Kleines Manifest der Träume: Geschichten
Von Rolf Tschudi
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Über dieses E-Book
Rolf Tschudi
Rolf Tschudi ist in Zürich geboren, hat Ethnologie studiert, lebt und arbeitet heute als Künstler. Zuletzt erschienen von ihm folgende Bücher: Das Körperalphabet, Kurzgeschichten, gemeinsam mit Elisabeth J. Stirnimann, (2011), Kein sicherer Himmel, Roman (2015), Kleines Manifest der Träume, Geschichten (2019).
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Buchvorschau
Kleines Manifest der Träume - Rolf Tschudi
Inhalt
Absichtlich bin ich hinter der Maske ein anderer
Als würde der Traum dem Leben vorausfliegen
Am Anfang spannt der Reisende ein Seil
Auf einmal gibt es eine Zunge, wo sonst alles leer ist
Beim Denken fliegt das Gehirn
Die angeborene Angst, sich vor Menschen zu ängstigen
Die Aufgabe, Freunde zu werden
Die Leiter am Ende des Weges
Die mit dem Stock gegen das Meer kämpft
Die Nächte sind doppelt mal dunkler
Die Wahrheit ist mir mein Vater wert
Du, mit deinem Strick um den Hals
Heute sind die Regeln so und morgen anders
In den Regenpfützen sieht man die Kinder winken
Liebesbriefe wie nämlich Zucker
Mein Boot trägt dich weiter als alles andere
Mutters Haar unter dem Kopfkissen
Und überhaupt braucht es für das Schreiben keinen Grund
Von namenlosen Vögeln
Wem sonst soll ich diese Welt erklären
Wenn eine Wand im Zimmer fehlt
Wölfe, ausser man zähmt sie
Absichtlich bin ich hinter der Maske ein anderer
Die Leute schüttelten mitleidig ihre Köpfe, sie sahen mich im eigenen Handwagen sitzen. Dieses ziemlich altmodische Ding hatte ich viele Jahre hinter mir hergezogen und bloss geseufzt, wenn sich jemand hineingesetzt hatte. Jeden hatte ich geduldig durchs Leben gezogen, bis ich endlich zu mir zurückfand. Heute bin ich schon etwas geübt, obwohl alles langsamer geht. Es ist ein herrliches Gefühl, nur noch mich selbst im Wagen hinter mir herzuziehen.
Von Kind an habe ich gespielt, wie es wäre, wenn daheim ein Toter läge. Solange es ein Spiel war, machte es Spass. Jetzt aber einen Mann im Bett liegen zu sehen, der mir auffallend gleicht, jagt mir einen Schrecken ein. Ich eile aus dem Haus in den nahen Wald, der Mann folgt mir dicht auf den Fersen. Ich baue mir mit Holz schnell eine Hütte und verstecke mich darin. Von draussen drängen Geräusche herein. Die Nacht hat dem Wald die Bäume genommen und Tote hingestellt. Um irgendwo Halt zu finden, lehne ich mich an den Mann, mit dem ich die Hütte teile.
Auf dem Schreibtisch liegt das zusammengeschnürte Päckchen. Na klar, denkst du, darin steckt mein Lebensplan. Du öffnest es und willst den Plan studieren und erschrickst: Auf ein Blatt Papier ist ein grauer Punkt gemalt. Irgendetwas ist daran merkwürdig. Je länger du ihn anstarrst, umso grösser wird er. Wohin und auf welche Weise wird sich dein Leben entwickeln? Genauso wie alle anderen starrst du auf diesen grauen Punkt. Gut möglich, dass er dir einmal etwas bedeuten wird.
Mit Schaufeln gräbt man tiefe Löcher in den Boden, befestigt darin übers Kreuz Seitenstangen, die mit Querbalken über einen Mittelmasten verbunden sind, bevor an den dafür angedachten Stellen das Zelt angenäht und über das vergessene Land gespannt wird. Kostbare Möbel, Teppiche, Geschirr und auch Personen werden hin- und hergeschoben. Kräftige Arme zerren mich quer über einen Hof, bis wir vor der Vergangenheit stehen. Das muss ein Irrtum sein. Eine Rückkehr kann es nicht geben, weil ich der Vergangenheit immer einen winzigen Schritt voraus bin.
