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Am Ende fügt sich alles: Roman
Am Ende fügt sich alles: Roman
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eBook460 Seiten6 Stunden

Am Ende fügt sich alles: Roman

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Über dieses E-Book

Südspanien, 2009: Federico Henschel ist 50 und lebt mit Freundin Adriana zusammen. Er beginnt mit dem Aufschreiben von Episoden aus seinem bisherigen Leben. Zunächst in ungeordneten, scheinbar zusammenhanglosen Szenen setzt er seine eigene Geschichte Stück für Stück zusammen: Kindheit und Jugend, die Eltern, Ein- und Auswandererleben zwischen Mexiko und Deutschland, schließlich — immer wieder präsent, doch er schreckt lange vor der Konfrontation mit dieser einen, alles prägenden Erfahrung zurück — seine große Liebe zu Claudia und ihr Tod vor vielen Jahren.
Die ersten Episoden handeln von Federicos Familie, seinem Schulfreund Walter und seinem aktuellen Leben in Spanien. 1983 lernt er Claudia kennen, die ihm bald eine Geschichte über die vermeintliche gemeinsame Nazi-Vergangenheit ihrer beider Väter auftischt. Ihre Recherchen hierzu schweißen die beiden zusammen, sie berauschen sich am Gefühl, allein gegen alle zu stehen, brechen schließlich sogar mit ihren Familien und fangen ein neues Leben an.
Durch die Reise in die Vergangenheit findet Federico heraus, dass seine stürmische, geheimnisbefrachtete und rebellische Liebe zu Claudia auf einem Missverständnis beruhte. Wird dadurch auch sein folgendes Leben zur Lüge oder zur Farce? Hätte er etwas ändern können, wenn er nicht alles hätte mit sich geschehen lassen? Vermutungen und Annahmen, auf denen für sein Leben wichtige Entscheidungen basieren, stellen sich im Nachhinein als falsch heraus.
Nach sechs glücklichen Jahren, in denen Claudia allgegenwärtig ihrer beider Dasein füllt, endet es plötzlich mit ihrem Tod. Danach steht für Federico alles still. Wieder lässt er von anderen bestimmen, wo es mit ihm hingeht, und lässt sich von seinem Freund Rodrigo überreden, an einem Waffenschmuggel von den USA nach Mexiko teilzunehmen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Juni 2017
ISBN9783742784155
Am Ende fügt sich alles: Roman

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    Buchvorschau

    Am Ende fügt sich alles - T. R. Schiemann

    Kapitel 1: Südspanien, 2009

    Mein Onkel Erik kam auf seltsame Weise ums Leben. Er rutschte in der Dusche aus, als niemand zu Hause war. Im Fallen riss er wohl noch den Hebel der Mischbatterie herum, sodass stundenlang kochend heißes Wasser auf seinen nackten Körper platschte. Meine Familie reagierte entsetzt, denn eigentlich war Erik immer ein Glückspilz gewesen, es passte nicht zu ihm, so schrecklich und unter fürchterlichen Qualen zu sterben. Als meine Tante Bertha ihn fand, lag er knallrot und durchgekocht wie eine Garnele in der Duschwanne. Wir mochten uns gar nicht vorstellen, wie lange es gedauert haben musste, bis er endlich tot war.

    Erst im Nachhinein fand man heraus, dass ihn wahrscheinlich sofort ein Herzinfarkt dahingerafft und er bestimmt nicht gelitten hatte.

    Meine Mutter sprach bei seinem Begräbnis erleichtert aus, was alle dachten:

    Das Glück hatte Onkel Erik bis zum Schluss nicht verlassen.

    Natürlich war es meinem Onkel im Lauf seines Lebens alles andere als gut gegangen. Beruflich hatte er nie Erfolg gehabt und auch später, als er sich selbständig machte, verliefen seine Geschäftsideen meist im Sand, und doch hielt sich hartnäckig das Gerücht, der Mann sei ein Lebenskünstler, ein Bonvivant. Sein ständiges Betteln um Geld wurde ihm als Pfiffigkeit ausgelegt, seine besoffenen Eskapaden lieferten den Stoff für lustige Anekdoten.

    Dies ist vielleicht die auffälligste Eigenschaft meiner Familie: die Fähigkeit, die Realität stets so zu verbiegen, dass man einfach durch sie hindurch gleiten kann.

    Mein Onkel hatte als er selbst keine Chance.

    Jetzt, da ich beschlossen habe, mir ein paar Notizen zu machen, vielleicht auch ein wenig ausführlicher über einige Ereignisse aus meinem Leben zu berichten, frage ich mich, ob auch auf mir dieser Fluch der Selbsttäuschung und Verzerrung lastet. Ob ich vielleicht deswegen nie wirklich irgendwo angekommen bin.

    Bin ich es jetzt? Ich will es vermuten. Tatsache ist nur, dass mein Weg mich hierher geführt hat, dass ich in diesem Zimmer an diesem Tisch sitze und die heiße Luft spüre, die durch die Balkontür herein weht.

