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Lied vom stillen Sommernachtstraum: Band II der Nordkap-Trilogie - 9 Monate, 9 Länder, 9000 Kilometer
Lied vom stillen Sommernachtstraum: Band II der Nordkap-Trilogie - 9 Monate, 9 Länder, 9000 Kilometer
Lied vom stillen Sommernachtstraum: Band II der Nordkap-Trilogie - 9 Monate, 9 Länder, 9000 Kilometer
eBook408 Seiten6 Stunden

Lied vom stillen Sommernachtstraum: Band II der Nordkap-Trilogie - 9 Monate, 9 Länder, 9000 Kilometer

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Über dieses E-Book

Lars, der vor einem guten Vierteljahr beschloss, alles hinter sich zu lassen und die vergangenen Monate mit bescheidenen finanziellen Mitteln an den spanischen und portugiesischen Küsten sowie auf Jakobswegen verbracht hat (siehe Band I "Letzte Ausfahrt Jakobsweg"), ist nun bereits mitten drin in seinem Wander-Abenteuer. Sein Ziel ist nach wie vor das Nordkap, noch immer verlässt er sich auf seine eigenen Fähigkeiten und nicht auf technische Hilfsmittel. Knapp 4.000 Kilometer liegen ihm, doch weitere 5.000 liegen noch vor ihm. Es ist bereits Mitte Mai und er weiß, dass er nur bis spätestens Anfang November Zeit hat, die Arktis im rauen Norden durchzustehen. Doch fürs Erste heißt es die warmen Tage so gut es geht zu nutzen, um Frankreich, Belgien und die Niederlande zu durchwandern, um schon bald zurück in Deutschland zu sein. Ein Wettlauf gegen die Zeit und doch auch viel Zeit, um sich weiter viele Gedanken über sein eigenes Leben zu machen. Wie aus Band I gewohnt wird dabei nicht mit selbstironischen Episoden gespart.

Band II: Lars läuft die französische Atlantikküste bis hinauf nach Nantes, von wo aus er am Ufer der Loire bis nach Orléans spaziert. Von hier aus geht es über Paris und Brügge nach Amsterdam. Der Weg führt weiter durch die Niederlande bis zur deutschen Grenze, wo es an der deutschen Nordseeküste durch Ostfriesland geht und weiter bis nach Cuxhaven an der Elbmündung. In Hamburg endet dieser Teil.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Apr. 2021
ISBN9783753185378
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    Buchvorschau

    Lied vom stillen Sommernachtstraum - Lars Osterland

    1. Irun – Nantes

    Die Hospitalera hat eine Kanne Kaffee gekocht und den Frühstückstisch gedeckt. Mihaela spendiert den Käse, ein anderer Pilger den Saft, perfekt. Roland, Mihaela, die zwei Franzosen vom Vortag und ich sitzen gemeinsam am Tisch, die Stimmung ist gut. Draußen wolkenloser Himmel, die Aufbruchsstimmung ist greifbar, der erste Tag kann beginnen … ihr erster Tag auf dem Jakobsweg, mein erster Tag in Frankreich. Als alle anderen fertig gefrühstückt haben, leere ich die letzten Reste und Mihaela bietet an, mir für unterwegs von ihrem Toastbrot und Käse Sandwichs zuzubereiten. Nehme ich natürlich gern an, so dicke habe ich es ja nicht mehr. Mihaela würde sich freuen, wenn ich sie mal in ihrer Heimatstadt Bukarest besuchen käme – ja, Rumänien steht noch an! Wir beide sind die Letzten die aufbrechen … schon vor der Herberge trennen sich unsere Wege … Küsschen da, Küsschen dort, alles Gute!

    Ich laufe zum einzigen sehenswerten Gebäude von Irun, die Kirche. Dahinter liegt der Bahnhof, Busse fahren nach Santiago … spart man mindestens 24 Tage und verliert doch viel mehr … Ich suche verzweifelt nach Fotomotiven, um die letzten drei Fotos auf meiner Speicherkarte zu knipsen, damit ich völlig aufgeräumt das Kapitel Frankreich beginnen kann, also auch mit einer neuen, noch leeren Speicherkarte … aber ich finde nichts. Ich versäume es ebenso, die letzten 3,76 Euro auszugeben … also nur fast pleite über die Grenze! Dürfte trotzdem eine spannende Herausforderung werden. In der Bibliothek nutze ich noch einmal die Möglichkeit eines kostenlosen Internetzugangs, weil ich nicht weiß, ob auch Frankreich so kulant ist. Mit vier Tagen Verspätung lese ich die Geburtstagsgrüße an mich, viele sind es nicht, ganze sieben Menschen haben an mich gedacht – also beliebt bin ich anscheinend ja nicht, ich kanns verstehen … immerhin dachte sie daran; als kleine Aufmerksamkeit sehe ich das erste Bild von meiner Kleinen seit unserem letzten Treffen am 24. Januar diesen Jahres, also vor fast vier Monaten – lieb gemeint, nun weiß ich aber, wie sich ein Wespenstich mitten ins Herz anfühlen muss … ihre Haare sind länger, die Backen schmaler, die Stirn höher, sie lacht … sie ist wunderschön … ihre Mama bittet mich, dass ich endlich mit uns abschließe, damit wir nach meiner Rückkehr gemeinsam für unsere Tochter da sein können, vielleicht sogar ein freundliches Verhältnis miteinander aufbauen, zum Wohle der Kleinen … Wir beide seien zu sehr Melancholiker, um uns gegenseitig glücklich machen zu können … Vermutlich hat sie mal wieder recht, nur leider bin ich in Sachen Verarbeitung auf den ersten dreitausendsechshundert Kilometern meiner Reise keinen Millimeter vorangekommen. Ich hatte geglaubt, es ginge schneller, dass die Zeit etwas zackiger unterwegs ist, um die Wunden zu heilen … aber in Wahrheit ist sie ein ziemlich träger Lahmarsch. Ich kann mir an ihr kein Beispiel nehmen, muss weiter, zum Grenzfluss Bidasoa … und im nächsten Moment habe ich Spanien verlassen, befinde mich aber weiterhin im Baskenland, in der Mitte der Brücke beginnt der französische Ort Hendaye. Im Oktober 1940 trafen sich hier Franco und Hitler … der Diktator konnte aber den General nicht davon überzeugen, in den Krieg einzutreten, um gemeinsame Sache zu machen. Auch ich bleibe blass in dieser Kleinstadt, knüpfe keine Kontakte und bin deprimiert, dass ich keine Jakobsmuscheln mehr sehe. Außerdem habe ich kein Geld um mir etwas leisten zu können. Schon nach wenigen Stunden fehlt sie mir, die Aussicht, irgendwann mal wieder auf einen anderen Pilger zu treffen. Wochen des Schweigens drohen … gilt jedoch nicht für den Magen, der wird lauter denn je krakeelen. Aber noch nicht heute, dank der Sandwiches von Mihaela.