Eine ganze Welt kannst du auf deine Freunde bauen. Blitzschnell durchschauen sie dein Blinzeln, ohnehin ist ihnen klar, weshalb du deine Wangen aufblähst, deine gespitzten Lippen deuten sie instinktiv richtig, und wenn du deine Stirn runzelst, erfahren sie Dinge, die dich noch treffen werden. Die Freunde wissen über dich Bescheid. Und du? Du blickst im Spiegel in die reinen Augen eines Fremden.
Verzeihen Sie, sagt der Mann, der mich nicht wesentlich überragt, und wächst unzimperlich in mich hinein, dass ich hart werde. Maskuliner Kampfgeist, was sonst. Na gut, sagt die Frau und wächst gewichtig in mich hinein, dass ich weich werde. Das ist der Unterschied. Und doch geht beides zusammen. Denn halb ist man hart und halb ist man weich. Das macht uns in irgendeiner Weise todtraurig. Vermutlich können wir das nicht anders sehen, weil es niemand gibt, der uns aus dieser Klemme heraushelfen kann.
Vor dem Zelt, unweit des grossen Flusses, rufe ich meinen Namen, wobei ich die Hände trichterförmig vor den Mund halte. Dabei bemerke ich eine Gestalt, die etwas geduckt an mir vorbeirennt. Entweder ist sie ins Zelt gerannt, oder ich rufe weiter meinen Namen, was mir in diesem Fall jedoch sonderbar vorkommt.
Hinter der Maske lassen mich die Leute immerhin in Frieden. Durch kleine Öffnungen dringen Sauerstoff und diffuses Licht. Es gibt schätzungsweise zwanzig Meter dunkle Leere hinter der Maske. Doch die Leere ist nicht einfach schwarz. Wenn du ein anderes Leben hast, kann es im Dunkeln auch sehr hell sein. Deshalb bin ich hinter der Maske absichtlich ein anderer.
Es ging mir nicht schlecht und doch kam die Zeit, meinen Koffer zu packen und mich ins selbst gebaute Flugzeug zu setzen. Der Propeller setzte sich in Gang, der Motor brummte auf und die Maschine hob ab. Kaum flog ich über der gleichgültigen Welt, war ringsum alles wach und lebendig. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als mit mir ins Gespräch zu kommen. Ein Selbstgespräch? Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und wusste: Ich bin ein hoffnungsloser Fall.
Wir beide sind Freunde, mein Hund und ich. Mir gefällt es, wie er mit seiner langen Zunge unsere Spuren vom Asphalt aufleckt. Andersherum wäre das ziemlich mühsam. Die Füsse müssten Zungen sein, oder man müsste in den Knien gehen und die Hände pausenlos hinter sich herziehen, um die Spuren zu tilgen. Zum ersten Mal überhaupt muss ich darüber lachen. Ehrlich gesagt, würde das verdammt gut zu mir passen.
Lange jagte das Ich hinter mir her, gerade mir, der niemals rannte. Dann packte es mich. Mein Ich hatte die Geduld verloren. Eine schreckliche Umarmung. Dann drängte es unverschämt an mir vorbei, als wäre das die letzte Gelegenheit, aus meinem Körper zu entwischen. Okay, dachte ich mit einer gewissen Erleichterung, mein Ich ist immer schon weggelaufen, ohne zu wissen, wo es hinwollte.
Man sagt, ich hätte es leicht und müsse keinen Menschen mehr suchen, um mich anzulehnen, vor allem jetzt, wo ich mich verdoppelt habe. Ein Komplize in allen Lebenslagen ist das grosse Los. Sobald jedoch bei einem von uns die Gefühle mit ihm durchgehen, müssen wir durchatmen. Mit wechselnden Blicken versuchen wir zu klären, wer von uns zweien gemeint ist. Wären wir in einem solchen Moment weniger aufeinander fixiert und mehr das Gegenteil voneinander, würden wir wieder schutzlos sein; und daran wollen wir uns beide nicht erinnern.
Im Verborgenen spüre ich deutlich den Skorpion in mir. Ich richte die Tage so ein, dass mein Herz im Käfig bleibt. Immerzu im Dunkeln, um vor den Mitmenschen sicher zu sein. Höchstens im trüben Licht, meistens reglos. Ich rede nicht anders als mit mir selbst. Ich bin undankbar wie morsches Holz, aus dem man keine Hütte baut. Ein Hoffnungsloser, der Trost in der Einsamkeit sucht. Und schlecht und recht sich den Stachel ins eigene Fleisch bohrt.