    Unten auf der Straße knattert ab und zu ein Moped vorbei, ansonsten ist es still. Es riecht nach Sonne, nach glühendem Asphalt und Meer. Ich schaue auf das Gebäude gegenüber, auf die grelle, weiße Wand, und dann wieder auf den Bildschirm meines Computers. Meine Freunde haben mich immer wieder gedrängt, doch einmal aufzuschreiben, was ich ihnen manchmal bierselig erzähle. Aber das ist letztendlich egal und auch nur ein kleiner Anstoß. Vielmehr möchte ich mir über die Vergangenheit noch einmal Gedanken machen können. Besser gesagt, ich glaube, ich möchte sie noch einmal erfühlen, zu mir holen. Dieses Bedürfnis drängt sich immer deutlicher auf. Es ist ein unterschwelliges unangenehmes Summen. Ich fing also an, Stichworte auf allerlei Zettel zu kritzeln. Und die liegen nun vor mir. Einige kann ich nicht mehr entziffern. Auf anderen wiederum stehen kryptische Sätze. Auf vielen jedoch fing ich mir wichtig Gewesenes wieder ein. Daran werde ich mich erst einmal halten. Es ist schon merkwürdig, was mir da alles eingefallen ist, was für Erinnerungsfetzen plötzlich auftauchten. Erinnerungen, die jetzt immer wiederkehren und die gleichsam an Bedeutung gewinnen. Wie die Sache mit Onkel Erik. Da war ich acht.

    Ich will das alles erstmal nicht streng chronologisch ordnen, sondern eher grob in Richtung Gegenwart schreiben und sehen, was dabei entsteht.

    Ich weiß nicht wo mich das hinführt. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich mich herantaste, assoziativ vorgehe.

    Heute aber werde ich warten, bis die Hitze nachlässt, später noch einmal in der „Botica" etwas trinken, meine Freunde treffen, Zeit verbringen, bis Adriana von der Arbeit kommt.

    Morgen geht es dann richtig los. Höchstwahrscheinlich.

    Kapitel 2: Rovaniemi, Finnland, 1976

    Also, es ist soweit, ich schreibe:

    Hinter dem Hotel fing gleich der Wald an. Ein enger Pfad zwängte sich zwischen Erlen und Birken hindurch, und es war dann auch gleich dämmerig und kühler. Da es sich an diesem heißen Tag angenehm anfühlte, ging ich weiter. Hinein in flirrendes, grünliches Licht, in den Geruch nach feuchter Erde. Hörte meine Schritte im Unterholz. Atmete tief durch. Ziemlich bald stieß ich auf eine Lichtung. Mittendrin stand, in warmes Sonnenlicht getaucht, eine kleine, roh gezimmerte Holzkapelle. Beim Näherkommen fiel mir auf, dass der Bau unfertig wirkte, eher wie eine dreidimensionale Skizze. Statt einer Tür gab es nur ein rechteckiges Loch in der Vorderseite. Ich ging näher heran und vernahm ein unterschwelliges Grollen, gefolgt von leisem metallischen Klirren. Fast im gleichen Augenblick sah ich ein großes gelbes Etwas auf mich zu rasen. Ohne nachzudenken drehte ich mich um und floh. Erst im Schutz der Bäume schaute ich zurück. Ein Untier bäumte sich dort auf. Die mächtigen Hinterläufe in den Boden gestemmt. Ich dachte sofort: ein Bär, und mir wurde übel. Ich wollte gerade weiterlaufen, als ich erkannte, dass ich gar nicht mehr verfolgt wurde. Vorsichtig, halb verdeckt von einem Baumstamm, wagte ich einen erneuten Blick. Kein Bär. Es war ein furchteinflößender, kraftstrotzender Hund. Soweit ich es aus dieser Entfernung beurteilen konnte, hing er an einer langen Kette, die sich um seinen Hals zuzog. Er fiel nach hinten, zerrte, jaulte und versuchte, sich zu befreien, vermutlich, um mich zu töten. Er drehte sich rasend vor Mordlust im Kreis, und ich konnte im Gegenlicht den Sabber erkennen, der ihm aus den Lefzen flog. Die Zunge hing ihm wie ein nasser roter Lappen aus dem Maul. Sein rasselndes Keuchen klang zu mir herüber. Mein Atem hingegen ging jetzt etwas ruhiger; ich empfand sogar eine kleine, fast grausame Genugtuung, weil sich das Tier so ergebnislos abstrampelte. Irgendwie siegreich trat ich den Rückzug an.

    Also, warum ich nach so langer Zeit gerade daran denken muss, ist mir nicht ganz klar. Ich könnte auch keinen stichhaltigen Grund nennen, warum ich diese Episode an den Anfang dieser Aufzeichnungen stelle. Vielleicht ist es ein Gefühl, das immer noch undeutlich nachhallt. Und ein Erklärungsversuch. Über die Jahre flackerte diese Erinnerung immer im Hintergrund. Ich schreibe sie einfach ebenso holprig auf, wie ich sie wachrufe.

