Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Dass ich eins und doppelt bin
Dass ich eins und doppelt bin
Dass ich eins und doppelt bin
eBook141 Seiten2 Stunden

Dass ich eins und doppelt bin

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es sind nicht die kleinen Dinge des Lebens, die Doris Mauthe in ihren bewegenden Erzählungen thematisiert, es sind die großen: Kindheit, Liebe und Tod.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. Nov. 2018
ISBN9783748135586
Dass ich eins und doppelt bin
Autor

Doris Mauthe

Doris Mauthe, * 1941 in Köln geboren, analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin. Dozentin und Supervisorin am Berliner Institut für Psychotherapie (Edith Jacobson Institut). Sie war im Vorberuf Grundschullehrerin und publizierte umfangreich zu Themen des Schulanfangs, u. a. mit Bruno Schonig das Standardwerk "Lesenlernern im Anfangsunterricht mit den Geschichten von der kleinen weißen Ente". 2004 Gründung und Leitung der Arbeitsgruppe "Psy­choanalyse und Pädagogik" am gleichnamigen Institut.

Ähnlich wie Dass ich eins und doppelt bin

Titel in dieser Serie (10)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Dass ich eins und doppelt bin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Dass ich eins und doppelt bin - Doris Mauthe

    Inhaltsverzeichnis

    Ciao Benno

    Mein Ahorn

    Die Reise zu meiner Schwester

    Ciao Benno

    Wie konnte ich nur den Fehler machen, Gabi nach Venedig mitzunehmen. Gabi, die fremde Länder und Städte in großer Menge sammelt wie andere Liebhaber, war in meinen Augen eine Kosmopolitin. Sie war schon überall gewesen. In allen Ferien hatte sie sich auf und davon gemacht – die Lehrer eben. Vierzig Jahre Ferien. Wie konnte ich ausgerechnet sie zur Reisegefährtin machen? Ich reiste gerne an Orte, die ich schon kannte und hielt mir das auch noch zugute.

    Benno war auch immer auf Reisen gewesen, allerdings zu Hause am Schreibtisch. Sich auf Reisen zu fühlen, hatte den Vorzug, nie ankommen und nie abreisen zu müssen. Wenn man todkrank ist, macht das Ankommen keinen Sinn.

    Gabi war Single. Immer schon, geradezu militant. Ich erst seit Bennos Tod.

    Stimmte nicht, ich hatte nicht einmal diesen Single-Status. Nach seinem Tod kroch ich Nacht für Nacht aus einem verunglückten Auto, das mit einem ICE zusammengestoßen war. Das Auto, zusammengequetscht zu einem Stück Blech wie aus der Schrottpresse, gab mich entgegen aller physikalischer Gesetze wieder frei. Äußerlich intakt – Hände, Füße, Kopf waren noch dran – , war ich doch gleichzeitig tot. Ein Single wie Gabi war ich noch lange nicht.

    Seit zwei Jahren steige ich nicht mehr aus zusammengefalteten Autos. Die Träume werden friedlicher: Das kleine Auto, in das ich diesmal steige, ist äußerlich ein perfektes Ding, ein Kinder-Cabrio. Ich sitze darin und will losfahren, aber es tut sich nichts, es springt nicht an. Als ich schließlich die Motorhaube öffne, um nach dem Fehler zu suchen, kann ich sehen, dass das Auto gar keinen Motor besitzt, innen hohl und nach unten hin offen ist. Kein Motor, kein Gaspedal. Ich schließe die Motorhaube, steige wieder ein und setze die Attrappe mit trippelnden Füßen in Gang. Gut, dass die Füße noch dran sind.

    In Gabis nagelneuem Auto, wo alles am richtigen Platz ist, rollen wir schneller als mit den Füßen. Und wir rollen am Tage und nicht in der Nacht.

    Es war Ende August, als wir losfuhren. Gabi hatte ihren Plan – in Berlin bereits um halb sechs in der Frühe zu starten, um abends in Venedig im »Florian« bei einem Spritz zu landen – ohne ihre Beifahrerin gemacht. Der frühe Start gelang uns noch. Alles lief glatt, und wir hatten München schnell hinter uns gelassen. Ich fütterte Gabi mit Erdnüssen. Sie saß am Steuer. 68 PS waren für Gabi, die immer noch ihrem alten Alfa Romeo nachtrauerte, natürlich nichts, aber der Polo, Best Car of the Year, hatte sie, die immer praktisch dachte, überzeugt. Wenig Sprit, wenig Verpestung, Lederlenkrad, Navi, heizbare Sitze, Geschwindigkeitsregler. Was soll ich mit 220 km auf dem Tacho in Zeiten der Staus, sagte sie. Es war heiß, und ich schaltete die Klimaanlage höher.

