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Der Sklave: Roman
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eBook234 Seiten2 Stunden

Der Sklave: Roman

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Über dieses E-Book

Als dem Jura-Studenten Christian Hebeisen das Buch "Die Geschichte der O" in die Hände fällt, beginnt er zu begreifen, dass auch er ein Sadomasochist ist. Erste submissive Gehversuche mit Mitstudentinnen schei-tern, was ihn ins Bordell in die Arme von Dominas treibt. Dass ihm kein selbstbestimmtes Coming-out gelingen will, führt zu massivem Leistungsmissbrauch durch seinen Arbeitgeber, eine kafkaeske Anwaltskanzlei am Zürichberg. Bald sieht er sich überall als Opfer persönlicher Erniedrigung.

In dem Roman "Der Sklave" erzählt der Zürcher Schriftsteller Jürg Brändli davon, dass Missbrauch von emotional abhängigen Menschen – von geschlechtlichen Minderheiten im Speziellen – in den Faschismus führt und es für die Betroffenen daher eine Notwendigkeit darstellt, sich im Leben sexuell und gesellschaftlich zu emanzipieren.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum1. Apr. 2020
ISBN9783907146897
Der Sklave: Roman

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    Buchvorschau

    Der Sklave - Jürg Brändli

    Mann.

    1

    Ungerechtigkeit war etwas, das ihn immer beschäftigt hatte, schon als kleines Kind. Wahrscheinlich bestand sogar eine seiner ersten Lebenserfahrungen im Empfinden von Ungerechtigkeit, diesem lähmenden brennenden Schmerz, der sich früh mit seiner Sexualität verband und ihn fürs Leben prägen sollte. Er hatte eine Schwäche für die Schwachen. Er mochte es nicht, wenn Tiere gequält wurden. Er empfand eine Faszination für das unerträgliche Schicksal von Jesus, dem Gottessohn, der für den Rest der Menschheit am Kreuz gestorben war. Früh hatte es seine Beziehung zu Gott gestört, an den er deswegen irgendwann zu glauben aufgehört hatte. Er hatte Tom Sawyer bewundert, weil der in Mark Twains Erzählungen viel Schmerz in Kauf nahm, um die Mädchen vor den strafenden Lehrern zu beschützen, und geachtet hatte er immer auch dessen Kollegen Huckleberry Finn, weil der einen Schwarzen vor der Sklaverei bewahrte, indem er mit ihm auf dem Floss den Mississippi hinuntertrieb. «Der längste Tag» war ein Film, der ihn in der Seele demütigte. Er mochte es unerklärlicherweise, wenn in Römer- und Piratengeschichten Menschen ausgepeitscht wurden, aber er war nicht schwul. In der Bibelstunde, wohin ihn seine Eltern konsequent schickten, fand er Gefallen an der Geschichte mit Samson, dem sein Haar gestohlen wurde, und an der grausamen Salome, die den Kopf von Johannes, dem Täufer, forderte. Mückenstiche, die im Sommer seine Unterarme übermaserten, wurde er im Heimlichen nicht aufzureissen müde, bis sie im Herbst kleine dunkle Male bildeten. Wenn ihn die Mädchen an der Schule erniedrigten, zumal jene, die ihm gefielen, dann fühlte er sich jeweils ausser Stande sich zu wehren, was stets seine Unschuld erschütterte und ihn stark erregte. Die anderen Knaben misstrauten ihm, weil er schwächer war als sie und sich, um zu überleben, unmännlicher Spiesse bediente. Er glaubte an die weibliche Macht, und im Zweifelsfall war er mit seiner Mutter. Er wuchs auf im Schatten eines persönlichen Unheils, im Wissen um eine tödliche Achillesverse, von der die erwachsene Welt eine grössere Ahnung hatte als er selbst, weshalb Uneingeweihtsein seine Kinderseele marterte. Es trieb ihn in die Abhängigkeit von Älteren, die er hasste. Er litt unter Todessehnsucht. Es quälten ihn schwarze Gedanken. Christian Hebeisen war nie wirklich froh darüber gewesen, zur Welt gekommen zu sein.

