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Das Gesicht des Hasen: Ein terrestrischer Roman
Das Gesicht des Hasen: Ein terrestrischer Roman
Das Gesicht des Hasen: Ein terrestrischer Roman
eBook334 Seiten4 Stunden

Das Gesicht des Hasen: Ein terrestrischer Roman

Von P.M.

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Über dieses E-Book

Außer seinen Wanderschuhen, dem Regenzeug und einem kleinen Rucksack hatte er einen Feldstecher, einen analogen Photoapparat und sein Notizbuch dabei. Weder Laptop noch Smartphone gehörten zu seiner Ausrüstung – er plante zwei digitalfreie Wochen. Diese umsichtige Planung würde weitgehend überraschungsfreie Ferien garantieren. Abenteuerreisen waren nichts anderes als mutwillige Überforderungen verletzlicher Strukturen, energetische Kleinkatastrophen sozusagen. Die Vermeidung von unnötigen Abenteuern war ein ökologisches Gebot. Doch da geschehen gleich mehrere Morde. Und er entdeckt eine eigenartige Gesellschaft, die nicht von dieser Welt zu sein scheint und ausgerechnet ihn zum Wanderer zwischen den Welten erwählt.
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum15. Juli 2019
ISBN9783947380831
Das Gesicht des Hasen: Ein terrestrischer Roman

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    Buchvorschau

    Das Gesicht des Hasen - P.M.

    »Im Allgemeinen verursachen Nahrungsmittel einer leicht stimulierenden Art Träume: so zum Beispiel rotes Fleisch, Tauben, Enten, Wild, und vor allem der Hase.«

    Jean-Anthelme Brillat-Savarin, Die Physiologie des Geschmacks oder Meditationen über die transzendente Gastronomie, 1825

    Paul Sandhurst saß im Zug nach Newcastle. Er packte sein zweites Sesambrotsandwich mit Sojasprossen und Kressequark aus und biss hinein. Dabei löste sich ein Quarkklecks seitlich aus dem Spalt zwischen den zwei Brotscheiben und fiel auf den rechten Ärmel seines grau-grün gesprenkelten Tweedjackets. Doch Sandhurst kümmerte sich nicht darum und ließ sich den herb-sauren Geschmack von Soja und Kresse auf seinem Gaumen zergehen, spürte mit der Zunge ein Stück erfrischend bittere Gurke auf und genoss die Gewissheit, gesund und gut zu essen.

    Der Wagen holperte rhythmisch über die Geleise, während die vom Nieselregen verschmierte Landschaft vorbeizog. Sandhurst bemerkte endlich den Quarkklecks auf seinem Unterarm und wischte ihn mit einer Kante seines Wanderbuches The Cheviot Hills sorgfältig weg. Der Quark fiel auf den Boden, ohne größeres Aufsehen zu erregen, denn Sandhurst hatte das Abteil ganz für sich. Er war froh, allein in einem Abteil zu sitzen, denn im ersten Abteil gab ein Mann mittleren Alters per Mobiltelephon Befehle an ferne Angestellte durch, im zweiten saß eine jüngere Frau, die eifrig auf ihrem Smartphone herumtippte und sich von der Welt abgrenzen wollte. Die Fasern des Tweedstoffs hatten den Quark am Festkleben gehindert, und so blieben nur einige kaum wahrnehmbare weiße Partikel haften.