    Das Begrüßungsgeschenk von Frankreich sind zwei makellose Marlboros auf dem Bürgersteig … eingesteckt und weiter in einen kleinen Park … von einer Bank aus Blick auf viele vor Anker liegende Jachten auf dem Bidasoa … präge mir die Sachen ein, die der Franzose für mich ins Französische übersetzt hat und schreibe meinen ersten Tagebucheintrag in Frankreich … ich will kein Risiko eingehen, denn wenn ich jetzt tot umfallen würde, könnte niemand mehr behaupten, dass ich nicht in Frankreich war! Ha, ein weiteres Häkchen hinter einem Land, das ich besucht habe! Ich bin nach außen hin gar kein so großer Angeber, aber vor mir selbst – und das Tagebuch ist ein Spiegel deiner selbst – mime ich gern den Prahlhans. Ich knipse die Speicherkarte voll, krame eine andere heraus … ironischerweise – nach der Email – sind auf dieser noch die Bilder unserer gemeinsamen Mitteleuropareise drauf, vergessen vor Reiseantritt zu formatieren. Oder war es beabsichtigt? Ich weiß es nicht mehr. Ich lass die Bilder in einer Dia durchlaufen … psychologisch möglicherweise der falsche Weg um mit etwas abzuschließen … die Sehnsucht nach ihr ist manchmal unerträglich groß … da ist sie, mit meinem Pulli am Tschirmer See in der Hohen Tatra … und nochmal da, wie sie Fotos von der Soča in Slowenien knipst … und auch hier, im Badeanzug an der Adria, kurz bevor es weiter nach Venedig geht … zugegeben, beim Betrachten ihrer Kurven ist auch manchmal die Sehnsucht nach ihrem Körper unerträglich groß; Frauen mögen das nicht verstehen, Männer schon … ich befreie mich aus meinem Delirium und formatiere die Speicherkarte, es ist vorbei, du hast ja recht … Schaust du dir denn nie Fotos aus unserer gemeinsamen Zeit an??? Rhetorische Fragen sind zum Kotzen! Frag nicht, mach weiter, lauf, lauf weiter, immer weiter, bis es nicht mehr weiter geht …

    Jetzt nicht mehr auf Jakobsmuscheln oder gelbe Pfeile achten zu müssen, hat auch positive Seiten, eine davon ist, dass ich mich freier fühle … ich suche mir wieder allein meinen Weg, bin flexibler, es wird – wie am Anfang meiner Reise – Steine und Bäume geben, die ganz überrascht sein werden, wenn da jemand an ihnen vorbeiläuft. Die Steine und Bäume auf dem Jakobsweg konnte man da nicht mehr überraschen, die waren das gewohnt. Vorerst geht es am Strand weiter, ich sehe eine Frau, die ein Buch liest … eigentlich nicht weiter erwähnenswert, aber mir kommt dabei in den Sinn, dass ich in der ganzen Zeit in Spanien und Portugal keinen einzigen Menschen ein Buch lesen gesehen habe. Ohne voreilig Schlüsse ziehen zu wollen, aber vielleicht ist es ja so, dass die Franzosen wie die Deutschen sehr gern lesen und deshalb auch viele lesenswerte Autoren in die Welt gesetzt haben. Bei den Spaniern oder Portugiesen fällt mir kein einziger Autor ein, von dem ich schon mehr als ein Buch gelesen habe. Es gibt sicherlich ganz nette spanische und portugiesische Bücher, aber die wurden alle in Übersee geschrieben, in Brasilien, Kolumbien oder Chile. Nein, die Spanier haben ihren Don Quijote und das scheint ihnen auch zu reichen. Zum Glück haben wir nicht nur unseren Faust. Am Ortsausgang steht auch bereits das erste Schloss, auf einer grünen Anhöhe, mit Sicht aufs einige hundert Meter entfernte Meer. Ich bin weit und breit der einzige Mensch, ich nutze die Ruhe für meine Mittagspause. Nach den beiden Sandwiches geht es weiter, ein Auto kommt mir entgegen, eine junge Frau lässt die Scheibe runter … fragt mich, ob ich denn nicht wüsste, dass das hier Privatgelände ist … ich soll umkehren … ich entschuldige mich mit einem Lächeln … In 102 Tagen auf der Iberischen Halbinsel wurde ich kein einziges Mal verjagt, in Frankreich schon nach wenigen Kilometern das erste Mal, na das kann ja was werden! Es geht auf einem schmalen Weg neben der vollen Küstenstraße weiter … Privatgelände und Urlaubsdomizile versperren in der Regel den Blick aufs Meer, daran muss ich mich erst gewöhnen … ein markierter Wanderweg am Rand der Steilküste bringt etwas Ruhe und eine schöne Aussicht aufs Meer, ich bin jedoch nicht der einzige Spaziergänger. Ich erreiche die Kleinstadt Ciboure, mein zweiter Ort in Frankreich … Geburtsort des berühmten Komponisten Maurice Ravel … der Ort liegt in einer Bucht, gegenüber der etwas größeren Kleinstadt Saint-Jean-de-Luz, wo am langen Sandstrand viele Badegäste unterwegs sind … Da ich keine Ahnung von der Topographie Frankreichs habe, nehme ich jede Infotafel am Wegesrand mit, versuche meiner allgemeinen Unwissenheit etwas Abhilfe zu schaffen … dabei finde ich heraus, dass mein erstes Département in Frankreich Pyrénées-Atlantiques heißt und dies zu der Region Aquitanien gehört. In Ciboure gibt es einen kleinen Hafen, der von einer Festung und einem Leuchtturm überragt wird. Die Café-Besuche werden mir fehlen (in Frankreich auch deutlich teurer), meine Motivation ist etwas im Keller. Ich mach mich auf einer Bank lang, um mal an nichts zu denken, mich etwas zu entspannen.

