Wortgeschichten: Wörter, die mir zugefallen sind
Von Katrin Züger
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Über dieses E-Book
Katrin Züger
Katrin Züger, 1952 geboren. Studium der Germanistik, Philosophie und Komparatistik sowie der Betriebsökonomie FH. Von 1996 bis 2011 an der Universität Zürich tätig, daneben Lehraufträge an der Universität Zürich in Linguistik und Unterricht an der Schule für Angewandte Linguistik SAL in Zürich. Diverse Fachpublikationen. Von 2011 bis 2016 eigenes Schreibbüro «Text und Kontext». Von 2014 bis 2017 Projektleiterin 100-Jahr-Jubiläum der Zentralbibliothek Zürich. 2012 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung «Meine Welt hat in einem Schächtelchen Platz», 2013 «Strandsteine in der Atacama», 2015 «Flaches Land», 2016 «Wolkig, zeitweise Sonne», 2018 «Tongasoa» und 2019 der erste, 2021 der zweite Band mit «Wortgeschichten». Katrin Züger lebt in Aeugst am Albis.
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Wolkig, zeitweise Sonne: Von Menschen und anderen Begebenheiten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFlaches Land: Geschichten von zuhause und unterwegs Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
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Buchvorschau
Wortgeschichten - Katrin Züger
Man kann unmöglich wissen, warum das eine passiert und das andere nicht.
Doggybag, Rucola, Balconette, Matmatah. Wörter, die kommen und gehen. Ohne erkennbaren Anlass tauchen sie auf und versinken im selben Moment in ihrer eigenen Sprachlosigkeit.
Andreas Neeser, Zwischen zwei Wassern
In Wallisellen las ich zum ersten Mal in meinem Leben das Wort Hochregallager.
Franz Hohler, Frühlingsspaziergang
Ich starrte den Mann, der neben dem Bett stand, an, dunkler Teint, dunkle Augen, buschige Brauen, weisser Kittel, umgehängtes Stethoskop, und der Mann streckte mir die Hand hin und sagte glasklar Grüezi. Es ist merkwürdig, vielleicht auch ein wenig beschämend, wie dieses eine Wort mich belebte, wie es sich in meiner Seele sofort verknüpfte mit der Vorstellung von Qualität, mit Gefühlen des Aufgehoben- und Gerettetseins.
Markus Werner, Bis bald
Er sammelte die Steine, und weil ihm dabei langweilig wurde, gab er ihnen Namen. Und als ihm die Namen ausgingen, gab er ihnen Worte. Und als ihm irgendwann klar wurde, dass es auf seinem Grund und Boden mehr Steine gab, als er Worte kannte, begann er eben von vorne.
Robert Seethaler, Ein ganzes Leben
Warum dann also den Tukuhnikivatz besteigen? Weil ich es so möchte. (…) Und schliesslich, weil ich den Namen mag. Tukuhnikivatz, in der Sprache der Ute-Indianer: «Wo die Sonne weilt.»