    Sandhurst schaute zum Fenster hinaus und war zufrieden, denn angenehm gräuliche Nebelschwaden verwandelten die Gegend in eine Abfolge beruhigend formloser Silhouetten. Waren es Häuser, Fabriken, Hügel? Yorkshire. Er riss sich von der Traumlandschaft los, wandte sich wieder seinem Buch über die Cheviots zu und versuchte, sich die Wanderungen auszumalen, die er zu unternehmen gedachte. Schon vor Wochen hatte er einige Routen grün koloriert und landschaftliche Anhaltspunkte mit roten Kreisen bezeichnet. Außer seinen Wanderschuhen, dem Gore-Tex-Regenzeug und einem kleinen Rucksack hatte er einen Feldstecher, einen analogen Photoapparat und sein Notizbuch dabei. Weder Laptop noch Smartphone gehörten zu seiner Ausrüstung – er plante zwei digitalfreie Wochen. Er würde Füchse und Dachse, einige Wachteln und Buntspechte, verschiedene Finkenarten und die üblichen bedrohten Pflanzen antreffen. Er würde ja sehen, welche Arten trotz der Umweltzerstörung noch vorhanden waren. Diese umsichtige Planung würde weitgehend überraschungsfreie Ferien garantieren.

    Sandhurst war ein mittelgroßer Mann um die fünfzig, mit wenig blondem Haar, grauen Augen, feiner Nase und einem weichen Mund. Sein Gesicht wirkte oft leicht erschrocken oder fragend. Er trug eine dünn umrandete bifokale Hornbrille, mit der er sowohl lesen als auch in die Weite sehen konnte. Er sah so unauffällig aus, dass er sozusagen mit dem sozialen Hintergrund seiner Epoche verschmolz, und war sich dessen durchaus bewusst. Kontrolleure, Zöllner und Sicherheitsbeamte ließen ihn immer anstandslos passieren, ohne auch nur einen Blick auf seine Tickets oder Dokumente zu werfen. Nie wurde er durchsucht. Sie wussten, dass bei diesem Mann, falls sie ihn überhaupt bemerkten, alles in Ordnung war. Manchmal kam es ihm in den Sinn, dass er eigentlich der ideale Geheimagent oder Terrorist wäre. Er könnte unerkannt überall hingelangen und ebenso unerkannt wieder verschwinden. Er beabsichtigte allerdings nicht, auf diesem ohnehin prekär ausbalancierten Planeten physische Eingriffe vorzunehmen, deren Auswirkungen nur schwer abzuschätzen waren. Er arbeitete in der Buchhaltungsabteilung von Western Power, hatte alle politischen und technologischen Revolutionen der Elektrizitätsbranche mitgemacht und überstanden und wollte damit nichts weiter zu tun haben. Er beherrschte die neueste Software, betrachtete seine öde Arbeit als eine milde Strafe für seinen kaum verantwortbaren, überhöhten Ressourcenverbrauch und seine Komplizenschaft mit der Atomindustrie und fuhr immer per Bahn oder Schiff in den Urlaub, manchmal in den Lake District, manchmal nach Cornwall, manchmal nach Schottland. Dieses Jahr war es wieder einmal der Norden. Es war noch September, aber schon recht kühl. Vielleicht hatte er Glück, und es gab einen Altweibersommer. Wenn er Pech hatte, war er auch für regnerisches Wetter ausgerüstet.

    Wichtig war es, an jedem Tag einige Stunden in Wind und Wetter zu verbringen. Für den Rest der Zeit hatte er fünf Bücher dabei, darunter eine Biographie des Propheten Mohammed. Dazu sein Tagebuch. Das würde für die zwei Wochen genügen.

    Sandhurst reiste sorglos im Express-Zug, denn er hatte sich schon von Reading aus ein Zimmer im vom Green Guide empfohlenen Hotel Lynndale Manor House, etwas außerhalb des Dorfes Wexham, reserviert. Es war nicht gerade billig, aber man hatte ihm versichert, dass die Küche sehr gut sei und jederzeit vegetarische Kost erhältlich sein würde.