    Es war gar nicht so einfach gewesen, Gabi zu überreden, mit mir nach Italien zu fahren. Das ganze alte Europa interessierte sie nicht. Gabi wollte Exotik und Ferne: Himalaja, Butan, Spitzbergen, Peru. Kein Wunder, dass sie maulte, als ich sie bat, nicht die Direttissima nach Venedig zu nehmen, sondern einen Abstecher nach Benediktbeuern zu machen.

    Fahr nicht über Rosenheim, sagte ich, nimm bitte den Abzweig Richtung Garmisch, ich möchte gerne das Kloster wiedersehen. Komm, lass uns da vorbeifahren.

    Vorbeifahren können wir schon, sagte Gabi Erdnüsse kauend und nahm die richtige Ausfahrt. Als ich von Weitem schon die barocken Türme des Klosters sah, fragte sie wie nebenbei: Und Benno, vermisst du den immer noch? Gabi hatte, wie ich auch, in den siebziger Jahren bei Benno ihr Diplom gemacht. Wir wollten über schwedische Reformschulen schreiben und hatten zusammen eine Studienreise nach Stockholm unternommen. Wir waren damals keine jungen Studentinnen mehr, sondern hatten schon zehn Jahre Schule auf dem Buckel. Die Schule war uns beiden zu eng geworden.

    Bennos Sprechstunde war immer voll. Niemand nahm sich so viel Zeit wie er. Benno sah ein bisschen aus wie Einstein mit Schnauzbart, rauchte Rothändle, stand politisch links und hatte einen kaum merklichen, aber für meine Ohren doch hörbaren ostpreußischen Zungenschlag, in den ich mich sofort verliebte. Dieser leichte Singsang hatte mich wohl mit einem Schlag in meine Kindheit versetzt, wo es einen liebenswürdigen, nicht sehr groß gewachsenen Herrn Pommrehn gab – auch er ein Flüchtling aus Ostpreußen, der uns im Garten half. Ich folgte Herrn Pommrehn auf Schritt und Tritt, weil er mir alles zeigte: das Ansaugen des Wassers mit dem Schlauch, das Veredeln der Apfelbäume, das Feuermachen. Dass er auch unsere Kaninchen schlachtete, minderte meine Zuneigung nicht. Ich weiß bis heute, wie das geht.

    Ob ich Benno immer noch vermisse? Was heißt: immer noch? Gibt es ein zugebilligtes Maß fürs Vermissen? Das erste Jahr mit Herbst, Winter, Frühling und Sommer, die alle kommen ohne ihn … das erste Jahr, wo das letzte Weihnachten, der letzte Geburtstag, der Sterbetag und die Beerdigung auf Tag und Stunde genau zurückerinnert werden wie Fixpunkte, Stecknadeln auf einer alten Landkarte. Das erste Jahr ist das sogenannte Trauerjahr, das wird dir zugestanden. Was darüber hinaus geht, ist für andere befremdlich. Jetzt musst du an dich denken, sagen sie, lass das mal hinter dir. Dabei vermisse ich Benno manchmal noch stärker als in den ersten Jahren, weil ich nicht mehr heimlich auf ihn warte und alles endgültig ist.

    Was hätte ich Gabi denn erzählen sollen? Hätte ich ihr mit dem Traum kommen sollen, wo Benno mit seinem Federbett auf der Straße liegt, auf einer viel befahrenen Autostraße, und nach mir ruft: Komm zu mir, leg dich zu mir! Und von dem Schrei, meinem Nein, von dem ich aufgewacht bin?

    Dass sich alles fortsetzen sollte – ewige Krankheit, ewiges Füßemassieren, Pudding kochen, nur Vanillepudding konnte er bei sich behalten, ewige Übelkeit und Chemotherapie und immer die Angst vor dem Moment, auf den sein Leben unweigerlich zusteuerte – , das alles vermisste ich nicht.

    Und auch in den Keller wollte ich nicht zurück, in die Unterwelt der Charité, den Strahlenkeller, wo Menschen mit kleinen Ausweisen in der Hand wie eine Herde zusammengetriebener Schafe auf ihre Bestrahlung warteten. Mein Benno einer von ihnen. Er war gezeichnet. Auf seinen Rücken hatte man mit Filzstift rote Quadrate und Kreuze gemalt, markiertes Fleisch wie beim Schlachter. Später, als die Hirnmetastasen bestrahlt wurden, waren zwar keine Kreuze auf dem Schädel, dafür gab es eine Maske. Ich cremte ihm den Rücken ein, die Brandstellen ganz vorsichtig. Meine Hände fuhren über seine zarte, weiße Haut, die er nie der Sonne aussetzte, und weinten, wenn Hände weinen können. Ich war froh, dass er seinen Rücken nicht sah. Für mich hatte der Strahlenkeller mit Bennos Tod aufgehört zu existieren. Aber jeden Tag würden neue Menschen dorthin kommen und andere verschwinden – so wie auch wir eines Tages weggeblieben waren.