Edward Abbey, Die Einsamkeit der Wüste
Inhalt
Vorwort
JANUAR: GEFUNDENES
1 Schachtelhalm
2 Herbstzeitlose
3 Lesestein
4 Schächtelchen
5 Postkarte
6 Lehrbienenhaus
7 Schnecke
8 Gräser
9 pfriemlich, lanzettlich, linealisch
10 Moderkäfer
11 Fliegenpilz
12 Weidenbohrer
13 Röhricht
14 Sommervogel
15 Rotkopfwürger
16 Violetter Rötelritterling
17 trophische Kaskade
18 Neandertaler
19 Laterit
20 Sand
21 Ucluelet
22 Goldfisch
23 Nachtabsenkung
24 Löli
25 bärbeissig
26 Raufhandel
27 Larifari
28 Forsanose
29 pastos
30 Schieber
31 Fortschrittsbalken
FEBRUAR: ZUGELAUFENES
32 Rotbuche
33 Queller
34 Mürbeteig
35 Dschelada
36 Marmolata
37 Wildebeest
38 Korkeiche
39 Berberitze
40 Grütze
41 Hülsenfrüchte
42 Ricoter
43 Büsi
44 San Bernadino
45 Fahrgeschäft
46 Wellenschliff
47 Retardkapseln
48 Hautriss-Schutzfilm
49 Kanüle
50 Anstösser
51 Dachvorsprung
52 Grümpel
53 warten
54 hemmungslos
55 unverblümt
56 mängisch
57 unwegsam
58 hellhörig
59 wehleidig
60 herzlos
MÄRZ: AUFGESTÖBERTES
61 Huflattich
62 Oranger Knirps
63 Montafoner Steinschaf
64 Tonle Sap
65 Krav Maga
66 Teff
67 Album
68 Zettels Traum
69 Scherenschnitt
70 Kataster
71 Zahnpasta
72 Kärcher
73 Gräslikon
74 Orplid
75 Konnetabeln
76 Stöckchen
77 reduzierte Knitterbildung
78 Spannbügel
79 Hohlraumversiegelung
80 nichtflüchtiger Speicher
81 Kalotte
82 Schlendrian
83 finnische Albträume
84 unbeschuht
85 ausgehen
86 lockerbeerig
87 ostinatohaft
88 blümerant
89 schludrig
90 munzig
91 Schlagloch
APRIL: HERGEWEHTES
92 Wolke
93 Gischt
94 Wettercharakter
95 Rückseitenwetter
96 Tagesgangwetter
97 Niederungen
98 Mistral
99 ungehalten
100 Stubenfliege
101 Moderlieschen
102 Kriechender Günsel
103 Schmetterlingshaft
104 Ahorn
105 Melchsee-Frutt
106 Stanserhorn
107 Transhumanz
108 besorgt
109 Anziehsachen
110 Strada del Fuoco
111 Tamariske
112 Tamarinde
113 Geschöpf
114 Lucy
115 Tajarin
116 Marmelade
117 Schopf
118 Andacht
119 Schachtexpress
120 Lakalut
121 Brutparasitismus
MAI: WOHLGEFÄLLIGES
122 Viamala
123 Timanfaya
124 Katahdin
125 Atchafalaya
126 Tramontana
127 Atacama
128 Caramel
129 Ambrakischer Golf
130 Scharlachspint
131 Obsidian
132 anthrazit
133 Schesaplana
134 Catalina
135 Kalabinth
136 Hallimasch
137 Waldameisen
138 Wimpernschlag
139 Erdbeere
140 Regenbogen
141 Arcobaleno
142 Morning Glory
143 Da Nang
144 Anakonda
145 Halibela
146 Kaliber
147 Randale
148 Meteorwasser
149 Regenereignis
150 Schermen
151 Cabeza de carrera
152 Radwechsel
JUNI: LIEBENSWERTES
153 vorig
154 amigs
155 imfall
156 ausgelassen
157 salzigmollig
158 ameisenhaft
159 Flugsand
160 Gott
161 Sinn des Lebens
162 Brösmeli
163 Quetschprüfung
164 Fremdkörperfalle
165 Frostschutzmittel
166 Daseinsintensität
167 puppig
168 Blattschuss
169 Ernährungsfehler
170 Dienstleistungsservice
171 Frühstücksangebot
172 Ganzheitliche Therapiepraxis
173 Affenfelsen
174 Brombeerstrauch
175 Kontamination
176 Meuchelmord
177 Floskelmonster
178 Gugus
179 Fliessband
180 Stockplatsch
181 Arsendosen
182 Krämpelchen
JULI: HINTERGRÜNDIGES
183 Geländer
184 Karabiner
185 Odradek
186 Wellblech
187 Beat
188 Gestüt
189 Rabatte
190 Meerrettich
191 Brei
192 Schnee von gestern
193 Halma
194 Gänsefüsschen
195 Pfeifenerde
196 Blauwal
197 Geleise
198 Frühlingsputz
199 Schlittelweg
200 Kellerassel
201 Fabian
202 genussfreudige Postur
203 dann ist es zu spät