    Wie er es gewohnt war, hatte er aufmerksam die Karte der Umgebung von Wexham studiert und sich die Namen von Flüssen, Anhöhen, Dörfern und den nahen Buchten der Nordseeküste eingeprägt, damit er sich nach der Ankunft mühelos im Gelände orientieren konnte, ganz ohne Smartphone und GPS. Sandhurst hielt Überraschungen für unnötige Inszenierungen von Selbstbetrug und suchte auch in der Fremde nur Gewohntes. Das war ihm bisher immer gelungen. In Schottland zum Beispiel hatte er sich so ausgiebig eingelesen, dass das Land sich vor seinen Augen als lückenlose Bestätigung seiner Vorstellungen abwickelte: die Trockenmauern, die grünen Weiden, die Torfmoore, die schroffen Küsten.

    Sandhurst traute es sich zu, dass er Afghanistan, Bolivien oder Neuguinea auf die gleiche Weise bereisen könnte. Man wusste inzwischen via Internet und Fernsehen so viel über diese Länder, dass physisches Bereisen nur noch überflüssiger Nachvollzug war. Selbstverständlich hielt er brennstoffintensive Flugreisen ohnehin für unverantwortbar.

    Entdeckungen lehnte er strikt ab, denn Unbekanntes musste genauso vor zerstörerischem Wissen geschützt werden wie bedrohte Pflanzen- oder Tierarten. Was man nicht wusste, war in einer immer totalitäreren Informationsgesellschaft ein Reichtum. Abenteuerreisen waren nichts anderes als mutwillige Überforderungen verletzlicher Strukturen, energetische Kleinkatastrophen sozusagen. Die Vermeidung von unnötigen Abenteuern war ein ökologisches Gebot. Es konnte immer noch genug Schreckliches passieren.

    Mit Befriedigung stellte Sandhurst fest, dass Abenteuertouristen zunehmend Opfer lokaler Banditen oder meist islamischer Terroristen wurden, wodurch ganze Landstriche in Asien und Afrika eine Beruhigung erfuhren. War es möglich, dass die islamische Religion jenes Bremsmittel war, das den auf den Abgrund zurasenden Planeten noch zum Stillstand bringen konnte?

    Sandhurst war es bewusst, dass er nicht genug Entschlusskraft hatte, um der Schärfe seiner Einsichten entsprechend zu handeln. Daher subventionierte er mutigere Menschen mit namhaften Geldbeiträgen an Greenpeace und eine andere Organisation, von der nur wenige wussten.

    Trotzdem leistete er sich kein gutes Gewissen.

    Immerhin hatte er beschlossen, dass Resignation in seinem Alter angebracht war. Es brauchte auch Mut, die Hoffnung aufzugeben, realistisch zu werden, auch wenn einem die Realität unhaltbar, ja, obszön schien.

    Die weißen Flecken draußen waren Schafe, die grasten. Sandhurst war immer wieder verblüfft über das Glück dieser Tiere, die sich nur für Gras interessierten und einfach drauflosgrasten. Alles andere war ihnen egal. Er fühlte sich ihnen seelenverwandt.

    Sandhurst bemerkte auf dem Fenstertischchen eine laminierte, kreditkartengroße Karte, die ihm bisher nicht aufgefallen war. Es sah nach Werbung aus. Abgebildet war eine nächtliche Gebirgsgegend, ein enges Tal mit einem Nest hell erleuchteter Fenster auf dem Talboden, eingerahmt von schroffen Felswänden von leicht rötlicher Farbe, darüber ein klarer Sternenhimmel. Über und im Talkessel schwebten jedoch einige Lichter, die aussahen wie Seelen auf religiösen Gemälden. Kein Wort deutete darauf hin, für welches Produkt hier geworben wurde. Der Text befand sich auf der Rückseite. Er lautete folgendermaßen:

    »Das Innere Tal.

