ist es mir sehr recht, wenn ich im September zu dem Kurs fahre. Ich denke, dann bekommen wir doch eine bessere Einteilung und eine kleine Grundlage. Für Dich ist das natürlich kein Problem mehr, weil Du ja schon jahrelang in der Arbeit stehst. ...

    Lieber Ernst-Günther, ich kann mir vorstellen, wie schwer es Dir ums Herz war, als Du Deinen Stamm an Nuddle abgegeben hast. Wenn Du aber weißt, der andere macht seine Sache gut, so ist das sehr viel wert und Du kannst Dich freuen, dass Du so viel dazu beigetragen hast. Ich könnte mir auch gar nichts anderes vorstellen, als dass Du nach Deinem Examen wieder mitarbeiten wirst.

    Lieber Ernst Günther, ich kann unmöglich weiterschreiben. Heidrun und Jutta albern schrecklich herum. Jutta, die Tochter meiner Tante ist 16 Jahre alt, ein tolles Alter. – Besonders herzliche Grüße von mir, lieber Ernst-Günther, Deine Roswitha

    Berlin, den 11. 7. 56

    Liebe Roswitha, Dank für Deinen Brief. ... Gestern Abend war ich zu einer Verlobung eingeladen. Bei wem? Bei Bringfried. Da staunst Du? Ja Bringfried hat sich eben rangehalten, er ist der erste bei uns im Gau, der einen Ring trägt. Aber er hat gut gewählt. Ich kenne das Mädchen, natürlich auch aus der Evangelischen Jugend, genau so lange wie er und recht gut. Sie ist ein feiner und wertvoller Mensch. Du wirst sie auch einmal kennen lernen.

    Wie kommst Du denn darauf, mich mit Amor zu vergleichen? Ich bin doch ganz harmlos. Oder hast Du etwas anderes bemerkt? Dass aber jener kleine Lausebengel an einem Wochenende im Juni in der Gegend von St. Andreasberg sein (Un)Wesen getrieben hat, lässt sich nicht verheimlichen. So kam es auch, dass ich gestern Abend während der Feier nachdenklich unter den Brezelbuchstaben (russisch Brot) wühlte und dann schließlich eine Reihe von ihnen aß, bis mich die Mutter der Braut fragte, wer jene Roswitha sei, die ich eben mit Haut und Haaren verspeist habe. Alles schaute interessiert. ...

    So weise und abgeklärt bin ich ja nun nicht, dass Jugendarbeit gar kein Problem für mich wäre. Denn es gibt glücklicherweise immer noch genug Dinge, ... die nicht genormt sind, sondern neue Überlegungen erfordern. Natürlich kann ich vieles aus der Erfahrung herauslösen, das ist klar. Aber das ist eben Erfahrung und auch nicht in einem Gruppenleiterkurs lernbar. Geh also nicht mit zu großen Ambitionen dort hin. Viel mehr wert ist das Erlebnis der „Gemeinschaft im Dienst", d. h. derer, die sich genau wie Du mit dieser Aufgabe abmühen, weil sie den Auftrag dazu verspüren. ...

    Du kannst Dir gar nicht denken, wie sehr ich mich schon auf den Besuch im Herbst freue. Wir sollten in Göttingen oder Hannover ins Theater gehen. Wenn es doch nur nicht so lange dauern würde!

    Nun vorerst herzliche Grüße an Eltern, Schwester, Tante, Cousine etc. und ganz besonders an Dich, Dein Ernst-Günther

    Berlin, den 14. 7. 56

    Liebe Roswitha, ich bin zwar noch nicht wieder „dran" mit schreiben, aber da ich heute endlich das Jahrbuch des Evangelischen Mädchen-Pfadfinderbundes bekam, das ich Dir schon lange zugedacht habe, will ich es Dir gleich schicken. Es ist zum größten Teil aus dem CP-Jungenkalender übernommen worden ist, den wir in Zehlendorf für dieses Jahr gestaltet haben. Nur einiges typisch Jungenhafte ist durch Dinge aus dem EMP ersetzt worden. Im Inhaltsverzeichnis habe ich vermerkt, von wem von uns die einzelnen Seiten sind.

    Du brauchst nun nicht zu denken, dass ich Dich damit zur EMP locken will. Ich meine nur, dass Du manche Anregung für Deine Tätigkeit daraus beziehen kannst. Es ist auch ein Ausdruck der Freude, dass Du Dich so schnell bereit gefunden hast, etwas derartiges zu übernehmen. Nur darfst Du es nicht mir zu Gefallen tun. Wenn es nicht aus innerem Antrieb und innerer Freude geschieht, ist die Sache wertlos. Du wärest mir dann nicht weniger lieb, denn ich habe Dich als Mädchen lieb gewonnen und nicht als Jugendleiterin.