204 nahtlos
205 fürwahr
206 entgelben
207 zunderobsi
208 weleweg
209 vermisst
210 entsorgen
211 mehrwertsteuerpflichtig
212 schlotzig
213 suppig
AUGUST: RÄTSELHAFTES
214 Erdkrümmung
215 Schneeball
216 Meringues
217 Artemia
218 Krautsaum
219 Ruderalfläche
220 Moellonsteine
221 Wendehals
222 lückig
223 Regenwurm
224 Gemelk
225 Pointer
226 Mutzli
227 Flugzeug
228 Nichtschwimmer
229 Zahl
230 Kreuz des Südens
231 Schlitten
232 Ebbe und Flut
233 Gemurmel
234 Faustbrot
235 Erinnerung
236 Ruhestifter
237 Gesicht
238 Polier
239 Topogeny
240 unredlich
241 ausbüxen
242 lohfarben
243 schmunzeln
244 behäbig
SEPTEMBER: FRAGWÜRDIGES
245 Gottesanbeterin
246 Talmi
247 Unkraut
248 Pech
249 Unterfangen
250 Gläubiger
251 Verzehr
252 Piano
253 Werktätige
254 Waschbeutel
255 negative Wohnsitzauflage
256 Veloabstellverbot
257 kabellos
258 wieselhaft
259 schneeschippen
260 unhintergehbar
261 Schärfentiefe
262 Fahrnis
263 Aushub
264 Wandelhalle
265 Krawall
266 Habseligkeiten
267 Firlefanz
268 Cheib
269 Störenfried
270 Gelübde
271 unkaputtbar
272 Chabis
273 bäumig
274 konturenreich
OKTOBER: UNGEKLÄRTES
275 Wildnis
276 Klänge
277 Orang-Utan
278 Samen
279 Intensivstation
280 Kabelsalat
281 Gefängniswort
282 Cantucci
283 Formosa
284 Kohlendreieck
285 Durchmesserlinie
286 Zeitverlust
287 der zerbrechliche Wald
288 überstürzt
289 Klimarat
290 Plunder
291 Härdöpfel und Heubeeri
292 numen
293 gschpässig
294 Einerkolonne
295 Fideli
296 Biohacking
297 erschöpft
298 Sommer
299 Flexibilität
300 Weg
301 Hoger
302 Goasse
303 Tolggen
304 Misophonie
305 Strategie
NOVEMBER: UNERHÖRTES
306 Wegwarte
307 Verzasca
308 Kompostwurm
309 Lidranddrüse
310 Erdbebenertüchtigung
311 Schabernack
312 Leinenpflicht
313 Kesselflicker
314 Schauer
315 leere Signifikanten
316 Affront
317 das Leben in die Enge treiben
318 Sprüche
319 Flause
320 Zwieback
321 Röhrli
322 Hümpeler
323 Finken
324 wifeln
325 Obacht
326 Schattenwurf
327 Langeoog
328 schwarzes Wasser
329 Hirse
330 Futteral
331 Genfer Gelöbnis
332 Treibsand
333 Häme
334 zartschmelzend
335 sesselhaft
DEZEMBER: HINTERSINNIGES
336 Autofiktion
337 Quergelesenes
338 Nichts
339 Lützelflüh
340 Rossignol
341 Schnaps
342 Nimmersatt
343 Glücksverstärker
344 Minutenei
345 Schrott
346 Baby
347 abenand
348 schiefern
349 spazieren
350 Nasshaftkraft
351 Strumpfhose
352 Gegenwärtigkeit
353 Seidenpapier
354 Kranführer
355 Genderkrampf
356 Kaugummi
357 Malutensilien
358 Dschungel
359 Schoggigesetz
360 Fifeli
361 Gützli
362 Schmutzli
363 Gekreisch
364 Höhle
365 Kühlwasser
366 Schnittlauch
Index und Referenzen
Vorwort
Wie gehen Gedanken? Gar nicht, sagt der junge Mann zum Kommissar. Gedanken können nicht gehen, denn sie haben keine Beine. Aber Gedanken kommen, fliegen einem zu, drängen sich auf. Manchmal, wenn ich gehe oder laufe, im Zug sitze, die Zeitung lese, Nachrichten höre. Wörter, die sich herauslösen, aus einem Text, sich verselbständigen, oder sich einfach zu einem gesellen, unverhofft, aus dem unergründlichen Geflecht der Erinnerungen, als Geistesblitz, als Assoziation aufgrund eines Anblicks, eines Geruchs, eines Geräuschs, eines Windhauchs, bewusst oder unbewusst, scheinbar zusammenhanglos. Man ist einen Moment perplex, lässt es vorbeiziehen. Oder man schreibt es auf, will mehr darüber wissen. Manchmal auch einfach, weil es schön klingt.