    Wir alle sehen, wenn wir die Augen schließen, ein nächtliches Inneres Tal – alle das gleiche Tal. Wir sehen es seit Urzeiten. Sobald wir das Tal sehen, werden wir zu einem Licht, das im Tal frei herumfliegt. Alle anderen Lichter sind andere Menschen, die zur gleichen Zeit das Tal besuchen. Sie wiederum sehen Dich. Wir können zusammen herumfliegen, durch unsere Bewegungen kommunizieren, sie zusammen genießen. Im Inneren Tal sind wir allgegenwärtig, unsterblich, glücklich. Wir alle werden uns schließlich im Inneren Tal wiederfinden.«

    ‹Eine Sekte›, dachte Sandhurst angewidert. Eine dieser totalitären Meditationskulte, die einen völlig abhängig machten und dann finanziell ausnahmen und psychisch zugrunde richteten. Von ihnen wimmelte es nun. Er suchte nach einer Adresse. Es war keine angegeben. Wahrscheinlich waren diese Karten nur die Phase 1 eines ausgeklügelten Propagandafeldzugs.

    Er schloss seine Augen. Zu seiner Überraschung war er sofort im Inneren Tal, genauso wie es auf der Karte abgebildet war. Er schwebte als Lichtpunkt über dem Tal, setzte sich dann in Bewegung und flitzte, wie ein Mauersegler, immer kühner die rosaroten Felswände entlang. Andere Lichter kreuzten seine Bahn, umkreisten ihn, flogen mit ihm zusammen, berührten ihn – es war angenehm. Es funktionierte tatsächlich. Wo war das Tal?

    Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf seinen rechten Unterarm, wo er die letzten Quarkpartikel entdeckte, die er mit der Karte wegkratzte.

    Sandhurst holte sein Tagebuch hervor und trug das merkwürdige Erlebnis ein. Die Karte steckte er in sein Portemonnaie zu den Kreditkarten.

    ‹Es kann nicht anders sein›, dachte er, während die verwaschene Gegend am Bahnfenster vorbeizog. Sein Blick schweifte zur rot lackierten Notbremse. Auch dieses Mal konnte er der Versuchung widerstehen.

    In Newcastle nahm er den Bus Richtung Wexham – es war um die drei Uhr. Außer ihm saßen nur ein paar ältere Frauen und Kinder drin.

    Es regnete immer noch. Wieder Schafe, Hecken, Steinmauern. Northumberland.

    Rechts waren nun die Cheviots als dumpfviolette Silhouette schon gut zu erkennen. Die Gegend wurde hügliger. Der Bus hielt in mehreren Dörfern, wo wenige Leute ein- und ausstiegen.

    Nach vier Uhr hielt der Bus in Wexham. Nachdem Sandhurst seinen Rucksack geschultert und seinen Koffer behändigt hatte, stand er ratlos zwischen den Pfützen des Dorfplatzes vor dem Pub Black Boar und blickte dem abfahrenden Bus nach.

    Als er sich schließlich in Richtung des Pubs in Bewegung setzte, flitzte ein schwarzer Wagen nahe an ihm vorbei und schleuderte ihm ein paar beige Spritzer auf Jackett und Hose. Er schaute dem Wagen nach: PB3… – mehr konnte er nicht mehr entziffern. War es ein Jaguar gewesen, ein BMW, ein italienisches Modell? Auf jeden Fall etwas Schnittiges mit niedriger Schnauze. Der Wagen zweigte weiter vorn nach rechts ab.

    »Verfluchte Bastarde!«, tönte eine heisere Stimme von der Tür des Pubs her.

    Sandhurst drehte sich um: Da stand der Wirt, ein kleiner Mann mit großem Kopf, dichtem schwarzem Haar, tief eingegrabenen Gesichtszügen und wachen, dunklen Augen. Er glich einem kampfeslustigen Hahn.

    »Kommen Sie«, sagte er, zupfte an Sandhursts Ärmel und begann zugleich, den beigen Spritzer mit einem Lappen abzuwischen.

    Im Lokal drin, das überraschend freundlich wirkte und dessen Luft kaum von den üblichen sauren Bier- und Whiskygerüchen gesättigt war, stellte Sandhurst sein Gepäck ab.

    »Zeit für ein Badger hell«, meinte der Wirt. »Das ist mein lokal gebrautes Bier, müssen Sie unbedingt probieren.«

    Sandhurst nickte wehrlos. Der Wirt zapfte das Bier.