Der entscheidende Fehler war, das Vergessene zu suchen. Denn das Vergessene dreht sich im Kreis herum und wird immer weiter nach innen gezogen. Irgendwann stösst es mit dir zusammen. Die Kollision ist ein Kuss. Warum ausgerechnet ein Kuss? Weil es so schnell geht, dass man es gar nicht merkt.
Ich bin ein halber Samurai, von meinem scharfen Schwert in zwei Teile geschnitten, die sich nicht sofort wieder vereinen, da sich die beiden Hälften unterhalb des absichtlichen Wollens in Punkte verwandeln, die zunächst als Nullpunkte wahrgenommen und von unten heraufgezogen werden, was offenkundig gegen den allgemeingültigen Menschenverstand verstösst, wobei mir aber der vollständige Samurai entgegenkommt.
Was für ein Wunder, dass es in der modernen Welt noch Zauberbücher gibt. Bücher mit unbeschriebenen Seiten, meine ich, denen eine Geheimschrift innewohnt. Es ist keine unsinnige Vorstellung, zu glauben, in den leeren Seiten liege etwas für uns bereit. Eines Tages werden wir aufwachen und die Geheimschrift finden. Aber was heisst es denn, etwas lesen zu können, das geheim sein will? Heisst das nicht, nicht erkannt werden zu wollen?
Regelmässig nach Mitternacht bat ich die geladenen Gäste, sich im Spiegel zu betrachten. Meistens standen sie abrupt auf und verliessen die Wohnung. Ziemlich mies fand ich das, aber reden wir nicht davon. Ich bereue es nämlich nicht, die Einladungen gestrichen zu haben. Heute kann ich meine Zeit ungestört vor dem Spiegel verbringen. Ich verstehe zwar immer noch nicht, warum ich so viele unterschiedliche Gesichter vor mir sehe. Auch wenn ich einen Schritt zurücktrete, sehe ich mehr, als ich zählen kann. Wo ich hinschaue, ist im nächsten Augenblick ein anderes Gesicht.
Noch nie habe ich daran gedacht, mich zusammenzusetzen, das ist doch vollkommen unmöglich. Ich wäre dazu nicht nur nicht imstande, sondern würde eine Ganzheit niemals aushalten. Wie viel unglücklicher wäre ich, zumal niemand nach dem Zweck der Ganzheit fragt und von den einzelnen Stücken sowieso nie die Rede ist. So benimmt sich einer, könnte man sagen, der ein Leben lang auseinanderfällt, ohne dass es jemand merkt. Und mit etwas Glück ein leeres Blatt findet, gerade so gross, wie er es braucht, um seine Träume aufzuschreiben.
Genaugenommen wollte ich den Stein gleich wieder loswerden. Halt!, rief der Fremde, wirf ihn nicht weg, der Stein könnte dein Herz sein. Bisher hatte mir das Loch in der Brust nichts ausgemacht, ich wusste ja nicht, was vorher dort gewesen war. Im Prinzip war ich froh über diesen Stein, nur sein Gewicht verwunderte mich. Überaus einladend fand ich ihn eigentlich auch nicht, ausserdem berührte mich das kühle Ding kein bisschen. Fast gleichgültig warf ich den Stein fort, doch der Fremde fing mein Herz in Sekundenschnelle auf, einmal, hundertmal.
Wie gewöhnlich schläfst du neben einem Buch. Vor lauter Träumen ist das Kopfkissen warm. Noch bevor du erwachst, wirst du geteilt. Daran ist nicht zu zweifeln. Die jüngere Hälfte läuft sofort ins Kinderzimmer, damit dich Mutter wecken kann. Der andere Teil flieht als Erwachsener vor den Menschen, die dir im Lauf der Jahre begegnet sind. Beide Hälften sind lebendig, weil sie immer das Gegenteil sind. Und so stark, dass sie dich heimwärts tragen.
Als würde der Traum dem Leben vorausfliegen
Das gleichmässige Atmen der Schlafenden ist deutlich hörbar. Man könnte sich fragen, wohin sie atmen und