    Gestern hatte ich Fahrprüfung. Ich war „kühl bis ans Herz hinan". Das war mein Glück. Zu dritt rückten wir von meiner Fahrschule an, ich kam als einziger durch. Trotz kleiner Fehler gab mir der Prüfer den Schein, weil er gesehen habe, ich könne fahren. Da fiel mir doch ein Stein vom Herzen, den ich vorher gar nicht gefühlt hatte.

    So, Mädel, ich habe heute und morgen noch viel zu tun, denn der Semesterschluss ist nahe. Sei recht von Herzen gegrüßt von

    Deinem Ernst-Günther

    Sind die Kirschen reif geworden,

    rot und reif die Kirschen worden.

    Niemand darf die Kirschen nehmen,

    als ein Bursche, als ein Mädchen.

    Sagt der Bursche, sagt dem Mädchen,

    Antlitz tief in Scham errötet:

    „Deine Augen sind wie Sterne,

    ach, ein Leuchten deiner Augen!"

    Sagt das Mädchen, sagt dem Burschen:

    „Warum willst du nur das Leuchten?

    Nimm die Augen, nimm sie beide,

    beide Augen und das Mädchen."

    Aus dem Bulgarischen

    Pöhlde, den 15. 7. 56 (Ansichtskarte)

    Lieber Ernst-Günther! Gestern sind wir bei strahlendem Wetter angekommen und heute völlig eingeregnet. Das ganze Sportfest fällt aus. Wir wissen gar nicht mehr, wo wir uns aufhalten sollen, alles ist heute geschlossen. – Deinen lieben Brief habe ich erhalten. Ich schreibe Dir morgen einen Brief. Es ging leider nicht vorher. Herzliche Grüße,            Deine Roswitha

    St. Andreasberg, den 16. 7. 56

    Lieber Ernst-Günther! Endlich komme ich dazu, Dir zu schreiben. Habe vielen Dank für Deinen Brief. Sicher warst Du schon sehr ungeduldig. Dass ich Dir nicht früher schreiben konnte, lag daran, dass hier am Freitag, als Dein Brief kam, ein Studentenball stattgefunden hat, auf dem ich natürlich nicht gefehlt habe. 90 Studenten von der TH Braunschweig, alle im 2. Semester, hatten hier 10 Tage lang vermessen. Das war was für die Andreasberger Mädchen. Wir drei, Heidrun, Jutta und ich wurden, wie die anderen Mädels auch, von Studenten abgeholt. Der Abend war sehr schön. Ich erzähle Dir Näheres davon, wenn Du bei uns bist. Morgens um 4 Uhr waren wir wieder zu Hause, ziemlich unsolide, nicht wahr? ...

    Ich war sehr überrascht, als Du von Bringfrieds Verlobung schriebst. Das hatte ich noch nicht erwartet. Ich freue mich, dass er so ein nettes Mädel gefunden hat. Es ist doch immer schön, wenn zwei junge Menschen gemeinsam an die Zukunft denken können.

    Lieber Ernst-Günther, ich freue mich schon so sehr, wenn Du wieder kommst. ... Dass wir ins Theater gehen wollen, finde ich prima. Ich war das letzte Mal im vorigen Jahr in Lauterberg im Theater. Vielen Dank für Dein Gedichtchen, ich habe alle Deine Gedichte aufgehoben und lese sie immer wieder. Vielen Dank dafür.

    Lieber Ernst-Günther, ich werde jetzt schließen. Viele Grüße von allen. Jutta ist nicht meine Cousine. Meine Tante ist die Freundin meiner Mutter. Sei recht herzlich gegrüßt von Deiner Roswitha

    Berlin, den 22. 7. 56

    Liebe Roswitha, herzlichen Dank für Brief und Karte. ... Das ist vorläufig der letzte Brief, den Du aus Berlin bekommst, da ich Mittwochmittag fahre. Wir wollen zuerst in die Böhmerwaldklause, dann über Passau nach Wien und auf dem Rückweg nach Salzburg. Ich fahre dann nach Hamburg, wo ich bis Oktober als Werkstudent arbeiten werde. ... Vor Oktober sehen wir uns bestimmt. Darauf freue ich mich mehr als auf die ganze Sommerfahrt. Ins Theater sollten wir in Hannover oder Göttingen gehen. ...