    2

    Aufgewachsen war er in Rüti, in einer Industriegemeinde im Zürcher Oberland, wo die Familie Hebeisen im Haltbergquartier hinter dem Bahnhof ein grosses weisses Jugendstilhaus bewohnte, mit sandiger Zufahrt und beschattet von einem hohen dunkelgrünen Hain. Im Quartier gab es Fabrikantenvillen, Gewerkschaftsbüros, protestantische Freikirchen und ein paar provinzielle Night-Clubs. Am westlichen Ende genoss man die Aussicht auf die eindrückliche Bucht des Sulzer-Areals.

    Dort, im zehnstöckigen blauen Verwaltungshochhaus hinter der steilen Bogenrampe mit Zahnradgleis, belegte der gelernte Ingenieur Heinz Hebeisen ein Büro. Als leitender Angestellter bezog er einen guten Zahltag. Beim Vater von Christian handelte es sich um einen klassischen Vertreter seiner Generation. Er verfügte über ein verzweigtes privates Beziehungsnetz und pflegte viele Freundschaften, auch solche aus dem Militärdienst. Zeit seines Lebens fuhr er viel Eisenbahn. Jedes Jahr leistete er sich ein Generalabonnement für die erste Klasse. Er hatte kurzes, schneeweisses Haar und trug stets gestreifte Hemden. Er war sportlich gealtert.

    Heinz Hebeisen war verschlossen und zwanghaft. Jeden Morgen las er zu Hause den «Zürcher Oberländer» und in der Firma den «Blick». Er sprach mit einem eingetrockneten Weinen in der Stimme. Es handelte sich bei ihm um den steifen, unflexiblen Diskretionstyp, um den in Kindheit und Jugend brutalisierten Sensiblen letztlich, nämlich um den sogenannten Fascho, und damit ums typische Schweizerische Nachkriegsmodell. Über seinem Arbeitsplatz hing ein grosses Poster mit dem Matterhorn, Monika Kälin war eine Künstlerin, die er rundum bewunderte, und er war ein alter Fan des Fussballclubs Zürich. Seine Unterarme waren trocken und behaart, und er trug ein dünnes feminines Modell von Omega. Am Sonntag trank er seinen Milchkaffee aus einer grösseren Tasse als die restlichen Familienmitglieder, und in seinem Nachttisch, das erzählte er jedem, der es wissen wollte, lagerten seine Ordonanzpistole und zehn zugehörige Patronen. Heinz Hebeisen meinte, seine Familie damit vor gewalttätigen Einbrechern zu schützen. In Wahrheit verlieh es ihm die nötige Autorität nach innen.

    Christian Hebeisen hasste seinen Vater.

    Seit jeher schlug er eher nach der Mutter, nach Esther Hebeisen, wenn überhaupt, denn eigentlich glaubte bei Sohn Christian alle Welt an ein Kuckuckskind, so sehr tanzte er mit seinem introvertierten Wesen aus der Reihe.

    Esther Hebeisen war gelernte Detailhändlerin. Sie hatte kurzes, kupferrotes Haar und trug eine unauffällige Brille mit Goldrand. Sie gefiel sich in jugendlichen Miniröcken, aber nach der Mode, und ihre laute Stimme war von einer Gepresstheit, die stets viel Frustration verriet. Sie war Gelegenheitsraucherin, aber nur auf der Arbeit und mit Kollegen, nämlich im quartiereigenen Usego-Laden.

    Bis heute schätzte Christian Hebeisen an seiner Mutter ihr robustes Wesen und eine gewisse intellektuelle Aufgeschlossenheit, beispielsweise gegenüber den Lehren Rudolf Steiners. Menschen, die Esther Hebeisen nicht mochten, nannten sie deswegen ein Reibeisen oder eine Progressive im abschätzigen Sinne. «Extremeties» mit Farrah Fawcett-Majors in der Hauptrolle war ein Kinofilm, den sie liebte und den sie auf Video besass. Unter Feminismus verstand sie spätpubertäre weibliche Eitelkeit. Sie neigte zu Egoismus und zu Gefühlskälte, und in der Beziehung zu ihren Kindern machte sich eine grundsätzliche Ignoranz bemerkbar. Das schizophrene Verhalten gründete in der Verdrängung jenes Schmerzes, der ihr der Verzicht auf Identität verursachte. Dass es sich bei Esther Hebeisen in Wahrheit um eine Lesbe handelte, sollte in der herrschenden Provinzialität nämlich nie zu einem Thema werden. Aber sicher war es mit ein Grund, weshalb das Ehepaar mehrere Phasen der vorübergehenden Trennung durchlebte, in denen sich die Mutter selbst zu verwirklichen versuchte, unter anderem als Gründungsmitglied der kantonalzürcherischen POCH.