    »Kennen Sie die Leute im schwarzen Wagen?«, fragte Sandhurst.

    »Keine Ahnung, wer sie sind. Der Wagen ist in den letzten Tagen schon ein paar Mal hier durchgekommen – immer wie der Teufel auf der Jagd nach armen Seelen.«

    »Mit überhöhter Geschwindigkeit.«

    »Genau. Rücksichtslos. Ihr Bier.«

    Sandhurst trank.

    »Schmeckt ausgezeichnet.«

    »Mein Name ist Tom, Thomas Porter.«

    »Paul Sandhurst. Ich habe ein Zimmer im Lynndale Manor House reserviert. Man holt mich hier ab.«

    »Dacht ich mir. Ein gutes Hotel. Ich ruf gleich an, damit sie kommen.«

    Der Wirt telefonierte mit seinem Mobiltelephon. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein, sah gesund aus, trug ein schwarzrot kariertes Hemd. Ein energischer Typ. Ein freundliches Pub, sauber, mit geblümten Vorhängen, einigen Holztischen, dem üblichen Dart-Brett. Ein guter Ort.

    »Sind in einigen Minuten da«, verkündete Thomas Porter. »Möchten Sie noch ein Bier?«

    »Nein danke. Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen noch einige Male vorbeikommen. Ist es sehr ruhig hier?«

    »Sehr ruhig. Abends kommen die Einheimischen, dazu ein paar Touristen, die die Cheviots besuchen, den Hadrians-Wall, das Römer-Museum …«

    »Es gibt hier ein Römer-Museum?«

    »Ja, das Hobby unseres vorvorletzten Pfarrers, nichts Großes, zwei, drei Zimmer mit Fundstücken aus der Gegend. Es befindet sich im alten Pfarrhaus, gleich hinter der Kirche.«

    »Aha. Steht nicht im Führer. Und wo führt die Straße hin, die nach rechts abzweigt?«

    »Dort, wo der BMW hingefahren ist, meinen Sie? Die führt nach Fernby, einem kleinen Nest mit einem zerfallenen Kloster.«

    Sandhurst erinnerte sich von seinen Kartenstudien an den Namen Fernby. Das Kloster galt als Sehenswürdigkeit.

    Der Wirt musterte ihn mit einem Anflug von Misstrauen.

    »Es gibt einen Bus nach Fernby«, fügte er hinzu, »falls Sie mal einen Ausflug machen möchten.«

    »Ich werde viel wandern.«

    »Wir haben hier ein ausgezeichnetes Wanderwegenetz. Im Manor House werden sie Ihnen sicher Karten zur Verfügung stellen.«

    »Ich habe schon Karten. Hoffentlich wird das Wetter nicht zu nass.«

    »Um diese Jahreszeit ist alles möglich. Wir hatten schon Altweibersommer, wo man im T-Shirt rumspazieren konnte.«

    »Ich bin für jedes Wetter ausgerüstet.«

    Sandhurst zeigte auf seinen Rucksack. Der Wirt nickte anerkennend. Es hatten sich in letzter Zeit genügend suspekte Individuen in der Gegend herumgetrieben – dieser Sandhurst wirkte wenigstens normal. Einer dieser Naturverehrer, ein ernsthafter Wanderer, der sich nicht einmischte.

    Während Tom Porter Gläser abwusch, lehnte Sandhurst am Tresen und blickte geistesabwesend durch die Fenster auf die trübe Straße hinaus. Ob das Innere Tal hier auch funktionierte?

    »Hallo!«, sagte eine junge Frauenstimme.

    Sandhurst drehte sich aufgeschreckt um. Eine gepflegt gekleidete Frau mit blondem Pferdeschwanz, zwischen zwanzig und dreißig, mit einem breiten, eher groben Gesicht, stand munter und frisch dreinblickend da. Sie trug ein wollenes, dunkelblau-rot kariertes Kostüm mit Faltenrock und einen feinen beigen Pullover.