    Du warst also schon wieder einmal tanzen. Ich muss sagen, Du lebst ganz gut. Waren die Studenten wenigstens nett? Aber ich freue mich ja genau so wie Du, wenn Du dort etwas Abwechslung hast.

    Die Zeilen auf dem Sonderblatt sind diesmal von mir. Sie können Dir vielleicht mehr als manches andere Wort von der Sehnsucht sagen, die mich manchmal überfällt. Wenn es uns doch gegeben sein möchte, einander diese Liebe zu schenken, die ein Leben lang reicht! Aber wir dürfen es uns nicht zu einfach machen. Denn dass vor mir kein einfaches Leben liegt, das habe ich schon gemerkt. Das ist wohl bei Christen überhaupt so.

    Mein liebes Mädel, ich wünsche Dir recht gute und fröhlich Urlaubstage. Erhol Dich gut und schöpfe viel neue Kraft. Herzlichen Gruß,                         Dein Ernst-Günther

    Als schneller Vogel möcht’ manchmal ich fliegen

    über die Grenzen und weit hinaus.

    Kann länger nicht über’m Schreibtisch liegen

    im dumpfen Haus.

    Möcht’ fliegen und schauen in Felder und Auen;

    über Fluss und Wald möchte ich fliegen ohn’ Halt,

    bis ich endlich die finde, die die Unrast überwinde.

    Als wilder Freier möcht’ manchmal ich ziehen

    über die Grenzen längs Straße und Rain.

    Kann nicht länger in die Arbeit fliehen

    so völlig allein.

    Möcht’ ziehn bis ans Ende zu suchen zwei Hände

    in Wald, Feld und Tal, im tanzwirbelnden Saal;

    möcht’ sehn, ob ich find’ ein liebendes Kind.

    Oh Vater im Himmel, so gib Deinen Segen,

    ein liebendes Weib lass doch finden mich neu,

    der ich den Kopf in den Schoß kann legen,

    die heimlich mir gibt wieder neue Stärke,

    dass weiter ich schaffe an Deinem Werke

    froh und treu.

    Pönitz, den 25. 7. 56 (Ansichtskarte nach Salzburg)

    Lieber Ernst-Günther! Es gefällt mir hier ausgezeichnet. Ich glaube, hier könnte ich mich wohler fühlen als im Harz. ... Lieber Ernst-Günther, noch einmal vielen herzlichen Dank für das Kalenderbuch des EMP. Ich habe es mitgenommen. Ich schreibe bald mehr. Recht herzliche Grüße, Deine Roswitha

    Pönitz, den 27. 7. 56 (nach Passau)

    Lieber Ernst-Günther! Recht vielen Dank für Deinen Brief mit Gedicht, ich hatte ihn erst am Freitag bekommen. ... Die beiden Mädels und ich haben schon alles Mögliche verzapft. ... Am Sonntag gehen wir in „Die Zauberflöte". Wir sind auch schon in Lübeck gewesen. ... Die See ist herrlich, besonders bei Wellengang.

    Du wirst ja sicher auch allerhand erleben. Wie ich aus den Adressen sehe, kommst Du ganz schön herum. Ich wünsche Dir viel Spaß und Freude dazu. ... Du wirst mir doch sicher aus Hamburg von Deiner Fahrt berichten, nicht wahr? – Für den EMP-Kalender nochmals vielen Dank. ... Was Du da geschrieben hast, dass ich mich vielleicht Deinetwegen für die Jugendarbeit einsetze, stimmt nicht, dafür habe ich mich selbst schon genügend geprüft. Du hast mir nur den Anstoß gegeben und dafür bin ich Dir sehr dankbar, denn ich sehe darin eine wertvolle Aufgabe und es macht mir auch Spaß.

    Nun lieber Ernst-Günther, wünsche ich Dir noch recht frohe Ferien. Es grüßt Dich herzlich Deine Roswitha

    Passau, den 1. 8. 56 (Ansichtskarte nach Pönitz)

    Liebe Roswitha, Dank für Deinen lieben Brief. Ich war schon ganz verzweifelt, da ich fast zwei Wochen keine Post von Dir hatte und wir morgen um 7 Uhr mit einem Schiff in die Wachau fahren. Bisher hatten wir schöne Tage in der Klause, gestern und heute haben wir Passau angesehen. Für den Rest des Urlaubs noch schöne Tage und macht nicht zu viel Blödsinn. Lass Dich von Herzen grüßen,

    Dein Ernst-Günther

    Melk (Donau), den 4. 8. 56 (Ansichtskarte)