    Lang halte ich das Faulenzen jedoch nicht aus, ich laufe auf dem Wanderweg weiter nach Saint-Jean-de-Luz. Es sind so viele Leute unterwegs, dass ich mich richtig unwohl fühle, auch weil ich viele Blicke auf mich ziehe, dank meiner verstaubten Wanderstiefel, meines großen Rucksacks und – nicht zu vergessen – meines überaus hübschen Gesichts. Ich flüchte im Eiltempo aus diesem Ort, in dessen Kirche der Sonnenkönig im Jahr 1660 seine Maria Theresia (die von Spanien) heiratete. Am Ende der Strandpromenade geht es einen kleinen Berg hinauf, erst hier oben habe ich nicht mehr das Gefühl, auf der Flucht zu sein … ich blicke über die Bucht, sehe den Jaizkibel in Spanien … irgendwie kann ich mich für die ersten Orte in Frankreich noch nicht so recht begeistern, liegt auch daran, dass mir viel zu viele Touristen unterwegs sind, einschließlich mir. Ein Gefühl des Sattseins macht sich breit … das bekomme ich immer dann, wenn ich nichts mehr zum Naschen habe … aber als Medizin gegen allgemeine Lustlosigkeit habe ich ja Musik dabei … im ersten Lied trällert der Sänger I'm broken by you … Ist das so? Wenn es mir nicht gut geht, vermisse ich die beiden … wenn ich sie mal vermissen würde, wenn es mir gut geht, dann, erst dann würde ich sie wirklich vermissen … alles andere ist nur erbärmliches Selbstmitleid … Am Strand sind die ersten Bunker zu sehen, möchte demnächst mal in einem übernachten … Here I am. Here I am, waiting to hold you singt eine Frau … meine Augen werden feucht … was habe ich mir nur für Musik mitgenommen? Da kann man ja gar nicht anders, als an die beiden zu denken. Der Wanderweg entlang der Küste ist dann zu Ende. Wenig später gehe ich von einem Parkplatz aus runter zum Meer, laufe einige hundert Meter am kilometerlangen Strand, um ein paar wenige Spaziergänger hinter mir zu lassen. An einer ruhigen Stelle, zwischen zwei Orten, beschließe ich gegen 19 Uhr mein Nachtquartier aufzuschlagen, auch weil ich keine Muße habe, um mir in der nahen Stadt Biarritz in der Dunkelheit einen Schlafplatz zu suchen … 19 Uhr fühlt sich jedoch so zeitig an, ist es aber im Vergleich zu meinen Ankunftszeiten in den Pilgerherbergen gar nicht … es ist nur ungewohnt, nach der Zielankunft weiterhin draußen zu sein … Ich muss jetzt wieder darauf achten, mir rechtzeitig einen ruhigen Schlafplatz zu suchen, einfach bis in die Abenddämmerung hineinlaufen, um dann in einer Herberge einzuchecken, ist nicht mehr … Psychologisch ist das jetzt wieder eine deutlich schwierigere Herausforderung, jeden Tag stellt sich die Frage, wann mach ich Schluss, wann lohnt es sich noch weiterzulaufen … ich darf nur nicht träge werden, ich darf auch nicht jedes Risiko scheuen, denn dann würde ich zu viel Zeit einbüßen und die Tage und Kilometer würden am Ende in Norwegen fehlen. Für meine erste Nacht in Frankreich ist aber ein Schlafplatz unterhalb der Steilklippe, direkt am Atlantik und ohne jede Gefahr nachts Besuch zu bekommen, genau die richtige Wahl. Zu hören ist nur das Meer, der Wind und die Steine, die von der Klippe nach unten bröckeln. Ich freue mich auf viele Sonnenuntergänge über dem Meer, jetzt wo es endlich nach Norden und nicht länger nach Osten geht. An diesem 14. Mai geht sie Punkt 21.21 Uhr am Horizont unter. Ich werde ihr jetzt wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Es folgen Abendröte und Dunkelheit. Ich bin etwas deprimiert, außer Wasser und Zigaretten habe ich meinem Gaumen nichts anzubieten. Ich muss auch erst wieder lernen, mit so viel Freizeit – ohne Gesellschaft, ohne Barhocker, ohne Licht um noch im Tagebuch zu schreiben – zurechtzukommen … zumindest an dieser ersten Schlafstätte in Frankreich kann ich nichts mit mir anfangen, ich bin zu unruhig, um einfach nur in meinem Schlafsack zu liegen, in den Himmel oder aufs Meer zu starren und zu genießen. Auch von Dankbarkeit – wie in den ersten Wochen – keine Spur! Oh, ich habe mich auf dem Jakobsweg so richtig verhätschelt … es beweist nur mal wieder, dass zu viel Luxus dich von deiner inneren Zufriedenheit nur entfernt. Vor Regen hätte ich hier weit und breit keinen Schutz, aber der Himmel ist klar, ich bleibe – was das betrifft – unbesorgt. Hinter mir kommen immer wieder Steine und kleine Felsbrocken nach unten, durch einen kleinen Vorsprung über mir bin ich wenigstens etwas geschützt, ganz geheuer ist mir das nicht, zumal ich mich an meine Begegnung mit Antonio in Coimbra erinnere, der bei einer Übernachtung unterhalb einer Klippe gleich mehrere Schneidezähne verloren hat, weil ein Stein auf sein Gesicht gefallen war. Auch von hier sehe ich noch den Jaizkibel, nostalgisch schaue ich zurück auf dieses abgeschlossene Kapitel meiner Reise, meines Lebens. Im gegenwärtigen Kapitel bin ich noch nicht so recht angekommen, aber es ist ja auch erst das Ende des ersten Tages ...