    Ich war damals in jenem Sommer mit meinen Eltern unterwegs. Tage zuvor in Helsinki hatten wir uns bei ungeheurer Hitze die Stadt angeschaut. Es wurde nie dunkel. Im matten Schein der Mitternachtssonne lagen Betrunkene in Parks und auf Uferböschungen herum wie fallengelassene Puppen. Wir fuhren auch nach Leningrad. Wir besuchten die Eremitage. Schlenderten unter ständiger Aufsicht die Neva entlang. Bestaunten irgendwelche Prachtbauten.

    Ich weiß noch, da war ein kleiner Platz mit spärlichen Grünflächen, einer Kinderschaukel, einem bronzenen Leninkopf auf einem Sockel. Hin und wieder ertönten Politparolen aus öffentlichen Lautsprechern und dann, plötzlich und fremd, „Eleanor Rigby" von den Beatles. Niemand horchte auf oder unterbrach sein Tun.

    Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte.

    Mir geht es jedoch um diese Sache in Rovaniemi.

    Zurück im Hotel. Noch ein wenig zittrig. Ich ging durch die üppig mit Marmor ausgestattete Lobby und sah sie hinten schon auf ihren Barhockern. Sie wirkten angetrunken und alt und auch nicht besonders sympathisch. Meine Eltern. Kultivierte Großbürger. Ruhten in ihrem Selbstverständnis. Ich wollte plötzlich nicht mehr zu ihnen. Obwohl ich sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verabscheute.

    Sie schritten vorgeblich sorgenfrei durchs Leben. Mein Vater musste nicht wirklich arbeiten. Zu verabredeten Terminen erschien er bei irgendwelchen Sitzungen und leistete seine Unterschrift. Er tat immer so, als hätte er das Sagen.

    Meine Mutter war zufrieden. Sie malte riesige Bilder. Sie liebte es, in ihrem Atelier zu stehen, viel Chablis zu trinken und meinen Vater bei sich zu haben. Alles ziemlich normal.

    Das dachte ich damals wirklich. Ich lag falsch.

    An jenem Tag in Rovaniemi aber lenkte mich Eva von meinen Eltern ab. Sie saß weiter hinten in der Lobby in einem tiefen Ohrensessel. Ihre Familie war in unserer Reisegruppe. Eva. Sie sah wirklich gut aus mit ihren kurzen, rötlichen Haaren, den Stirnfransen. Ein ebenmäßiges Gesicht und Jeanne-Moreau-Lippen. Mir gefiel ihre lässige Art. Sie winkte mir zu. Einer merkwürdigen Eingebung folgend, fragte ich Eva, ob sie Lust hätte, mit mir spazieren zu gehen. Ihr Lächeln war Antwort genug. Erwartungsvoll nahm ich sie mit hinaus in den heißen Nachmittag.

    Ohne groß zu zögern, ging ich wieder um das Hotel herum in den Wald und bog in den kleinen Weg ein, den ich vor nicht einmal zehn Minuten verlassen hatte. Eva hängte sich bei mir ein, doch zwischen den Bäumen war der Pfad wirklich sehr schmal. Vorsichtig löste ich ihren Arm von meinem und ließ sie vorgehen. Wieder war ich von der zwielichtigen Kühle angetan. Ich erlebte den feuchten Waldgeruch noch intensiver als vorher. Ich blieb dicht hinter ihr. Sie trug Jeans mit weitem Schlag, einem kleinen roten Stoffsaum und tief um die Hüfte einen breiten Ledergürtel. Ihr eng gehäkeltes rotes Top wurde hinten von einem Bändchen zusammengehalten und ließ ihren ganzen Rücken frei.

    Dann standen wir auf der Lichtung.

    Ich tastete nach Evas Hand. Sie war ein wenig erstaunt. Ich war sehr wachsam, sehr bei mir. Vor uns die Holzkapelle, hell im einfallenden Licht.

    Sie sagte mir, wie schön sie diesen Ort fände, und ich ging darauf ein und tat so, als wäre das alles neu für mich. Genau am richtigen Punkt hielt ich an, und wie auf ein Zeichen kam der geifernde Hund herausgeschossen. Eva schrie und wollte instinktiv wegrennen. Ich warf mich schützend auf sie. Erwartungsgemäß hängte sich das Tier etwa zwei Meter von uns entfernt in seine Kette. Das Würgen und Schnauben bedrohlich nah. Ich war erleichtert, stolz, die Distanz richtig eingeschätzt zu haben. Mir ging es großartig, während ich das zitternde und ängstliche Bündel Mensch unter mir umklammerte.

    Die nächsten Tage verschwimmen. Ich saß wohl im Bus jetzt immer neben ihr. Ich fühlte mich sicher, vielleicht unverletzlich. Und hauptsächlich träge.

    Ich hätte die Sache mit dem Hund ausnützen können. Als sie mich aber einmal gegen Ende der Reise in Hammerfest mit auf ihr Zimmer nahm, blieb ich tatenlos. Wir tranken Bier auf ihrem Balkon. Wir hörten fünfmal hintereinander „Joan of Arc" von Leonard Cohen. Es war schön. Sie erwartete offensichtlich einen Kuss von mir. Erwartete eine Geste. Ich ließ es vorbeigehen. Warum, weiß ich nicht mehr. Ich bin überzeugt, ich hätte in jener taghellen Nacht mit ihr schlafen können. In ihren Augen war ich ja so etwas wie ein Held gewesen.