    Liebe Roswitha, nun sind wir ein Stück die Donau herab geschwommen, ein Stück Bahn gefahren und gelaufen. Es ist eine feine Gegend hier und der Wein schmeckt auch gut. Wir folgen immer den Spuren der Nibelungen, gestern bei Bechelaren vorbei, wo Kriemhilds Bruder Giselher sich mit der Tochter des Markgrafen Rüdiger verlobt hat. Sei recht herzlich gegrüßt, Dein Ernst-Günther

    Wien, den 6. 8. 56 (Ansichtskarte)

    Liebe Roswitha, nun sollst Du auch aus Wien einen Gruß haben. Seit gestern früh sind wir hier und haben schon viel gesehen: Dom, Prater, Innenstadt, Rathaus, Parlament, Burgtheater und vor allem die Schatzkammer mit der Kaiserkrone und den Reichsinsignien des Heiligen Römischen Reiches. Ich halte ja sonst nicht viel von Traditionen, aber diese Symbole einer über Jahrhunderte währenden Macht haben mich doch beeindruckt. Nun sei recht herzlich gegrüßt von                        Deinem Ernst- Günther

    Salzburg, den 8. 8. 56 (Ansichtskarte)

    Liebe Roswitha, gestern trampten wir von Wien hierher, 320 km in 9 Stunden. ... Hier ist ein unheimlicher Betrieb, denn die Festspiele sind voll im Gange. Internationales Publikum, mehr Ausländer als Österreicher. ... Nun lass Dich recht herzlich grüßen,

    Dein Ernst-Günther

    Innsbruck, den 11. 8. 56 (Ansichtskarte)

    Liebe Roswitha, auch aus Innsbruck sollst Du einen herzlichen Gruß von mir bekommen. Ich bin vorgestern von Salzburg hier herüber gefahren und bleibe jetzt noch ein paar Tage bei meiner Schwester. Morgen fahren wir nach Italien zum Gardasee, das zweite Mal, dass ich in Italien bin. Dann geht es in der nächsten Woche nach Hamburg. ... Dort möchte ich von Dir gerne mal wieder Post haben. Nochmals herzlichen Gruß, Dein Ernst Günther

    St. Andreasberg, den 14. 8. 56 (nach Hamburg)

    Lieber Ernst-Günther! Sei mir bitte nicht allzu böse, dass ich Dir heute erst schreibe, und Du warst so fleißig. Recht herzlichen Dank für Deine schönen Ansichtskarten. … Mein Urlaub war einfach herrlich. Bis auf zwei Tage hatten wir immer schönes Wetter. Wir waren fast jeden Tag am Strand und haben viele Bilder gemacht. Zum Abschluss haben wir in der Eutiner Freilichtbühne „Die Zauberflöte" gesehen. Wir waren sehr davon angetan. …

    Ach, Du hast sicher auch allerlei Schönes gesehen, Deine Karten sagen mir ja schon genug. Und jetzt geht es mit neuer Kraft an die Arbeit. … Ich freue mich, dass Du bald kommst und wir uns mal wieder sehen können. Du sicher auch, nicht wahr? Nun sei herzlich gegrüßt und nicht so traurig, dass ich heute erst geschrieben habe. Von Herzen,            Deine Roswitha

    Erinnerung: 17. – 18. 8. 56 im Harz

    Eigentlich wollte ich gemächlich zum Wochenende nach Hamburg trampen. Doch am Gardasee wird mir klar, dass ich ja dicht bei euch vorbei komme und da wird die Sehnsucht nach dir übermächtig. Ich verlasse Freitag Vormittag die Autobahn in Göttingen und trampe in den Harz hinauf. Deine Freude ist groß, als ich plötzlich vor dir stehe. Gleich nach deinem Feierabend verziehen wir uns in den nahen Wald und erzählen uns von unseren Reisen.

    Nicht umsonst habe ich dir den Film „Ich denke oft an Piroschka empfohlen. Am Samstagvormittag streifen wir bei strahlendem Sonnenschein wieder durch Berg und Wald bis hinauf zu den Hohen Klippen. Als wir dort stehen und ins Land hinausschauen, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, eigentlich müsstest du mein Herzklopfen hören. Ich spreche dich auf den Film an. Ja, du hast ihn gesehen. Ob du denn die Szene erinnern kannst, wo die beiden zusammen auf der Wiese sind? Du lachst, ich glaube, du hast schon begriffen, was ich will. Ob Du diese Szene schön gefunden hast, frage ich noch. Mit leuchtenden Augen sagst du „ja. Da nehme ich dich in die Arme und küsse dich. Wie lange habe ich

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