    Am Meer träumt man oft merkwürdige Dinge … ich bin mit John Fante und Charles Bukowski am Strand … während Fante seinen Riesenlümmel schwenkt und eine Riesenfontäne ins Meer pisst, steht Bukowski lustlos und verkatert daneben und ist Herr von über ein Dutzend Angeln, die jeweils ein paar Meter auseinander im Sand stecken, ohne dass sich nur irgendeine Schnur rührt … ich werde aufgeweckt, weil ein großer Stein direkt neben meinem Kopf aufschlägt … schlafe wieder ein … Fante pisst noch immer (ich bekomme Minderwertigkeitsgefühle wegen seinem Mordsteil), Bukowski steht genauso gelangweilt da wie vorher, einen Fisch hat er noch immer nicht gefangen … ein zweiter großer Stein schlägt neben mir auf, ich werde allmählich wütend, weil ich nicht oft die Chance habe, mit Fante und Bukowski Zeit zu verbringen … ich schlafe wieder ein … Fante ist fort, auch Bukowski ist weg, bloß die scheiß Angeln stehen noch da … nun ja, wahrscheinlich konnten beide mich nicht ausstehen und haben sich verpisst (vor allem Fante) … ich wache auf, der Morgen dämmert bereits, und ich denke mir, dass Bukowski wahrscheinlich niemals in seinem Leben geangelt hat.

    Ich laufe nach Biarritz. Vom See- und Heilbad bekomme ich nichts weiter mit, irgendwie ist mir nicht nach einer Stadtbesichtigung zumute. Dabei ließ sich sogar Sisi hier kurieren, wobei sich Biarritz darauf nichts einzubilden braucht, da es sicherlich kein See- und Heilbad zur damaligen Zeit gab, was vor ihr sicher war. Mein Höhepunkt in Biarritz ist ein Thoreau-Zitat an der Tür eines Buchgeschäfts. Im Supermarkt gebe ich mein letztes Geld aus, für kalorienreiche Sachen, vor allem Kekse. Ich rechne den Einkaufsbetrag im Kopf mit. Ganze vier Cent bleiben mir, aber für heute und morgen bin ich erst einmal eingedeckt. Außerdem bin ich erleichtert, dass anscheinend die großen Supermarktketten viele der überteuerten Markenprodukte auch als No-Name-Produkte anbieten, für Preise, die fast durchweg günstiger als in Spanien sind, was mich überrascht. Zum Frühstück gibt es vor dem großen Supermarktgebäude eine Packung Chips, 1.100 Kalorien, mal ein etwas anderes Frühstück. Von einer Siedlung geht es übergangslos in eine andere, bis nach Bayonne – mit knapp 50.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt dieses Départements. Die Stadt liegt ein paar Kilometer im Landesinneren, wo die Nive in den Adour mündet. Von Weitem wird man bereits auf die große, schmucke Kathedrale Notre-Dame aufmerksam, ich laufe hin, gehe hinein, setze mich in eine der vorderen Reihen, schreibe Tagebuch, während leise Kirchenmusik aus Lautsprechern zu hören ist. Ein paar Leute sind da, ich schaue auf meine Sobrados … sie sind ein Glücksfall, fast eintausend Kilometer mit ihnen gelaufen und sie befinden sich noch immer in einem guten Zustand. Draußen nehme ich mir dann doch mal Zeit für eine Stadtbesichtigung. Und das lohnt sich, denn Bayonne ist der erste Ort in Frankreich, dem ich etwas abgewinnen kann. Vor allem die vielen kleinen, schmalen Häuser, entlang der Straße am Fluss Nive, in allen möglichen Farben, gefallen mir. Zur Mittagszeit sind viele junge Menschen unterwegs, sitzen im Park oder am Ufer, lesen oder unterhalten sich, essen Pizza oder Döner (gab es für mich in diesem Jahr noch gar nicht!) … in ihrer Nähe fühle ich mich wohl, ich sehe die Universität … das erklärt den jungen Altersdurchschnitt – einer Stadt ohne Uni droht Arthritis! Auch eine alte Festungsanlage gibt es in Bayonne. Die Mündung der Nive in den Adour mitten im Stadtzentrum verleiht der Stadt zusätzlich Charme. Ich verbringe einige Stunden in Bayonne, auch weil ich meine Möglichkeiten überprüfen möchte. Im Fremdenbüro frage ich nach karitativen Einrichtungen, womit die Frau nicht viel anfangen kann – wenn es so etwas in Frankreich gibt, dann nur in den Großstädten. Eine kleine Ernüchterung, aber nützt ja nichts. Dafür bekomme ich eine Karte vom Département Landes, welches auf der anderen Uferseite des Adours beginnt … kann ich gut gebrauchen, da ich noch keine Ahnung habe, wie ich weiterlaufen soll. Auch die Frau kann mir nichts empfehlen, ihr kommt es etwas seltsam vor, dass ich meine Beine gebrauchen möchte um voranzukommen. In der Bibliothek darf ich 45 Minuten kostenfrei das Internet nutzen, eine gute Möglichkeit, um mir Informationen zum Weg einzuholen.