    Christian Hebeisen hatte zwei ältere Geschwister: Susi und Dieter. Die Schwester sollte später Handarbeitslehrerin werden und im Ort unterrichten, der Bruder arbeitete heute als Lüftungszeichner bei Belimo.

    Die Familie verreiste in Ferien ans holländische Meer, verbrachte ganze Sonntagnachmittage am Egelsee oder auf dem Hasenstrick, wo die Sportflugzeuge starteten und landeten. Im Spätsommer besuchte man jeweils den grossen Jahrmarkt mit seinen Karussells in Wetzikon. Es gab ein jährliches Quartierfest mit Bankett auf der gesperrten Strasse. Lampions am ersten August. Feuerwerk zu Sylvester. Mehr als einmal kam die Tour de Suisse und brachte Gratismützen und Flaggen aus Plastik.

    3

    Kaum waren die Hebeisens an die Haltbergstrasse gezogen, waren sie in eine Freikirche eingetreten. Mit den Gemeindemitgliedern pflegten sie auch privaten Umgang. Im Ort gab es eine Chrischona- und eine Pfingstgemeinde sowie methodistische und neuapostolische Kappellen. Christian Hebeisen mochte weder die Art von Kirche noch die zugehörigen Menschen. Früh war ihm sein Milieu zu eng, zu kleinkariert und zu bigott gewesen. Schon als Kind geriert er deswegen in den Ruf des Asozialen.

    In der Volksschule, die er auf dem Schlossberg besuchte, zog er sich während der Pausen jeweils alleine auf die Bank am Aussichtspunkt zurück und genoss, derweil er schweigend sein Pausenbrot verzehrte, den Blick auf den Mürtschenstock, den Glärnisch, auf das Wäggital und den Etzel.

    Irgendwann entdeckte er in der Freizeit das ausrangierte Stück Gleis zwischen Bubikon und Wolfhausen, das einmal Teil jener Dampfbahn gewesen war, welche die Seegemeinde Uerikon mit Bauma verbunden hatte, das nördlich davon im Fischental lag. Hebeisen liebte die schattige und verwachsene Nagelfluhschlucht, durch welche die Schienen führten, sowie die fünf grossen olivgrünen Tankkessel, die sie in der Mitte bedienten. Sie standen hälftig im Wald, waren verwittert, und es wurde in ihnen Heizöl gelagert.

    An diesem romantischen Ort fand Hebeisen seine Ruhe.

    Er liebte Einsamkeit. Gleichzeitig handelte es sich dabei um eine zweischneidige Sache. Es verhielt sich damit in seinem Leben ein bisschen wie mit dem Ei, mit dem Huhn und der Frage danach, was von beidem wohl zuerst gewesen sei. Hebeisen war sich nämlich nie so richtig im Klaren darüber, ob er sich zurückzog, weil er tatsächlich von einzelgängerischem Wesen war, oder ob er es bloss aus Stolz tat, um der subtilen Zurückweisung zuvorzukommen, wie er sie täglich in seiner Familie erlebte und deshalb auch vom Rest der Welt erwartete.

    Hebeisen hielt sich deswegen lange Zeit für einen ungewollten Sohn. Bis ihm jemand erklärte, dass es sich gerade bei den unvorhergesehenen um so genannte Liebeskinder handeln würde, weil sie ohne Kalkül gezeugt würden. Sie seien unter einem ganz besonderen Stern geboren und würden deshalb vom Leben später bevorzugt behandelt. Es leuchtete Hebeisen ein, weshalb er die Möglichkeit für sich irgendwann ausschloss. Ein solches Liebeskind zu sein, das stand zu sehr im Widerspruch zu seiner Befindlichkeit.