    »Ich bin Dorothy Ford. Willkommen in Wexham, Herr Sandhurst.«

    Sie reichte ihm die Hand, er schüttelte sie. Ihre Hand war überraschend schwielig und kräftig.

    »Bis bald«, sagte Sandhurst zum Wirt, der breit grinste.

    Dorothy Ford hatte schon seinen Koffer ergriffen, er nahm den Rucksack, und sie gingen nach draußen, wo ein dunkelgrüner Landrover wartete.

    »Mit dem Wetter haben Sie Pech«, sagte Dorothy, als sie in den zweiten Gang schaltete und über eine holprige Feldstraße Richtung Nordosten fuhr.

    Die Scheibenwischer tickten langsam und gaben den Blick auf niedrige, graue Wolkenschwaden frei. Der Weg war von brusthohen Mauern, einigen Weiden und Buchen gesäumt.

    »Aber Northumberland ist ja nicht Mallorca«, bemerkte Dorothy kichernd.

    »Das Wetter macht mir nichts aus«, reagierte Sandhurst unsicher.

    Machte sie sich etwa über ihn lustig?

    »Unsere Schafe«, verkündete sie feierlich und wies nach links. »Unsere Kühe, unser Bulle Mr. Gong, unser Kartoffelacker. Und da vorn sehen Sie schon das Manor House. Kein Schloss, einfach nur das komfortable Landhaus des Marquis von Berkwood. Den Marquis gibt’s nicht mehr, nun besitzt meine Mutter das Haus. Wir sind seit fünf Jahren ein Hotel.«

    »Liegt sehr schön.«

    »An einem Bach – wir haben auch einen Ententeich, mehrere Gänse, Karpfen, Forellen, Aale, Krebse. Hunde, Katzen. Flöhe. Viel Biomasse drum herum.«

    Der Landrover hielt auf einem Kiesplatz vor einem andeutungsweise griechisch-römisch gestalteten Vordach an. Das Manor House hatte zwei Stockwerke, war ein weiß verputzter Ziegelbau mit französischem Blechdach, architektonisch unauffällig.

    Eine Frau um die fünfzig – zurückhaltend elegant in dunklen Grüntönen gekleidet – begrüßte den neuen Gast unter der Tür. Auch sie war blond, trug jedoch eine Goldrandbrille und hatte viel feinere Gesichtszüge als Dorothy.

    »Das ist meine Mutter, Rose Ford – sie führt das Hotel.«

    Sandhurst gab ihr die Hand. Die Haut war um einiges zarter als jene ihrer Tochter.

    Inzwischen hatte ein großer, weißer Hund diskret an seiner Hose geschnuppert und sich ohne einen Laut ins Innere des Hauses verzogen. Gut.

    Rose führte ihn ins Foyer des Hotels, das kühl und dunkel war. Auf einem roten Fliesenboden lag ein dicker Perserteppich. An den schwarz getäfelten Wänden hingen goldgerahmte Stiche von italienischen Landschaften, die mit zahlreichen Zypressen gespickt waren. Über der Rezeption grinste das hauerbewehrte und rot lackierte Maul eines ausgestopften Wildschweinkopfs den ankommenden Gast an. Die Direktorin legte ihm das Gästebuch hin.

    »Wir haben für Sie ein ruhiges Zimmer im Westflügel bereit gemacht«, sagte sie mit freundlicher Stimme. »Ich hoffe, das ist Ihnen recht?«

    »Das passt mir ausgezeichnet.«

    »Dorothy wird Ihnen das Zimmer zeigen. Wir servieren das Abendessen um sieben Uhr, im Kaminsaal gleich links von hier. Sie sind Vegetarier?«

    »Ich esse nicht viel Fleisch.«

    »George – unser Koch – wird Ihnen ein Kartoffelgratin mit Pilzen zubereiten.«

    »Ausgezeichnet.«

    Sie lächelte ihn aufmunternd an, schob das Gästebuch zur Seite und gab Dorothy den Messingschlüssel mit der Nummer 12.