    Vom Stadtzentrum aus laufe ich auf Fußwegen nach Norden, komme dabei durch Industriegebiet, das sich vor allem an der Norduferseite des Adours konzentriert. Obwohl ich in der Nähe des Flusses bleibe, diesen sozusagen zur Mündung in den Atlantik begleite, bekomme ich vom Adour nichts weiter zu sehen, da Kräne, Container, Mauern oder Gebäude im Weg stehen. Das einzig Gute für einen Wanderer in einem Industriegebiet ist, dass er versucht keine Zeit zu vertrödeln, um zügig voran- und aus dem ganzen Lärm wieder herauszukommen. Kurz bevor ich zurück am Atlantik bin, kommt mir ein älterer Pilger entgegen, hochdekoriert, zumindest hat er massig Anstecknadeln an seiner Kleidung. Wir kommen ins Gespräch, ich kann dabei etwas mein Französisch üben. Er kommt aus Straßburg, ist seit Paris zu Fuß unterwegs, 880 Kilometer in 36 Tagen, wie er mir stolz berichtet. Er lief dabei auch ein Teilstück an der Loire, von Orléans nach Tours, ehe er auf einem eher unbekannten Jakobsweg hier runter lief. Da ich noch länger an der Küste bleiben möchte, dürften es für mich zweihundert zusätzliche Kilometer Wegestrecke werden. Meine Entscheidung scheint zu stehen, zumal der Mann mir verrät, dass der Jakobsweg von/nach Paris nicht wirklich markiert ist. Und günstige Herbergen gibt es in Frankreich schon gar nicht. Immerhin kann er mich trösten, dass es nun in den nächsten Tagen auf Radwegen entlang der Dünen gut vorangeht.

    In der Tat, hundert Meter weiter beginnt dieser Radweg, durch einen Naturpark, neben der Düne, ein Waldgürtel rechts von mir, keine Straßen mehr, einige wenige Radfahrer sind unterwegs. Erstmals in Frankreich tauchen sogar Jakobsmuscheln auf, das tut irgendwie gut, man fühlt sich weniger alleingelassen. Die Küste ist von nun an durchweg flach, ein Problem dabei wird sein, immer einen gegen Regen geschützten Schlafplatz zu finden, denn es gibt keine Klippen mehr, die mir als Unterschlupf dienen könnten. Passend zu meiner Befürchtung fallen ein paar Tropfen, jedoch ohne dass es stark zu regnen anfängt. Am Strand ist es nicht einfach zu laufen, man versinkt allzu oft, wie es an Dünenstränden üblich ist. Neue Zuversicht bringen mir die vielen Bunker, die hier aller paar hundert Meter oder Kilometer am Strand stehen und von der Zeit vergessen wurden. Der erste Bunker, an dem ich vorbeilaufe, ist noch klein und unüberdacht. Der Zweite dagegen scheint mir der perfekte Schlafplatz zu sein. Bei meiner Ankunft viertel sieben sind noch zwei Männer mit ihren Hunden hier, wenig später bin ich allein und niemand kommt mehr vorbei. Der Bunker kann von zwei Seiten betreten werden, Türen gibt es nicht, im Inneren viel Platz, auch nach oben hin, und ein weicher, trockener Sandboden macht das Ganze sogar recht komfortabel. Das Meer kommt nah an den Bunker heran, aber nicht hinein. Durch die zwei Eingänge ist es drinnen hell, Platzangst oder Angst, dass man von draußen nichts mitbekommt, hat man hier nicht. Durch den Durchzug ist auch die Luft rein, der Bunker frei von Müll. Ich freue mich, so einen praktischen Schlafplatz gefunden zu haben, der mir eine sorglose Nacht verspricht. Ich lege meine Matte in eine Ecke, um vom durchziehenden Wind möglichst verschont zu bleiben. Der nächstgelegene Ort ist Ondres, hinter der Düne führt laut Karte nur eine Straße in das Dorf, das vier Kilometer im Landesinneren liegt. Häuser sind keine zu sehen. Ein schöner einsamer Schlafplatz, so wie ich es mag. Ich setze mich raus, blicke aufs Meer, die Sonne versucht gegen die Wolken anzukommen, ein schönes Bild. Das Abendessen ist bescheiden, aber ausreichend: Toastbrot mit Margarine, dazu Kekse und auch das vorerst letzte Bier lass ich mir noch mal so richtig schmecken. Nach der Mahlzeit geht es ins warme Stübchen, im Schlafsack nasche ich noch Schokolade, rauche und denke etwas nach. Mir kommt dabei in den Sinn, dass ich bisher keinen einzigen deutschen Campingwagen in Frankreich gesehen habe, in Spanien waren es noch so viele. So wird es schwer um Hilfe zu bitten, noch schwerer welche auch zu bekommen … um Kontakt zu Franzosen zu suchen, fehlt mir momentan noch der Mut, ich brauche endlich ein positives Erlebnis, endlich eine freudige Begegnung mit den Menschen hier. Aber heute war schon einmal ein guter Tag: die erste schöne Stadt und der erste schöne Schlafplatz in Frankreich, beides wird sicherlich unvergessen bleiben.