    Wir verbrachten danach noch einen Tag in Hammerfest. Es gab dort nicht wirklich viel Aufregendes zu besichtigen. Die müden Reisenden scharten sich um den phallusförmigen Meridianstein. Hier hatten Russen, Schweden und Norweger im Jahr 1816 gemeinsam etwas vermessen. Ich stand mit Eva im Hintergrund. Sie hatte den Arm um mich gelegt. Mir nah. In gewisser Weise freute mich das. Danach marschierten wir auf einen Hügel und schauten von dort aus auf das kleine Fischerdorf und auf den Nordatlantik. Uns wurde bewusst, dass wir hier fast am Ende der Welt standen. Es war schon komisch.

    Am nächsten Morgen wehte ein kalter Wind über das Flugfeld. Auf uns wartete eine kleine zweimotorige Propellermaschine, die uns nach Oslo bringen sollte. Eva hasste das Fliegen, und als wir uns endlich in die engen Sitze gezwängt hatten, ließ sie sich von mir trösten. Ich versicherte ihr, dass Flugzeuge nur höchst selten abstürzten und dass Turbulenzen völlig ungefährlich wären. Es lief gut. Als wir in Oslo landeten, war Eva an meiner Schulter eingeschlafen. Kurz darauf trennten sich unsere Wege, sie musste an ein anderes Gate. Da waren wir nun, hielten uns an den Händen, tauschten Adressen aus. Sie hielt meinen Kopf, zog mich zu sich und berührte mit ihren wunderschönen Lippen meinen Mund.

    Hey, Federico, sagte sie und es klang wie eine Anerkennung.

    Dann ging sie, drehte sich noch einmal um und winkte. Ich blieb einfach stehen, ein wenig verwirrt. Ich fragte mich, für wen sie mich gehalten hatte.

    Bald darauf wurde unser Flug nach Hamburg aufgerufen.

    Kapitel 3: Südspanien, 2009

    Gut. Ich habe angefangen. Ich habe etwas niedergeschrieben. Der Text liegt ausgedruckt und wie ein stiller Vorwurf auf dem Schreibtisch. Bedauerlicherweise ist das mehrere Tage her. Seitdem habe ich die wenigen Zeilen immer wieder überarbeitet. Ich kenne die Worte auswendig. Aber ich habe kein Vertrauen mehr in ihre Aussagekraft. Bin ich erkennbar? Seht her, das bin ich, Federico Henschel. Oder besser: So war ich. Es ist noch zu undeutlich.

    Ich streiche jeden Tag um den Computer herum und erstarre meistens, wenn es darum geht weiterzumachen. Weiter. Wohin? Ich schiebe meine Notizen hin und her. Auf einigen Zetteln stehen Namen. Neulich habe ich ganz wichtig Eva durchgestrichen. Da, sieh her, geschafft! Aber das war es auch schon. Meine Kreativität erschöpft sich mittlerweile in Vermeidungsstrategien. Ich gehe einkaufen, gehe Kaffee trinken, gehe aufs Klo. Jetzt habe ich mir eine Routine auferlegt. Ich stehe zusammen mit Adriana auf, und während sie duscht, mache ich ihr Frühstück. Dann checkt sie kurz ihre E-Mails, und ich wasche das Geschirr vom Vortag ab. Wir unterhalten uns wenig, denn Adriana ist morgens sehr konzentriert, tastet in Gedanken schon den Tag nach Unebenheiten ab. Mir ist das recht, ich möchte sie nicht stören. Im Gegenteil, ich mag ihren Gesichtsausdruck. Entschlossenheit, die sich langsam aus den weichen Konturen einer vergehenden Schläfrigkeit herausschält. Dann verlässt sie die Wohnung, und ich höre, wie sie das Auto aus der Garage fährt, und dann ist es still. Meistens schlafe ich noch ein, zwei Stunden. Oder ich lese. Zur Zeit Somerset Maugham, von dem Adriana behauptet, er sei ihr zu verschachtelt, zu altmodisch.

    Nun ja, sie wird es wohl wissen.

    Früher oder später fühle ich mich gezwungen, den Computer einzuschalten, und sei es auch nur, um sein leises, elektronisches Sein im Hintergrund zu wissen.

    Ich bin dann gerne in der Küche, wir haben so eine offene amerikanische, mit einem Tresen, zwei Barhockern und dann gleich das Esszimmer mit der Schiebetür, die auf den riesigen Balkon geht. Und dahinter das Meer und an guten Tagen der Blick bis nach Afrika. Ich kann mich da verlieren. Stundenlang. Mit einer Flasche Bier in der Hand. Diese ganze Idee mit dem Schreiben ist vielleicht doch nicht so gut. Ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt zurückzuschauen. So wie ich immer auf das Meer schaue. In die verschwommene Ferne eines Lebens.

    Wenn ich mal arbeite, dann im Gästezimmer. Von dort sieht man nur die Wand des Hauses nebenan. Es droht, was den Blick angeht, keine Ablenkung.