Larifari. Das Wort ist da, ich weiss nicht woher und warum. Kesselflicker. Transhumanz. Scherenschnitt. Minutenei. Plunder. Ucluelet. Pech. Korkeiche. Halibela. Meteorwasser. Mein liebstes Wort ist «Kanalfernsehen». Weil es irritiert, wenn es auf einem Kastenwagen voller Geräte und Werkzeuge steht, und dann beflügelnde Assoziationen weckt. Mein zweitliebstes Wort ist «Atacama». Oder «Taklamakan». Oder «Kalahari». Es könnte auch «Baum» sein, weil man auf Bäume klettern kann. Oder «blau», meine Lieblingsfarbe. Oder «Buch», weil ich Bücher mag. Eigentlich habe ich gar kein liebstes Wort.
Manche Wörter sind so schön und richtig, dass man sie ans Herz drücken möchte. Atacama, Catalina, Yamasca, Aoteaora, Taganana, Malatesta, Acantilado, Karnataka, Marikana, Okavango, Tamina, Sitatunga, Akaroa, Alessi, Taklamakan, Matanuska, Salamanca, Almagest, Carrara, Malbec, Amaranth, Tallahassee, Kalahari, Malarone, Andromeda, Tuscaloosa, Viamala, Matapédia, Annalena, Nenana, Atalanta, Tanana, Alexandra, Cavardiras, Tramontana, Atchafalaya, Tavanasa, Timanfaya, Astana, Kandahar, Marketa, Alabama, Misrata, Shenandoah, Travertin, Arakanga, Waldeinsamkeit …
Aber was ist ein schönes Wort? Eines, mit dem sich schöne Erinnerungen verbinden? Eines mit einer berührenden Lautfolge? Eines, bei dem Wort und Ding übereinstimmen? Eines, dessen Bedeutung für uns von besonderer Bedeutung ist? Adler zum Beispiel, Bergmolch, Confiserie, Dinosaurier, Fenchel, Giraffe, Hängematte, Luftibus, Orca, Polarlicht, Rätsel, Siebensachen, Tarzan, Wanderzirkus, Zierfisch. Vielleicht finden wir Wörter auch einfach nur schön, weil sie uns vertraut sind. Und vergessen, dass sie Menschenwerk sind. Manchmal richtige Kunstwerke. Regenbogen, Sehnsucht, Reisefieber, Cremetörtchen, Sommersonnensonntag, Diebstahlsicherung, Produktivitätsrente, Schienenersatzverkehr, Niederschlagsereignis, aus bestehenden Wörtern zusammengesetzt, aber so, dass sie schwerelos ineinander übergehen und verschmelzen.