    »Vielleicht sehen wir uns vor dem Abendessen an der Bar«, sagte Rose und wies wiederum zum Kaminsaal hinüber. Sie bezweifelte stark, dass sie mit diesem neuen Gast viel Spaß haben würden. Er roch geradezu nach Einsamkeit und Naturfanatismus. Zudem stellte sie fest, dass sie sowohl sein Gesicht als auch seine Kleidung schon wieder vergessen hatte.

    Dorothy hatte seinen Koffer ergriffen und führte ihn eine breite Treppe hoch, dann nach links durch einen Korridor und nach hinten zum letzten Zimmer des U-förmigen Gebäudes. Sandhurst fielen einige alte Flinten und Hirschfänger auf, die man als Wandschmuck befestigt hatte. Dazwischen hingen Aquarelle und Stiche von eindeutig mediterranen Städten und Landschaften.

    »Hat der Marquis die gemalt?«, fragte er, auf eines der Aquarelle deutend.

    Dorothy lachte.

    »Meine Mutter. Mein Vater ist Italiener.«

    »Ich verstehe.«

    »Er hat uns kurz nach meiner Geburt verlassen, er ist von Florenz, ein Architekt.«

    »Tut mir leid.«

    »Macht nichts. Wir besuchen ihn von Zeit zu Zeit.«

    Sie hatte inzwischen sein Zimmer geöffnet und ließ ihn eintreten.

    Das Zimmer sah einladend hell, freundlich und behaglich aus. Auf dem breiten Bett lag eine Patchworkdecke mit viel Gold und Rot, die Wände waren mit beigen Tapeten tapeziert, auf dem Boden lagen dicke Perserteppiche. Es gab ein zierliches Schreibtischchen neben dem Fenster, das von langen weißen Vorhängen halb verdeckt war. Über dem Bett hing ein Aquarell, das den trichterförmigen Hauptplatz von Siena darstellte. Keine Zypressen.

    Sie zeigte ihm das Bad, wies ihn auf den kleinen Flachbildfernseher hin und sagte lächelnd:

    »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es mir. Ich bin hier so etwas wie das Mädchen für alles.«

    »Vielen Dank. Es sieht alles perfekt aus. Ich glaube, ich werde noch einen kleinen Spaziergang machen.«

    »Fallen Sie nicht in den Bach«, warnte sie ihn, einen Zeigefinger schwenkend.

    Sie zog die Tür hinter sich zu, er packte sorgfältig seine Sachen aus, verteilte sie in Fächer und Schubladen, legte das Tagebuch auf das Schreibtischchen und blickte dann eine Weile durch das Fenster auf die sanft gewellte Weidelandschaft, dahinter graue Wolkenschwaden und eine Andeutung der ersten Anhöhen der Cheviots. Es regnete leicht. Es war völlig ruhig.

    »Ausgezeichnet«, murmelte Sandhurst vor sich hin, »genau richtig.«

    Er breitete eine Wanderkarte auf dem Bett aus, legte einen Zeigefinger auf den Ort, wo sich das Hotel befinden musste und fuhr einer grünen Linie nach, die nach Norden ausholte, nach Westen führte und nicht weit von der Fernby Abbey wieder nach Süden zurückschwang.

    Zu weit. Vielleicht morgen. Er würde jetzt nur dem Bach nach Osten folgen, sich diesen kleinen See anschauen und dann auf dem gleichen Weg wieder zum Manor House zurückgehen. Ein erster Augenschein. Nur ein kleiner Spaziergang, noch keine eigentliche Wanderung. Man musste sich ja akklimatisieren.