    Natürlich versuche ich mich zu konzentrieren. Ich verlasse die Wohnung so wenig wie möglich. Aber das hilft nicht wirklich. Ich stöbere stattdessen in Adrianas Sachen herum. In ihrer Unterwäsche. Im Schrank entdecke ich dann einen kurzen Rock oder ein ausgeschnittenes Kleid und stelle mir vor, wie sie darin aussah und versuche mich daran zu erinnern, wann sie es das letzte Mal anhatte.

    Was sonst? Ich gehe auf und ab.

    In einer Vitrine im Wohnzimmer haben wir allerhand Nippes herumstehen. Kristallschälchen. Porzellanfigurinen (nicht meine). Kästchen. Ein Foto von Adrianas Eltern in so einem Goldrahmen. Die Mutter, eine untersetzte Frau mit krausen grauen Haaren, sitzt kerzengerade auf einem unbequem aussehenden Stuhl. Der Vater steht hölzern dahinter, dicklich, dreiteiliger Sonntagsanzug. Menjoubärtchen, unzeitgemäß korrekt, würdevoll.

    Im Esszimmer hängt ein Druck an der Wand. Es ist Adrianas Lieblingsbild. Ich stehe oft davor und betrachte es eingehend.

    Im Gästezimmer läuft der Computer ohne mich weiter.

    Das Bild ist von Georges Seurat: „ein Sonntagnachmittag auf der Insel Grande Jatte". Ich liebe das Licht, das von links auf die Uferböschung der Seine fällt und auf die Menschen, die, eingefroren in der Bewegung, eine hellgrüne Rasenfläche bevölkern. Der vordere Bereich liegt im Schatten. Der Betrachter hat das Gefühl, von seinem kühlen Plätzchen aus in die Hitze des Tages zu schauen. Wenn ich ganz nah herangehe, fällt mir auf, dass Seurat nur Pünktchen nebeneinander auf die Leinwand getupft hat. Reine Farben, ungemischt. Der Betrachter vollendet die Mischung in seinem Kopf. Aus winzigen Teilchen entsteht ein komplexes Ganzes. Das Bild strahlt eine wunderschöne Ruhe aus. Es ist praktisch eine Karikatur der Ruhe. Ich bin eigentlich glücklich, eine Frau an meiner Seite zu wissen, die so ein Bild schön findet.

    Heute sitze ich wieder entschlossen am Schreibtisch.

    Wie soll das weitergehen?

    Da spukt noch ein von den Jahren fast verschüttetes Erlebnis in meinem Kopf herum. Vielleicht sollte ich diese frühe Episode aus meinem Leben einfach einmal aufschreiben, um Klarheit zu gewinnen. Vielleicht muss das so sein.

    Also Eva und jetzt diese Geschichte mit Walter, das ist doch ein Ansatz. Und von dort aus: mal sehen.

    Kapitel 4: Mexico City, 1972

    Mein bester Freund hieß Walter. Eigentlich war Walter mir nicht wirklich ähnlich. Er war strebsam und korrekt und bedächtig in allem, was er tat. Er war ein alt wirkendes Kind, und seine Mutter zog ihn auch entsprechend an. Nach einem langen Schultag sah er nicht verdreckt, ja, derangiert aus wie wir anderen Kinder, sondern eher wie ein Messdiener in seinen gestärkten, kurzärmligen, bis zum Hals zugeknöpften Hemden. Die Hosen hatten messerscharfe Bügelfalten und waren meistens zu kurz geschnitten; dadurch wirkten seine Füße im Verhältnis zum übrigen Körper — er war klapperdürr — viel zu groß. Walter stach aus der Masse der Kinder hervor. In erster Linie durch seine Erscheinung, aber, wichtiger noch, durch seine Intelligenz und seinen wachen Geist. Warum wir damals beste Freunde wurden, weiß ich nicht mehr. Vielleicht handelte es sich um eine Art Zweckgemeinschaft. Ich war in der Klasse einigermaßen beliebt und hielt meine schützende Hand über Walter, der sonst das Opfer ständiger Sticheleien gewesen wäre, und daraus zog er bestimmt seinen Nutzen. Man ließ ihn in Ruhe, weil wir als unzertrennlich galten. Was aber hatte ich von unserer Freundschaft? Wenn ich ehrlich bin, ging es mir darum, von ihm abzuschreiben. Außerdem erledigte er für mich die eine oder andere Hausaufgabe. Es erwies sich in jeder Hinsicht als vorteilhaft, einen Streber an seiner Seite zu haben. Die Lehrer redeten plötzlich von seinem positiven Einfluss, und die Eltern zeigten sich erfreut, dass ich mich nicht mehr so oft mit den schlimmsten Elementen der Klasse zusammentat. Walters Eigenschaften färbten ganz vortrefflich auf mich ab. Letztendlich jedoch mochte ich seine ruhige und ausgleichende Art, und ich war auch ein wenig stolz darauf, dass seine Noten unter meinem Einfluss ein wenig litten.