    Weiterhin erfuhr er chauvinistische Verletzung aus dem Kreis seiner Nächsten, ohne die dicke Haut zu spüren, die ihm deswegen um die Seele wuchs.

    Hebeisen sollte früh eine Beziehung zum Katholischen entwickeln. Er begann damit, die römisch-katholische Kirche im Ort aufzusuchen, den modernen, quadratischen Raum mit den vielen Kabinen fürs Beichtgespräch. Aber nur alleine und wenn kein Gottesdienst war. Papst Johannes Paul II. war eine Figur, die ihn früh faszinierte. Es handelte sich um eine natürliche Verbundenheit, und im Gegensatz zur restlichen Familie empfand er dabei keinerlei Berührungsängste. Das Katholische war ganz einfach das, was Hebeisen in der Isolation seiner Kindheit als Erstes erreicht hatte, sinnstiftend und absolut. Intrigen in Schweizer Bistümern interessierten ihn nicht. Es betraf nicht das, woran er im Stillen partizipierte. Vor allem aber vermochten solche Konflikte nichts an seiner Einstellung zu verändern.

    Im Dachstock seines Elternhauses belegte Hebeisen eine Kammer. Nur er besass dazu einen Schlüssel. Er nannte das Estrichabteil sein Atelier. An die Wand hatte er ein selbstgemachtes Kruzifix gehängt. Im Raum machte er experimentelle Musik auf einer elektrischen Gitarre, die er occasion erworben hatte. Arnold Böcklin, der Maler, und Stuart Sutcliffe, der Musiker, waren Vorbilder, die ihn inspirierten. Er malte grosse Bilder in Ölfarben, nachts und im Licht von Opferkerzen. Meistens handelte es sich um Mordfantasien: um Hinrichtungen, um Duelle und um die Porträts von sterbenden Nazis. Die Werke, die meist in Grau und Rot gehalten waren sowie auf schwarzem Papier, hatten eine hohe Qualität, und Hebeisen wusste, dass er Talent besass. Es war eine innere Unbestechlichkeit, die seinen Pinsel führte. Trotzdem blieb es bei der Selbstbefriedigung im Versteckten. Es war Scham, die ihn davon abhielt, diesen Teil seiner Persönlichkeit öffentlich zu machen. Zu arg kollidierte er mit den seelischen Erfordernissen seiner Erziehung. Sein Kreatives war dem Unsensiblen nicht gewachsen, wie es das Protestantische für ihn überall bereithielt. Kam es hingegen vor, dass er mit seinen klandestinen Leidenschaften tatsächlich auf fremdes Interesse stiess, bei Verwandten, bei Lehrern oder bei Freunden seiner Eltern, dann fand sich Hebeisen stets in der Rolle desjenigen wieder, der sein Werk zu schützen hatte wie einen hochempfindlichen Film, dem Zerstörung durch Überbelichtung drohte, so sehr fürchtete er sich damals vor falscher Aufmerksamkeit, vor der Entweihung seines Unabhängigsten durch den Inzest.

    Im engen Refugium gab es auch eine Musikanlage, einen Plattenspieler mit Radio und zwei zugehörigen Boxen. Abends hörte Hebeisen hier «Sounds», die Sendung mit François Mürner auf DRS3. Bei der ersten Schallplatte, die er in einem alternativen Musikgeschäft in Zürich kaufte, handelte es sich um die Maxisingle «Eloise», nämlich in der Version von The Damned, und «Paris, Texas», der Film von Wim Wenders, weckte Hebeisens tiefere Leidenschaft fürs Kino, nachdem das aufsehenerregende Werk seinerzeit in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte.

    Sein Atelier war Hebeisens Gummizelle, die der Unliebsame eingerichtet hatte, um den Rest der Familie vor seiner Pubertät zu bewahren.