    Natürlich vermisse ich ihn, sagte ich, drehte mich abrupt zu Gabi und reichte ihr die Wasserflasche. Ich bin Witwe und versuche mich mit diesem Wort anzufreunden. Da ist man eben allein, aber auch frei.

    Ich bin auch frei, sagte Gabi, war ich schon immer, und gab Gas.

    Ich sah die Zwiebeltürme des Klosters, an dem sie gerade vorbeibrausen wollte, ganz nah.

    Halt, hier musst du einbiegen. Sie trat mit einem Ich dachte, wir wollten nach Venedig auf die Bremse. Hatte sie vorbeifahren etwa wörtlich genommen? Wie das mit uns wohl weitergehen würde, fragte ich mich. Ich bin nicht fair zu ihr, schiebe ihr meine eigenen Pläne unter.

    Benediktbeuern muss sein, sagte ich. Da war ich mit Benno gewesen. Das reichte ihr zum Glück als Erklärung. Ich konnte Gabi in der Klosterbrauerei zurücklassen, draußen an einem der langen Gartentische, wo sie bei Rettich, Laugenbrezeln und einem Maß Bier ihren Himalaja-Treckingführer studieren konnte.

    Ich machte mich auf meinen Weg, ging durch den Klosterhof zur Kirche, die bekannten Wege, und wollte den alten Kräutergarten wiederfinden, in dem ich es zum ersten Mal gehört hatte: Blut im Stuhl. Diese drei Wörter. Es war auch im August gewesen, und wir hatten zuvor ausgelassen und albern im Kräutergärtlein Fangen gespielt, hatten uns wie Kinder in einem Labyrinth abwechselnd getroffen und verloren. Und ich hatte Benno spaßeshalber am Zipfel seines hellen Leinensakkos festgehalten, immer ein Sakko, auch bei Hitze, damit er mir nicht weglief zu den Mönchen. Ich kannte die Geschichte doch, wie er mit zwanzig ins Benediktinerkloster Gerleve eintreten wollte, und spürte die anhaltende Anziehungskraft auf ihn. Damals hatte sein Vater es verhindert. Als der Vater gesehen hatte, dass die Mutter am Küchentisch in jedes Stück Bettzeug, Taschentuch, Handtuch die Initialen seines Namens stickte – die Aussteuer des Novizen – , fiel er der Länge nach auf den Küchenfußboden wie ein gefällter Baum. Das war sein wortloser Kommentar zur strengen Benediktinerregel, nach der Benno erst wieder aus dem Kloster hätte herauskommen dürfen, wenn Vater oder Mutter im Sterben lagen.

    Ich nahm Witterung auf, immer der Nase nach, zum Duft der Kräuter. Thymian, Rosmarin, Lavendel – all die bekannten und unbekannten Düfte hatten sich in der Hitze entfaltet und lagen wie eine Hülle über dem ganzen Areal. Jedes Kraut war auf einem eigenen Schild mit Namen bezeichnet, und man ging auf schmalen, gepflasterten Wegen mäandernd durch die Beete wie in einem Paradiesgärtlein. Wo er es genau gesagt hatte, wusste ich nicht mehr. Auch das war weg, wie alles um mich herum verschwunden war, als Benno es sagte. Ich erinnere mich nur noch an unsere Augen, an unsere Blicke in die Augen des anderen. War da wirklich schon das Wissen? Wir versuchten beide, den andern vor diesem Wissen zu bewahren. Es war eine Liebeserklärung, stärker als die erste. Lebendig bleiben ist wichtig, sagte Benno, und daran hat er sich gehalten.

    Wann immer etwas Schweres auf mich zukommt, zitiere ich einen Vierzeiler von Benno, den er vier Jahre später geschrieben hat, kurz vor seinem Tod:

    Mit dem Infusionsständer

    durch die Wohnung,

    was mir alles möglich geworden ist

    an Lebensweise.

    Wie ein Mönch meditieren, durch den Klostergarten gehen und Kräuter für die Küche sammeln – das hätte Benno gepasst. Jetzt wäre ich selbst gern zu den Mönchen gegangen, aber ich ging zurück. Gabi war mit ihren roten Haaren von Weitem zu sehen. Sie leuchteten in der späten Nachmittagssonne wie eine Laterne. Frisch gefärbt, hatten sie etwas Irritierendes – diese jungen Haare in ihrem alten, gegerbten Gesicht. Von wegen alt. Sie war umringt von einer Schar junger Männer, die sie zum Bier eingeladen hatte, Studienstiftler des Don-Bosco-Heims, das zum Kloster gehörte. Gabi war in überraschend guter Laune und ganz in ihrem Element. Halb Lehrerin, halb Weltenbummlerin, hielt sie ihre Lumixkamera mit den fotografischen Trophäen am ausgestreckten Arm mal nach links zu dem gelockten Jüngling hin, mal nach rechts zu den anderen. Hier, die buddhistische Universität in Boulder, Colorado, die einzige auf der Welt!

    Die wollte

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1