    Irgendwann machte es mir sogar Spaß, gemeinsam mit ihm Schulprojekte durchzuführen. Ich versuchte, das vor den anderen nicht an die große Glocke zu hängen und beteuerte, zu den Klassenarbeiten gezwungen worden zu sein. Ich gab mich gelangweilt und machte mich sogar über Walters Ernsthaftigkeit lustig. Ich boykottierte geradezu unsere gemeinsame Arbeit vor der Klasse. Selbstverständlich war ich mir darüber im Klaren, dass ich da unsere Freundschaft verriet. Deshalb versuchte ich, wenn wir alleine waren, und das mochte ich am liebsten, mit großer Begeisterung bei der Sache zu sein. Walter ignorierte meinen Mangel an Loyalität und nahm ihn als kleineres Übel in Kauf. Immerhin besser, als ohne Grund verprügelt zu werden. So dachte ich. Ich war noch zu jung, um meinem inneren Konflikt die nötigen Konsequenzen folgen zu lassen, und wenn ich es recht bedenke, bezweifle ich, dass ich es heute besser könnte.

    Einmal lud mich Walter zu sich nach Hause ein. Seine Eltern stammten aus Sachsen und waren wohl sehr früh ausgewandert. Der Vater besaß eine gut gehende Textilfabrik, und so wohnte die Familie in einem beeindruckenden Haus aus der Kolonialzeit.

    Ja, klar, in diesem Haus bin ich viele Jahre später und unter ganz anderen Umständen noch einmal gewesen. Und auch da aus dem Gefühl heraus, dass sich dort etwas für mich entscheidendes und dennoch schwer zu fassendes abgespielt hat.

    Aber zurück.

    Bei meinem ersten Besuch war nur die Mutter da. Ein blasses Wesen mit streng zurückgekämmtem Haar und rötlichen Pickeln in einem teigigen Gesicht. Sie lief hastig in dem riesigen Haus herum, lächelte grundlos, wenn sie uns begegnete und schaffte es, mir ein klein wenig Angst einzujagen. Dann blieb sie urplötzlich vor mir stehen und fragte mich mit schriller Stimme, ob ich ein Stück Kirschtorte haben wolle. Sie zuckte mit dem Kopf nach vorne und riss die Augen auf. Ich erinnere mich noch genau daran, dass Walter mir beruhigend seine Hand auf die Schulter legte und ich mich erstaunt zu ihm umdrehte. In seinem Blick lag eine Bestimmtheit, die ich noch nie an ihm bemerkt hatte.

    Ich besuchte Walter von da an öfter und lernte mit der Zeit auch die übrigen Familienmitglieder kennen. Der Vater war ein hochaufgeschossener Mann, ebenso dürr wie sein Sohn und von gelblich-fahler Gesichtsfarbe. Er sprach sehr selten und wenn es doch manchmal geschah, dass er den Mund aufmachte, konnte ich sein genuscheltes Sächsisch kaum verstehen. Die übrige Familie kicherte jedoch meistens, woraus ich schloss, dass er Humor hatte. Walters Bruder jedenfalls zitterte förmlich vor Vergnügen und murmelte seinerseits Unverständliches vor sich hin. Er hieß Peter, war ein paar Jahre älter als wir, und es fällt mir schwer, mich an ihn zu erinnern, Ich weiß noch, dass er die Angewohnheit hatte, unvermittelt aufzuspringen und geheimnisvoll zu verschwinden, wobei ihn nie jemand fragte, wo er hinwollte. Zum Glück fand die Familie selten zusammen, sodass Walter und ich uns selbst überlassen blieben. Wir verbrachten viel Zeit in einer Art Unterstand, den Walter sich im hinteren Teil des Hauses in einem selten benutzten Zimmer eingerichtet hatte. Dabei hatte er ein schweres und großes Tuch über einen Tisch geworfen und sich so eine kuschelige Höhle geschaffen, die, ausgelegt mit Kissen und bestückt mit allerlei besonderen Spielsachen, zu seinem Rückzugsgebiet wurde. Erst später erkannte ich, wie viel Walter eine derartige Enklave bedeutete. Die Tatsache, dass er mir diesen Ort zeigte, dass er durch diesen Vertrauensbeweis einen anderen, verborgenen Teil von sich preisgab, wurde von mir nie entsprechend gewürdigt.

    Eines Nachmittags, wir studierten gerade das winzige, grüne Blatt, das aus einer in nasser Watte gezüchteten Mungobohne gesprossen war, steckte die Mutter überraschend ihren Kopf in unsere Höhle. Ich erschrak, Walter jedoch schrie kurz auf, sein Arm zuckte hoch, und ich dachte sofort, er würde jetzt zuschlagen, als der Augenblick auch schon wieder vorbei war. Die Mutter zog sich zurück, und Walter kroch wortlos aus unserem Versteck. Es dauerte lange, bis er wieder auftauchte und das kleine Pflänzchen in die Hand nahm, als sei nichts gewesen. An dem Tag erfuhr ich von dem verborgenen Zimmer.