    Er zog seine wasserdichten Wanderstiefel, die gefütterte Gore-Tex-Jacke und darunter einen leichten anthrazitgrauen Shetlandpullover an. Er ergriff seinen Faltregenschirm und ging nach unten, zur Eingangshalle.

    Da niemand mehr da war, behielt er seinen Schlüssel in der Hosentasche.

    Vor dem Eingang saß nur der weiße Hund, der ihn nicht beachtete. Umso besser. Der grüne Landrover war auch weg.

    In einer Tür gerade neben dem Eingang – offensichtlich die Küche – stand ein rundlicher Mann, der eine weiße Schürze trug. Er hatte eine Halbglatze, einen grauen Schnauz, viele Lachfalten um Mund und Augen.

    »Hallo«, sagte der Mann, »schon unterwegs?«

    »Ja, ein kleiner Bummel. Man kann hier doch den Bach entlanggehen?«

    »Ohne Weiteres, Herr Sandhurst. Mein Name ist übrigens George. Ich koche hier, zusammen mit Ben. Sie können hier problemlos den Weg entlanggehen. Etwa eine Meile bis zum Weiher. Schließen Sie die Gatter der Schafweiden.«

    »Selbstverständlich.«

    »Sonst verirren sich die unschuldigen kleinen Dinger.«

    »Und der Bulle …?

    »Ah, Mr Gong! Keine Angst, der ist da drüben, auf der südlichen Weide. Er ist lammfromm, wenn man so sagen darf, tut keinem etwas.«

    »Keine Hunde?«

    George schüttelte den Kopf.

    »Nein, nur Elsie – aber die kennen Sie ja schon, bellt nicht, beißt nicht, schnuppert nur ein bisschen. Der ideale Hund. Nein, die einzige Gefahr, die Ihnen hier droht, sind nur diese kleinen, grünen Männer in ihren schnellen Untertassen. Die sind eine wahre Landplage!«

    Er lachte.

    »George!« tadelte ihn eine Stimme vom Eingang her.

    Es war Rose, die kopfschüttelnd dastand.

    »Ich versuche nur, unsere Gäste zu unterhalten – nicht wahr, Herr Sandhurst?«

    »Indem du deine Schauermärchen erzählst?«

    »Schauermärchen gehören zu einem richtigen Angebot in Northumberland«, wehrte er sich. »Wir haben ja nicht einmal ein Gespenst im Haus.«

    »Gespenster werden überschätzt«, brachte sich Sandhurst ein.

    »Sehr richtig, Herr Sandhurst. Alles nur Humbug. Wir haben das nicht nötig. – Aber drehen Sie sich jetzt nicht um.«

    Rose Ford hatte sich George genähert und streichelte ihm über seine schlecht rasierte Wange.

    »Bis später«, murmelte Sandhurst (der nicht verstand, warum man ihm diese zärtliche Szene vorführte), betätigte den Entfaltungsknopf seines Schirms und wanderte über den weiten Kiesplatz in Richtung eines Stalls mit Scheune, wo der Weg entlangführte.

    Aus einem Stallfenster blickten ihn zwei braune Pferde mit weißen Stirnblässen interessiert schnaubend an. Sandhurst atmete den würzigen Stallgeruch ein.

    Er öffnete das erste Gatter, legte den Haken sorgfältig wieder ein und gelangte schließlich zum Bach, der von Weiden, Birken und Haselbüschen gesäumt war. Eine getigerte Katze saß hoch konzentriert auf einem Stein am Bach, schlug dann mit der Pfote zu und holte tatsächlich einen silbern glitzernden, etwa fingerlangen Fisch aus dem Gewässer. Sie trug ihn mit erhobenem Kopf Richtung Manor House davon, wo er wahrscheinlich als Liebes- oder Tüchtigkeitsbeweis auf einem der kostbaren Perserteppiche deponiert werden würde.

    Sandhurst spähte in den Bach hinein und sah den Schatten einer Forelle wegflitzen.

    Weiter vorne gründelten einige Stockenten. Nicht weit hinter ihm

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