    Die Sonne geht über der Düne auf, sie scheint und strahlt durch den Bunkereingang direkt zu mir in die Ecke, wo ich noch im Schlafsack liege. So wird man gern geweckt, ein entspannter Morgen nach einer ruhigen und warmen Nacht … nur das Meer und ich, ach wie ich das liebe! Direkt am Meer geht es auf Sand weiter und ich stelle dabei zufrieden fest, dass ich den besten Bunker weit und breit erwischt habe, denn die anderen sind entweder nicht zugänglich oder nicht überdacht, oder zu nah am Wasser oder am nächsten Ort gelegen. Dieser nächste Ort ist Capbreton, acht anstrengende Wanderkilometer von meinem Schlafplatz entfernt. Die Kleinstadt ist ein Surferparadies; viele junge Kerle sind bereits am frühen Morgen unterwegs, oberflächlich betrachtet wirkt der eine oberflächlicher als der andere … jedenfalls passe ich mit meinen verstaubten Wanderstiefeln und verdreckten Klamotten so gar nicht hier rein … unter Surfern fühle ich mich unwohl … vielleicht wird dieses Unwohlsein durch Minderwertigkeitsgefühle ausgelöst, weil sie alle so schöne, braungebrannte und muskulöse Körper haben, weil die Mädchen auf sie stehen, weil eine Aura der Unbesiegbarkeit von ihnen ausgeht, weil sie keine Sorgen zu haben scheinen … Ich komme nicht in Schwung, obwohl ich wieder festen Boden unter den Füßen habe und doppelt so viel Kilometer die Stunde abspulen könnte, als auf Sand. Ich sitze auf einer Bank an einem Fluss, beobachte ein Entenpärchen, Gesellschaft täte gut. Ich habe Brand, eine kalte Cola wäre jetzt riesig. Ansonsten habe ich auf nichts Appetit, mir ist übel und trotz Sonne fröstelt es mich immer wieder. Ich mag nichts essen, nicht rauchen … anscheinend bin ich krank … Ich habe keine Lust weiterzulaufen, aber was bleibt mir anderes übrig? Ich quäle mich von Bank zu Bank, am Jachthafen vorbei zum Place des Basques, von dem aus viele junge Menschen zum langen Sandstrand stolzieren, die meisten mit einem Surfbrett unterm Arm. Auch fröhlich wirkende Familien sind unterwegs. Es tut mir leid, dass ich meinen kleinen Engel im Stich gelassen habe. Mit einer großen Portion Reue geht es auf der Strandpromenade raus aus Capbreton. Beim Laufen und an Pausenplätzen fallen mir immer wieder die Augen zu, vielleicht fehlt mir auch einfach nur Koffein. Mit Keksen versuche ich gegen die völlige Kraftlosigkeit anzukämpfen, dabei weiß ich, dass das Problem nicht im Magen, sondern im Kopf liegt. Immerhin gibt es eine Premiere, ich sehe zum ersten Mal einen Fisch an einer Angelschnur zappeln, bei einer Frau, offenkundig Laie, denn ein Mann kommt und hilft ihr beim Herausfischen. Ein Fahrradweg führt neben der Düne lang, keine Sicht aufs Meer, öde. Mir gelingt es nicht, mal eine Stunde am Stück zu laufen. Anders als auf dem Jakobsweg gibt es zurzeit keine Tagesziele, was die Beine lähmt. Stattdessen spüre ich auf einmal das Verlangen irgendwo allein zu sein, einen einsamen, ruhigen, vom Wetter geschützten Schlafplatz zu finden. Ich steige auf die Düne, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, finde dabei nichts was als überdachter Schlafplatz dienen könnte. Meer, Düne und Wald, sonst nichts, außer vereinzelt Menschen am breiten Sandstrand. Barfuß geht es am Ufer weiter, ehe ich nach wenigen Kilometern erneut auf die Düne steige und in einer kleinen Senke meinen Schlafplatz finde, nach nur 23 Kilometern an diesem Tag. Irgendwer hat hier ein paar Äste auf 30 Zentimeter Höhe aufeinandergestapelt, was im Liegen einen ganz guten Windschutz bietet. Etwas Gras und kleine Sträucher um mich herum sorgen für etwas Intimität; wenn ich liege, bin ich vom Strand aus nur schwer zu sehen. Das scheint mir doch der beste Lagerplatz weit und breit zu sein, zumal der nächste Ort ein paar Kilometer entfernt ist und Spaziergänger am späten Abend oder in der Nacht nicht zu erwarten sind. Zu erwarten ist auch kein Regen, wenn doch hätte ich ein Problem, denn ich habe keine Ahnung, wo ich als Nächstes einen Schutz finden würde. Trübselig sitze ich auf der Düne, blicke zum Meer raus. Klar, es könnte schlechter laufen; das Wetter ist gut, die Knie halten einigermaßen und noch ist auch der Magen nicht leer … und dennoch frage ich mich: Wozu das Ganze noch? Bin müde, satt, ausgelaugt … zurück nach Deutschland möchte ich nicht, weil ich null Perspektive habe; zumal gescheitert zurückkommen, es gäbe nichts Schlimmeres, die in einhundert Tagen mühsam aufgebaute Selbstachtung wäre mit einem Schlag dahin … und überhaupt, unabhängig wann ich zurückkehre, wo sollte ich hin? Sie wohnt dann wahrscheinlich schon mit ihrem neuen Kerl zusammen, in Leipzig habe ich eine enttäuschte Familie zurückgelassen, Freunde habe ich keine … tolle Aussichten … ich kann ja gar nicht zurück … und hier? Morgen ist Christi Himmelfahrt, für mich wohl eher Lars Atlantikfahrt … eine Wasserbahnfahrt ans Ende des Diesseits? Aber ich kann mir ja nicht einmal Alkohol leisten, um mich besoffen in den Atlantik zu stürzen … erstmals ist da wieder diese Sehnsucht nach dem Tod, nach der ewigen Ruhe … zu ziellos, zu schwach bin ich zurzeit … Ich ningle mir selbst die Ohren voll, wenn schon kein anderer zuhört … vor allem in meinem Tagebuch: Komme ich noch mal zurück? Bist du noch bei mir? Irgendein schlauer Geist wird sicherlich mal behauptet haben, dass nur die Schwachen Hilfe von oben erhoffen … das kann schon sein, aber immerhin gewährt es etwas Aufschub … man kann noch hoffen, man hat noch nicht aufgegeben, man ist noch nicht am Arsch …