    Natürlich war mir schon früher aufgefallen, dass wir beim Herumtoben und Spielen einen bestimmten Bereich des Hauses mieden. Von außen gesehen war es ein Erker, der sich über beide Stockwerke erstreckte und der hinten wie ein Anhängsel des Hauses in den Garten ragte. Im unteren Teil versperrten stets geschlossene Jalousien den Blick ins Innere. Oben jedoch, im ersten Stock, hatte man die Fenster offensichtlich vergrößert und so einen großen halbkreisförmigen Glasturm geschaffen. Die Konstruktion hatte mich von Anfang an beeindruckt, zumal sie die Architektur des Hauses zugleich störte und bereicherte. Es war schwer zu erklären, aber mein Blick wanderte wie unter Zwang in die Höhe, sobald wir im Garten herumliefen. Ich glaube, ich fragte Walter immer wieder, was es mit dem Turm denn auf sich hätte, und immer wieder bekam ich eine ausweichende Antwort. Manchmal lächelte er verschwörerisch und murmelte etwas über ein geheimes Zimmer seines Vaters. Damals stellte ich mir dann vor, der Alte würde dort irgendwelche Experimente durchführen, irgendetwas Gruseliges, und ich sah ihn förmlich vor mir, wie er hinter einem riesigen Schreibtisch saß und mit seinen knochigen, braungefleckten Händen kleine Figuren aus Wachs formte, die er nachts zum Leben erweckte. Ich wollte dort hinein, doch Walter ließ sich nicht erweichen, er reagierte im Gegenteil immer unwirscher, wenn ich ihn drängte, doch endlich die Tür aufzuschließen. Die Tür blieb zu. So groß war meine Neugier, dass ich sogar meinen Eltern davon erzählte. Und da geschah etwas ganz Seltsames: Sie drucksten herum und versicherten mir, die Angelegenheit wäre harmlos, und es gäbe bestimmt eine einfache Erklärung für das Zimmer und auch für Walters Verhalten, und ich sollte mich nicht weiter in Sachen einmischen, die mich nichts angingen. Da dämmerte es mir, dass auch meine Eltern etwas verheimlichten.

    An jenem Tag also legte Walter vorsichtig die winzige Sprosse in ihre kleine Nische in das Licht einer wärmenden Glühbirne zurück, und ich erfuhr mehr, als mir lieb war. Zuerst sagte er gar nichts. Er schaute mich bloß abschätzend an, kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Er kam mir fremd vor, versunken in Gedankengänge, an denen ich nicht teilhaben sollte, und trotzdem fühlte ich mich diesem Menschen plötzlich viel näher als sonst. Das verwirrte mich. Dann straffte sich Walters Körper, er griff sich entschlossen meine Hand und zog mich eilig aus dem Unterstand. Ich wusste sofort, wohin er mich da zerrte, als könne er es nun gar nicht mehr erwarten, meinem Gedränge nachzugeben. Seine Hand zitterte, als er die Tür aufschloss. Ich trat hinter ihm ein. Zuerst war es sehr hell, die Nachmittagssonne ergoss sich durch die riesige Glasfront in das Zimmer, dann sah ich vor mir ein Gestänge, wie das Klettergerüst auf unserem Spielplatz. Ich konnte mir das nicht erklären. An der Decke hing ein überdimensioniertes Zahnrad, und ich glaubte, auch eine Kurbel zu erkennen und zwei kranartige Greifarme, die an einem Bettrahmen befestigt waren. Ein Bettrahmen. Ein Bett! Ich wagte nicht hinzugucken; es lag tatsächlich jemand auf einer Matratze. Da wusste ich es mit einem Mal: Vor mir stand eines jener komplizierten hoch gebauten Krankenhausbetten. Aber wer lag da drin? Klein. Kein Erwachsener. Und auch keine vertraute Form. Zwei dünne Ärmchen, die mit Lederschlaufen fixiert waren. Es war ein kleines Kind, das dort gefesselt lag und das sich schlangengleich, flüssig unter einem Bettlaken hin und her bewegte. Mir wurde flau im Magen. Ich wollte mich schon wegdrehen und wieder raus, aber Walter versperrte mir den Weg. Er sah mich an, doch ich konnte seinen Blick nicht deuten. Dann packte er mich und zwang mich, wieder in Richtung Kind zu schauen. Seine Hände bohrten sich in meine Oberarme, und ich spürte eine wütende Kraft, die keinen Widerstand duldete. Ich leistete auch keinen. Ich war zu erstaunt, so voller Fragen, die ich im Augenblick gar nicht stellen konnte. Ich ergab mich seinem Willen und starrte erschrocken auf das verschrumpelte und verformte Köpfchen. Es war kein Ekel, den ich empfand, keine Furcht, es war Scham über mein Unvermögen, mich dieser Situation zu stellen. Ohne recht zu wissen warum, fühlte ich mich gedemütigt. Und Walter stand unmittelbar hinter mir, bedrohlich und erwartungsvoll. Was wollte er von mir? Ich nahm Einzelheiten in mich auf. Die Händchen, die sich ununterbrochen zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Eine hellblaues Laken, hochgezogen bis an die Brust. Die Matratze mit einem gummiartigen Bezug, abweisend, klinisch, eingerahmt von diesem weißen, metallischen Gitter. Schließlich hörte ich das Kind wimmern, ganz leise, aber da war kein Schmerz, keine Verzweiflung in dem Geräusch, da war nur der Ton, so unmenschlich wie das Pfeifen aus einem erhitzten Wasserkessel. Ich ging näher heran, auch in der Annahme, dass Walter dies jetzt von mir erwartete. Ich beugte mich fasziniert über das Gesicht, getragen und gleichzeitig erregt von meinem plötzlichen Wagemut. Es wirkte friedlich, flach und seltsam konturlos, als wäre es auf den Kissenbezug gemalt worden. Ich verspürte den Drang, es zu berühren und war wohl gerade dabei, darüber zu streichen, als Walter mich grob zurückhielt, um mich gleich darauf eilig aus dem Zimmer zu bugsieren. Er schloss die Tür hinter sich, nun wieder bedachtsam und unaufgeregt, wie es seine Art war. Er lächelte mich sonderbar an und sagte mir, das sei sein kleiner Bruder, man könne sich das nicht vorstellen aber er sei wohl glücklich. Ja, wiederholte Walter mit verstellter, dröhnender Stimme, der sei glücklich. Ich stellte keine weiteren Fragen. Wir gingen herunter in die Küche, das heißt, ich folgte Walter etwas benommen, als er entschlossen vorging. Unten werkelte die Mutter. Der Geruch nach gekochtem Essen stieg mir unangenehm in die Nase. Sie stand mit dem Rücken zu uns, und ich sehe noch jetzt, nach all den Jahren, ihren straffen Dutt, die Bluse und den halblangen braunen Rock vor mir, die Schleife der Kochschürze, die blickdichten Strumpfhosen und die abgetretenen flachen Schuhe. Ich weiß das alles noch so genau, weil es im Nachhinein gesehen bloß der Vorspann zu einer denkwürdigen Szene war: Die Mutter drehte sich um, als wir bereits einige Sekunden im Raum standen. Sie lächelte. Doch ihr Lächeln erstarb, als sie Walters Gesichtsausdruck bemerkte. Das glaubte ich zumindest, da ich ja hinter ihm stand. Jedenfalls riss sie dann die Augen auf, fuhr sich in einer Geste schieren Entsetzens mit der Hand an den Mund, vielleicht, um einen Schrei zu verhindern und stürmte an uns vorbei aus der Küche. Erst dann wandte Walter sich mir zu. Mit einem bösartigen, fast triumphalen Grinsen und einer Gehässigkeit, die mich irgendwie mit einschloss, fragte er mich, ob ich eine Cola wolle. Wir verbrachten den restlichen Tag unter dem Tisch und redeten über alles andere. Ganz so, als sei nichts gewesen. Irgendwann holten mich meine Eltern ab, und ich schwieg die ganze Fahrt über. Was ihnen aber auch nicht wirklich auffiel.