Gibt es hässliche Wörter? Oder sind es die Inhalte, die wir nicht mögen? Schwanger, Baby, Sale, Blutwurst, Gulasch, Kutteln, Voressen, Rumpf, Bürzel, Stilikone, Impfzwang, Stuhluntersuchung, gekröpfter Nordanflug. Wörter und Wendungen, mit denen sich romantische Stimmungen wirkungsvoll untermalen lassen: Kehrichtverbrennungsanlage, Verfügbarkeitsproblematik, Ergänzungsleistungen, Therapiezieländerung, Beschaffungsmarktportfolio, emergente Formierung von Strategien, Umstrukturierung der bestehenden Wissensbasis, Evolution von sozialen Systemen als selbstorganisierender, autopoietischer Prozess. Flora und Fauna, wer verpasst ihnen diese Namen? Spinnweben-Hauswurz, grosskopfige Gemswurz, Fetthennensteinbrech, einköpfiges Ferkelkraut, gelbe Platterbse, aderiger Scheibenbecherling, warziger Drüsling, spitzkehliger Kahlkopf, eingesenkter Sandborstling, schmutziger Stacheling, Graubürzel-Singhabicht, Gabelracke, Neuntöter, Isabellwürger, Schwarzstirnwürger, Büffelkopfwürger. Der Würger, kein wütender Unhold, sondern eine sympathische Vogelfamilie aus der Ordnung der Sperlingsvögel, klein bis mittelgross, oft mit auffällig kontrastreich gefärbtem Gefieder. Der Büffelkopfwürger, ein ausgesprochen hübscher, wohlklingender, orangeroter, kleiner Vogel, zumindest das Männchen, das Weibchen etwas weniger bunt, aber ebenso friedfertig, wie mir scheint, nicht bei uns heimisch, sondern weit entfernt, irgendwo in Ostasien.
Ich habe irgendwann begonnen, Wörter zu sammeln, jeden Tag eins, mal zwei oder drei, mal ein paar Tage keins, habe sie aufgeschrieben, Überlegungen angestellt, Nachforschungen betrieben, mit Geschichten verknüpft. Ergibt 366 Wörter (für ein Schaltjahr). Manchmal sind es auch Wortgruppen. Hier ist das Resultat.
Januar: Gefundenes
1 Schachtelhalm
Mila geht zu einem Wäldchen am Ufer des Sees. Sieht Blässhühner an der Arbeit. Der Nebel lichtet sich, die Sonne bricht durch. Der frisch gepflügte Acker ist von Krähen und Staren bevölkert. Unverwüstliche Gänseblümchen säumen den Weg. Kaum geköpft, wachsen sie wieder nach. Noch ist Sommer. Spätsommer. Mücken tanzen im Sonnenlicht. Ein Mäuschen wagt sich hervor, schnuppert hier und da, begleitet Mila ein Stück, bevor es wieder im Unterholz verschwindet. Dort locken die roten Beeren das Aronstabs. Sie sind giftig, doch der Aasgeruch ist verschwunden. Von ferne ist das Lachen eines Grünspechts zu hören. Oder ist es ein Eichelhäher? Eine Ringelnatter schlängelt sich durch das Blattwerk der Seerosen. Ein toter Igel liegt zusammengerollt am Wegrand. Das Schilf steht jetzt so dicht, dass es den Durchgang von beiden Seiten bedrängt. Schachtelhalme mischen sich darunter, erstaunlich mächtige, versuchen die Schilfrohre zu übertrumpfen. Lebende Fossilien, stolze Zeugen alten Lebens, als es noch keine Menschen gab. Wachsen seit dreihundert Millionen Jahren auf der Erde, fast unverändert, nur an Grösse haben sie eingebüsst, waren einmal bis zu dreissig Meter hohe Bäume, bildeten die ersten Wälder der nördlichen Hemisphäre und vermoderten dann zu Steinkohle. Doch mir scheint, sie holen auf, wachsen dichter, höher. Vom See ist kaum etwas zu sehen. Die Teichrohrsänger, die im Frühling gerne von Stängel zu Stängel hüpfen und ihren leisen, rhythmischen Gesang erklingen lassen, sind nicht mehr zu hören, und die Iris, die leuchtend blau aus dem durchsichtigen Grün hervorstachen, sind längst verblüht und protzen jetzt mit dicken Kapselfrüchten.