    Von Zeit zu Zeit hielt er auf seinen Leinwänden die Aussicht fest, die ihm das kleine Mansardenfenster bot: den Hain und die Dächer des Quartiers, nämlich im Licht der verschiedenen Jahreszeiten. Dazu benutzte er Rahmglacéfarben, die er auf seiner Sperrholzpalette anrührte wie Tonglasur. Auf den Sims neben dem Aschenbecher streute er hie und da Körner, um damit die Amseln und die Spatzen zu füttern. Das Mansardenfenster lag zufälligerweise nach Norden. Hebeisen war stolz darauf, denn er hatte gehört, dass viele berühmte Künstler bei nördlichem Lichteinfall gemalt hatten, weil es dann im Atelier keine wandernden Schatten gab, die das Resultat auf der Leinwand verfälschen konnten.

    Die Zeitungen berichteten über Tschernobyl, über den Borkenkäfer und übers Waldsterben.

    Das familiäre Mobbing hörte auf zum Preis, dass Hebeisen sich im Alltag nun selbst verletzte.

    Es war die Zeit, in der er anfing, sich um sein Äusseres zu kümmern.

    4

    Hebeisen hatte jung ein schmales und dunkles indianisches Gesicht mit schönen Zügen und vollen männlichen Lippen. Sein magischer Blick entsprang schwarzbraunen Augen. Er hatte dunkle gerade Haare, die ihm etwas Abenteuerliches verliehen, weil er sie schulterlang trug. Er wusste, dass er durch sein Äusseres auffiel. Gleichzeitig haftete seinem guten Aussehen etwas Eigenbrötlerisches an: eine exotische Verletzlichkeit, ein Nimbus von Unschuld, eine fast schon heiligenhafte Unnahbarkeit. Seine ganze Person war von kontrolliertem, rundem Wesen.

    In seiner Jugend mochte er braune Lederjacken mit Wollstössen, die ihm etwas vom arktischen Pionier verliehen. Dazu trug er meistens Bluejeans und Turnschuhe von Adidas, nämlich aus abgewetztem, knochenweissem Leder und mit himmelblauen Streifen. Lange besorgte ihm die Mutter seine Hemden, die er unter ärmellosen Pullovern trug. Es gab eine Phase, da gefiel er sich mit Beret. Im Winter trug er dicke, uneitle Wollschals. Indem er gerne einen legèren Eindruck machte, hatte er lange Zeit etwas von einem ungelenken, französischen Sozialisten. Damals hätte man sich nicht gewundert, ihn in einem Boulevardcafé beim Schreiben von Literatur und beim Trinken von Pastis anzutreffen. Ein Stückweit handelte es sich jedoch um Verkleidung. Das Frühlingshafte an der Kluft seiner Jugendzeit sollte über jene Schwermut hinwegtäuschen, die in ihm hockte wie ein unerklärliches Schuldgefühl, nämlich seit er denken konnte, und die er deshalb mit sich herumschleppte wie eine unsichtbare Sträflingskugel.

    Ein Arzt hatte ihm einmal vom Unglück erzählt, das eine fehlgeschlagene Injektion bei einem Patienten verursachen sollte: Das Serum habe sich nach dem Einspritzen, anstatt im ganzen Körper heilende Wirkung zu entfalten, in einer einzigen Blase gesammelt, um im Fleisch nichts weiter zu verursachen als schrecklichen Schmerz. Das Bild schoss Hebeisen immer dann in den Kopf, wenn er an seine Erziehung denken musste. Es war ein Gift, das sein Organismus Zeit seines Lebens abgestossen hatte. Er wollte kein Teil jener Sache sein, die sie das Protestantische nannten. Immer musste er an diese Zeile aus dem Song von Supertramp denken, «You take a long way home», und daran, wie sehr ihn der Inhalt ärgerte. Er war nicht homosexuell. Das Leben, das vor ihm lag, sollte nicht bloss einen spasshaften Umweg bilden auf dem Weg zurück nach Hause und zur Mutter. Er hatte vor, die halbstarke Prägung irgendwann zu verlassen, mit der ihm seine Umwelt ständig ein Bein stellte. Er war nicht einverstanden mit seinem Platz im grossen Puzzle, das man für ihn vor langer Zeit ausersehen hatte, und er wehrte sich deshalb mit Kräften dagegen, wie ihm hinterrücks und in Respektlosigkeit die nötigen Kanten

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