    Ich erreiche immer zeitiger meinen Schlafplatz und breche jeden Morgen etwas später auf – das sagt wohl bereits alles aus … ich täte sie so gern in meine Arme nehmen und nie wieder loslassen … ich muss kein Buch schreiben, ich muss mir selbst nichts beweisen, ich muss für meine Kleine da sein, das ist alles … doch nun, nun werde ich tatsächlich hier draufgehen, weil sich einfach keine Türen mehr für mich öffnen wollen … der morgige Tag dürfte alles entscheiden. Auch am nächsten Schlafplatz ist die Stimmung extrem tief im Keller, eine Mischung aus Verzweiflung und Resignation. Wenn sich wirklich keine Tür mehr öffnen sollte, wenn mir niemand mehr hilft und ich nichts mehr zu essen habe, dann möchte ich mir einen ruhigen, überdachten Platz am Meer suchen, wahrscheinlich einen Bunker, um dort solang zu verweilen, bis alles vorbei ist … interessant wäre es ja, immerhin würde ich dann die tiefsten Abgründe meiner Psyche kennenlernen. Kann ein Mensch wirklich untätig herumliegen und darauf warten, dass er stirbt? Oder würde man irgendwann einen Punkt erreichen, wo man einen letzten Versuch unternimmt, um zu leben?

    Mit Beginn der Morgendämmerung lag ich die längste Zeit wach in meinem Schlafsack, versuchte immer wieder einzuschlafen, konnte mich einfach nicht zum Aufstehen überwinden. Die Nacht war warm, dank des Holzes und der Senke verschonte mich der starke Wind. Jedes Mal wenn ich wach wurde, blinzelte ich zum Himmel, suchte einen Stern, den gefunden ich beruhigt weiterschlafen konnte. Erst kurz nach acht erhob ich mich, um zusammenzupacken und aufzubrechen. Hinter dem Dünengürtel liegt ein Waldgebiet, das sich bis hinauf an die Gironde erstreckt, es soll der größte zusammenhängende Wald in Westeuropa sein. Da ich mich nicht verlaufen wollte, entschied ich mich am Ufer zu bleiben. Nach zwei Stunden kam ich im kleinen Ort Vieux-Boucau-les-Bains an, von da an versuchte ich es auf Asphalt, um etwas Strecke zu machen. Auf der einzigen Straße nach Norden, die D652, war es etwas heikel zu laufen. Die Straße war schmal, neben der Fahrbahn gab es kein bisschen Platz für Fahrradfahrer oder Spaziergänger. Also immer auf der weißen Linie von Ort zu Ort, ständig auf den Gegenverkehr achtend, eine stupide Wanderung, nicht mal das Meer war zu sehen. Kommt mir auf Straßen ein metallic-grüner Mondeo entgegen, blicke ich immer als Erstes ganz unbewusst aufs Kennzeichen … ich erschrecke kurz, wenn es dann eines der hier häufig vorkommenden BZ-Kennzeichen ist … muss dann an unsere gemeinsamen Fahrten / Ausflüge denken, an all die Dinge, die ich nicht zu schätzen wusste. In Moliets-et-Maa füllte mir der Kellner in einem Restaurant meine Wasserflaschen auf, die vielen Mittagsgäste betrachteten mich skeptisch, wenn nicht gar angewidert. Ich konnte es verstehen, blickte sie kein bisschen anders an. Da ich genug von dieser Département-Straße hatte, bog ich in den Wald ab, auf Pisten quer durch, ohne irgendeine Ahnung gehabt zu haben, ob ich hier schlussendlich auch weiter nach Norden gelangen würde. Die Sonne schien da noch, was bei der Orientierung half. Wie am Tag davor fühlte ich mich wieder ziemlich kraftlos, zum ersten Mal sprang mir das Springseil in meinem Rucksack ins Bewusstsein, was an den vielen Bäumen gelegen haben muss. Wenn gar nichts mehr geht, sollte man doch wenigstens noch einen geeigneten, festen Ast finden. Nach nur 28 Kilometern an diesem Tag kam ich hier an, zurück am Meer, wieder auf der Düne, diesmal sogar mit einem Bunker.