2 Herbstzeitlose
Sieh mal, die Blume da. Diese Blässe. So einsam und so früh im Jahr. Ende Juli ist es erst. Wagt sich frühreif hervor. Denkt vielleicht, es ist schon Herbst. Aber es ist noch Sommer, könnte nicht mehr Sommer sein, so warm, so trocken, so anhaltend. Doch dann, im September, als ich wieder vorbeikomme, hat sie die Artgenossinnen mobilisiert, die Wiese ist nun gesprenkelt voll, ein Gewimmel und Gewusel aus hellgrünem Gras und lila Blüten. Sind aus dem Sommerschlaf erwacht. Herbstzeitlosen. Aber warum Herbstzeitlosen? Weil der Herbst so zeitlos ist oder die Herbstzeit lose? Ich frage die, die zuerst da war. Weil wir nicht wie alle anderen sind und im Frühling und Sommer blühen, sagt sie, sondern erst im Herbst, die Zeitlosen eben. Weisst du, dass es auch einmal anders war, dass die Zeitlosen die Blumen im frühen Frühling waren, Krokusse und so, und dass wir irgendwann beschlossen, das Blühen auf den Herbst zu verlegen, einfach so, weil es uns gefiel, und also zu den Herbstzeitlosen wurden? Und wusstest du, dass wir zwar im Herbst blühen, aber erst im Frühling die Blätter und die Früchte spriessen lassen? Gerne werden wir deshalb mit dem Bärlauch verwechselt, der nicht giftig ist, wir Herbstzeitlosen sind es aber umso mehr. Ich mag Herbstzeitlosen, weil ich den Herbst mehr mag als den Sommer.
3 Lesestein
Liegen auf Wiesen, Weiden und Äckern herum. Durch Verwitterung verloren sie die Verbindung zum Ursprungsgestein. Erosion, bodenmechanische Vorgänge und Bodenbearbeitung beförderten sie an die Erdoberfläche. Wenn sie die Bodenbearbeitung stören oder die Produktivität der bearbeiteten Fläche mindern, werden sie durch «Ablesen» beseitigt und an den Feldrändern gesammelt. In besonders steinreichen Gegenden werden sie zu Lesesteinhaufen, Lesesteinwällen oder Trockenmauern aufgeschichtet. Da durch die fortschreitende Bodenerosion und durch Frosthub (vor allem in den eiszeitlichen Lockergesteinen) laufend neue Steine an der Erdoberfläche «nachwachsen», muss immer wieder neu «abgelesen» werden. Lesesteinhaufen sind Lebensräume für Kriechtiere, Insekten, kleine Säugetiere und Pflanzen. In vielen ländlichen Regionen werden Lesesteine neben Bruchsteinen zum Bau von Häusern, Speichern und Unterständen verwendet.
Jeden Sommer begeben sich junge Leute auf die Baumgartenalp zuhinterst im Glarnerland und befreien sie vom Geröll, das Lawinen und Murgänge im Winter aufs Weidegebiet getragen haben. Am Ende liegen riesige Säcke voller Felsbrocken verstreut herum, von Weitem zu sehen, und warten auf den Abtransport durch den Helikopter, denn wer sonst vermag diese tonnenschwere Last den steilen Berg hinunterzubefördern. Die Baumgartenalp, eine der ältesten Alpen des Kantons, Anfang vierzehntes Jahrhundert zum ersten Mal schriftlich erwähnt, in einem Inventar des Klosters Säckingen. Hier soll es die längste durchgehende Trockenmauer des Alpenraums geben, tausend Meter lang. Seit Jahrhunderten hält sie das Vieh davon ab, über die Felswand zu stürzen. Seit einiger Zeit steigt die Wertschätzung für das traditionelle Mauerwerk, das aus Lesesteinen ohne Bindemittel errichtet wird. Jetzt soll die Trockenmauer auf der Baumgartenalp Meter für Meter saniert werden.