    In den darauffolgenden Wochen lud mich Walter nicht mehr so oft zu sich nach Hause ein. Vielleicht zwei, drei Mal, ich weiß es nicht mehr, aber ich fühlte mich dort nicht mehr wohl. Den Vater und Walters Bruder Peter sah ich nie wieder, die Mutter grüßte mich mit flüchtiger Unfreundlichkeit. Und sowohl Walter als auch ich sahen ein, dass hier etwas unwiderruflich vorbei war. Im Nachhinein glaube ich jedoch, dass wir damals gar nicht ermessen konnten, was an jenem Tag wirklich geschehen war, und auch nach all den Jahren fällt es mir schwer, unsere Gefühle zu verstehen. Eines weiß ich jetzt aber sicher: In mein unbekümmertes, kindliches Leben hatte sich die unangenehme, ja, dunkle Erkenntnis geschlichen, dass nicht alles gut ist.

    In der Schule blieb anscheinend fast alles beim Alten. Ich schrieb weiterhin von Walter ab, und er kam unter der schützenden Hand meiner Freundschaft unbelästigt über die Tage. Aber eigentlich war das nicht mehr wirklich so. Man hatte sich langsam an Walter gewöhnt. Es gab kaum noch jemanden, der es lustig gefunden hätte, ihn zu hänseln, und als das Schuljahr sich langsam dem Ende zu neigte, sah ich seine magere, schlecht gekleidete Gestalt manchmal mit anderen in der Gruppe stehen; ganz so, als gehörte er dazu. Ich musste mir eingestehen, dass wir irgendwann nicht mehr unzertrennlich waren. Unsere Wege im Schulhof führten immer öfter in verschiedene Richtungen, und ich ertappte mich dabei, wie ich anfing, ihn mit Blicken zu verfolgen. Manchmal lief ich in seiner Nähe vorbei, in der Hoffnung, den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzuschnappen, wenn er sich unterhielt. Walter änderte sein Verhalten mir gegenüber, er wirkte stärker und nicht mehr so eckig, mit neuem Selbstbewusstsein erfüllt. Dann wich er mir absichtlich aus. Es kam auch vor, dass er einfach durch mich hindurch sah, mich nicht wahrnahm, mir nicht zuhörte. Aber nicht nur ich suchte verstärkt seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, seltsamerweise wurde er auch von anderen Klassenkameraden häufiger angesprochen. Er lachte mit ihnen, anders, als er mit mir gelacht hatte. Ich fühlte mich betrogen. Was wussten

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