    Meine Hütte ist durch einen schmalen Eingang betretbar, im Inneren gibt es nur einen etwa zwölf Quadratmeter großen Raum, etwas Müll liegt auf dem sandigen Boden, ich räume mir eine Ecke frei. Es ist dunkel, aber immerhin gelangt etwas Licht durch eine kleine Spalte. Dieser Bunker hier ist eigentlich genau der Ort zum Verweilen, den ich mir gewünscht habe: geschützt gegen Regen und Wind, draußen eine tolle Aussicht aufs Meer, Ruhe, niemand würde mich hier oben auf der Düne beim Sterben stören, den Strand sehe ich nicht, also auch keine Menschen. Der nächste Ort ist weit genug entfernt, wie die meisten Orte hier etwa fünf Kilometer hinter der Küstenlinie, weil zwischen Düne und Ortschaft der Wald als Auffangbecken der Unmengen von Sand dient, die durch Wind kilometerweit ins Landesinnere transportiert werden. Ich setze mich neben den Bunker, um zu schreiben. Etwas Last kann ich dabei abwerfen. Ich denke den ganzen Tag schon an das Himmelfahrtsfest, das ich die letzten zehn Jahre immer mit meinen Jungs von den Paparazzis in Leipzig gefeiert habe, bei Achim im Garten, mit viel Bier, geselliges Zusammensein aller Fanclub-Mitglieder, zum Mittag leckere Wurst vom Fleischer, dazu Brötchen, am Nachmittag ein Kick auf der Parkwiese, mit Bierflasche in der Hand, danach Grillen … oh weh, ich wusste ja anscheinend gar nichts in meinem Leben zu schätzen. Nun bin ich allein, keine warme Mahlzeit, gerade noch fünf Kekse und drei Kippen im Rucksack, vier lächerliche Cent im Portemonnaie, am Ende. Die melancholische Musik hilft da auch nicht … wieder läuft Song to Siren … Here I am. Here I am … wie schon an der Sagrada Família … wie vor drei Jahren in Fredericia, auch damals mit Blick aufs Meer … nur da wartete noch eine Familie auf mich … Ich steigere mich immer mehr in meine Wehmut hinein, aber was solls, denn Reue ohne Weh wäre auch keine Reue.

    Von wegen meine Ruhe. Ich penne bereits vor 20 Uhr ein, wenig später werde ich aufgeschreckt, weil jemand gegen meinen Schlafsack tritt. Ein älterer Mann schaut zu mir runter – dachte hier läge nur Müll, womit er auch nicht ganz im Unrecht lag – reicht mir die Hand, entschuldigt sich und verschwindet gleich wieder, „bonne nuit. Der Rest der Nacht ist wirklich gut, ich kann jedenfalls nicht meckern und kann ausgeruht in den Tag der Entscheidung starten. Der Himmel ist grau, aber es bleibt weiterhin trocken in Frankreich. Auf der D652 geht es weiter nach Norden, von kurzen Pausen in den aller paar Kilometer kommenden Dörfern unterbrochen … mit der Motivation steht es heute überraschend gar nicht so schlecht, pro Pause gibt es einen Stimmungsaufheller, entweder eine Kippe oder einen Keks, immer im Wechsel. Erstaunlicherweise bin ich damit zufrieden, so verändern sich die Maßstäbe … vor zwei Wochen wäre ich noch ziemlich ernüchtert gewesen. Ich gerate endlich mal wieder richtig ins Rollen, in den letzten Tagen habe ich eindeutig zu wenig Strecke gemacht. Zwischen zwei Ortschaften komme ich an einem Restaurant vorbei, gehe spontan hinein, keine Gäste, frage die Kellnerin ob sie irgendwelche Essensreste in der Küche hätten. Sie scheint Mitleid mit mir zu haben und würde gern, muss aber erst ihren Chef fragen. Ein Mann im Che-Shirt kommt nach vorn und beantwortet meine Bitte mit einem einfachen „no! … okay, ich gehe trotzdem zufrieden heraus, denn ich habe es wenigstens versucht, was mir viel Überwindung abverlangte … außerdem werde ich in meiner Meinung bestätigt, dass nicht jeder, der Ches Konterfei herumträgt, auch wie Che denkt, nicht einmal ansatzweise, es ist und bleibt eine Modeerscheinung … für mich jedoch wird Che immer ein Vorbild sein. Auch im Guerillakrieg wurden die Rebellen nicht überall, wo sie vorbeikamen, unterstützt. Aber sie mussten es versuchen, immer wieder.

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