4 Schächtelchen
Es liegt auf dem alten Sekretär, von den Vorfahren überliefert, von kundiger Hand restauriert. Steht an der Wand unter der hölzernen Wendeltreppe und bietet bereitwillig Platz für allerlei Krimskrams. Vorräte zum Beispiel, in der obersten Schublade, die wie die darunterliegenden die ganze Breite des Möbels einnimmt, Kaffee, Tee, Zucker, die eine oder andere Konservendose, Würzmischungen. Bilderrahmen in der zweiten Schublade, darin gerahmt selbst gezeichnete Zeichnungen, für die gerade kein Bedarf zum Aufhängen besteht. Zuunterst Schildmützen, mitgebracht von Reisen, verbunden mit Reminiszenzen – Anza-Borrego Desert State Park, Alaska, Museum of Northern Arizona, Antelope Island State Park, Grand Canyon, New York Marathon, Friends of Cape St. Mary’s, Armada Argentina Base Orcadas, Yukon Gold, Calanais Isle of Lewis, Death Valley California, Seward, Iceland, Western Au stralia, South Georgia Antarctic Isle, L’Anse aux Meadows, I climbed Gros Morne, Newfoundland and Labrador.
Hinter der Arbeitsfläche beidseits drei kleinere Schubladen, gefüllt mit Brillen, Brillenetuis, Brillenreinigungstüchern, Uhren, Portemonnaies, einer Taschenlampe. Dazwischen Fotobücher der letzten Reisen, Peru, Patagonien, Madagaskar, Äthiopien, China, Laos, Vietnam, Kambodscha, Südafrika, Lesotho, eSwatini, Botswana, ordentlich gestapelt. Darüber ein Tablar mit weiteren Erinnerungsstücken, ein gebasteltes Kerzengefäss aus weissem Material, Gips vielleicht, mit farbigen Glastupfern, Geschenk von irgendwem, sieht nach Kinderhand aus, ein kleiner, grauer Porsche Cayman, eine hölzerne Ente, ein wollenes Schaf, ein winziges Glücksschweinchen aus weissem Porzellan mit grünen Kleeblättern bemalt.
Auf der oberen Abdeckung ein Bastkorb voller Mineralien und Fossilien – Feuersteine von der Kreideküste Rügens, Gneise aus dem Valle Verzasca, Obsidiane und Lavasteine aus Island, Stücke von Schwefelstein, Sandrose, Aragonit, Malachit, Trilobit, Glossopteris, versteinerte Hölzer und ein Säckchen Trommelsteine aus dem amerikanischen Südwesten. Daneben ein halbes Dutzend weiss-gelb bemalte Grenzsteine unterschiedlicher Grösse, je nach Höhe des Passes, Trophäen erfolgreich bewältigter Radtouren in den Pyrenäen, zwei holländische Häuser, Präsente von KLM für Business-Class-Gäste, ursprünglich mit Schnaps gefüllt, das Modell eines alten, senfgelben Touristenbusses aus dem Yellowstone National Park, ein weisser Fahrmischer mit dem Logo von Holcim, und eben das Schächtelchen, aus Holz, sieben auf fünf Zentimeter, honiggelb bemalt, darauf ein Vogel, dunkelblau-hellblau-gelb mit rotem Schnabel, papageiartig, schaut eher betrübt aus der Wäsche. Im Schächtelchen derselbe Vogel als Puzzle, fünf Teile. Ein Produkt von Swissaid, von taubstummen Kunsthandwerkern aus Mexiko mit viel Freude von Hand gefertigt, mit Warnung: «Achtung! Erstickungsgefahr. Enthält Kleinteile.»
5 Postkarte
Ich stehe in der Papeterie, vollgestopft mit wunderbaren Dingen, brauche einen Kugelschreiber und ein Notizheft. Vor mir ein Junge. Zeigt wortlos auf eine Postkarte im Postkartenständer, eine Landschaft im Schnee, ein Berg, ein gefrorener See, weiss gepuderte Tannen, blauer Himmel, eine Sonne, die sich in einen Stern verwandelt hat. Der Verkäufer reicht ihm die Karte, sagt vier Franken. Der Junge legt ihm einen Franken hin. Der Verkäufer nimmt den Franken, gibt dem Jungen fünfzig Rappen zurück. Der Junge nimmt die Postkarte und läuft zufrieden aus dem Geschäft.
Wer schreibt heute noch Postkarten? Wer bekommt welche? Ich nicht. Woher dennoch die Faszination? Da war ein Wettbewerb. Bitte schenken Sie uns alte Postkarten mit Ansichten aus dem Kanton, mindestens hundert Jahre alt. Schöne Preise zu gewinnen. Die Leute durchsuchten ihre Schätze, sandten Hunderte von Postkarten ein. Zauber der Erinnerung. Bilder von Dörfern, Häusern, Plätzen, Landschaften, Promenaden, Strassen, Wege, deren Namen an vergangene Zeiten erinnern, Stilisierungen, Lupenansichten, Collagen, Panoramablicke, von weit oben auf die bunte Stadt, den türkisblauen Fluss, schneebedeckte Berge am Horizont. Ein Ausschnitt von Welt im A6-Format, koloriertes Schwarzweiss, Fotochrom, möglichst bunt. Die Schönheiten eines Landes verdichtet, wie man sie nie zu sehen bekommt, weil es sie so nicht gibt. Die Texte mussten anfänglich noch vorne auf die Karte geschrieben werden, weil die Rückseite für Adresse und Frankierung reserviert war. Und was schreibt man auf Postkarten? Meist geht es um Ferien, eine Reise, das Wetter, das Wohlergehen. «Liebe Grüsse aus Gran Canaria. Auch im späten Herbst ist es noch sonnig und warm. Faszinierende vulkanische Landschaft. Das Essen ist gut. Das Hotel weniger.» Auf 10,5 mal 14,8 Zentimeter dünnem Karton fehlt der Platz für Ausschweifungen. Es darf auch geflunkert werden, warum auch nicht. Ferien sind immer eine Übertreibung. Einer der meistverkauften Karten der Schweiz ist übrigens seit Jahren der Zürichsee mit Eiger, Mönch, Jungfrau und Matterhorn in den Hintergrund montiert.
6 Lehrbienenhaus
Bin schon auf dem Rückweg. Die Sonne hängt senkrecht über mir. Überwinde ein eingezäuntes Gelände mit Esel, Pferdewagen und jungen Obstbäumen, beschauliches Plätzchen, Privatbesitz, Füttern verboten. Oben im Schatten des Waldes ein Holzhäuschen, ein Lager für die Waldarbeiter, dachte ich stets, jetzt steht aber da, in frischen, glänzenden Lettern: Lehrbienenhaus, betrieben vom lokalen Bienenzüchterverein. Wusste nicht, dass es so etwas gibt. Frage mich, wer da ein und aus geht. Bienen. Und sonst?
Bienen. Soziale Wesen, wie Ameisen und Menschen, und doch anders. Klug, feinfühlig, lernfähig, manchmal sogar kritisch. Können besser riechen als Hunde, sich kilometerweite Wege merken, Honig produzieren und sich tanzend mit ihren Schwestern über Futterquellen unterhalten. Nehmen fliegend die Umgebung wahr, Felsen, Blumen, Bäume, Strassen, die Sonne am Himmel, mit ihren Facettenaugen, die keine Linsen haben, aber ein paar Tausend Einzelaugen, jedes mit Hunderten von Rezeptoren ausgestattet. Damit sehen sie einerseits mehr als wir, nämlich alles in einem Radius von zweihundertsiebzig Grad, andererseits weniger, weil die Dinge erst in grosser Nähe scharf gestellt werden. Die Sonne ist