Zu Hause im Irrenhaus -
Von Sylvia Lietsch
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Über dieses E-Book
Vielleicht wirst du, lieber Leser, dich in einigen Episoden wiedererkennen, oder dir nahe stehende Personen. Ja, das ist sogar ein wenig Absicht, denn viele Dinge erzählt man sich nur hinter vorgehaltener Hand und manches wohl nicht einmal seinen besten Freunden.
Vielleicht macht dir dieses Buch auch Mut, ehrlicher zu dir selbs zu sein. Manches Problem ist nämlich nur eins, weil man glaubt, es allein lösen zu müssen.
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Buchvorschau
Zu Hause im Irrenhaus - - Sylvia Lietsch
Erinnerungen.
Sieben Leben
„Eine Katze hat sieben Leben, sagt man. Wie viele haben wir Menschen? Fragend schaut sie mich an: Julia, eine Frau kurz vor ihrem 50sten Geburtstag. „Und wie viele davon habe ich schon verbraucht?
Ratlosigkeit und auch ein wenig Verzweiflung schwingen in ihrer Stimme.
Ich gieße uns einen Tee in die kleinen schwarzen Schälchen, die neben der Kanne auf dem Tisch stehen. Mein Gefühl sagt mir: es wird ein längeres Gespräch. Unauffällig schiele ich nach links, ob die blaue Packung mit den Taschentüchern in Reichweite steht.
„Ich weiß es nicht. antworte ich ihr dann nachdenklich, „So eine Frage habe ich mir selbst noch nie gestellt. Was glauben sie denn, wie viele Leben sie schon gelebt oder verbraucht haben?
„Vielleicht sind sieben Leben auch schon weg? Ich war die Prinzessin und die Dienstmagd, der aufsessige Teenager und die funktionierende Mutter, Ehefrau und Geliebte und nun bin ich allein. Das siebte Leben? Das Letzte? Und was mache ich daraus, wenn es wirklich mein letztes ist?"
'Leben und genießen!', denke ich. Und noch ehe ich es aussprechen kann, erzählt sie: „Vier Jahre lang war ich die Prinzessin. Hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit, bekam jeden Wunsch erfüllt und dann war auf einmal alles anders. Erst wurde der eine Bruder geboren, kurz danach der andere. Auf einmal war ich die Große. Die, die auf die Kleinen aufpassen konnte. Die, die leise sein und Rücksicht nehmen musste. An meinem fünften Geburtstag schaute jeder nur in den Wagen zu Marc, dem ganz Kleinen, der auch ständig weinte, weil er wohl auf den Arm wollte. Drei Monate war er da alt. Tom, der Ältere war zu der Zeit eineinhalb. Er entdeckte gerade die Welt für sich. Immer musste jemand hinter ihm her sein. Wenn ich ein Spielzeug hatte, welches ihn auch interessierte, dann brüllte er so lange, bis es hieß: 'Gib's ihm doch mal. Du bist doch schon groß!'"
Traurig schaut sie zum Fenster hinaus, ins Grau dieses Novembertages. Unauffällig schiebe ich die blaue Schachtel in ihre Reichweite, und nehme ein Schluck von dem würzigen Heublumentee. Er schmeckt nach Sommer. Auch Julia greift nach dem Schälchen. Lächelt kurz. „Im Sommer darauf, habe ich einmal den Kinderwagen umgekippt, weil ich keine Lust mehr hatte aufzupassen. Danach sollte ich in den Kindergarten, damit mehr Zeit für die Kleinen war. Ich kann mich noch erinnern: Ich war ständig krank und dann trotzdem zu hause und durfte den beiden Kleinen nicht zu nahe kommen."
„Bestimmt laufend erkältet, entzündete Mandeln und zu hause ganz schnell wieder gesund." mutmaße ich.
Sie schaut erstaunt auf: „Ja! Genau! Woher wissen sie das?"
„Ich erkläre es ihnen später. verspreche ich mit einem Lächeln, und warte darauf, dass sie weiter erzählt. Sie trinkt ihren Tee aus. „Bevor ich in die Schule kam, waren wir in Ungarn, irgendwo in der Puszta. Auf einem riesigen Bauernhof, mit Hühnern und Gänsen, Kaninchen, die auf dem Hof herumhoppelten und einem großen zotteligen Hund. Der ist nicht mehr von meiner Seite gewichen, so lange wir dort waren. Der Hof war riesig, ein richtiger Abenteuerspielplatz für mich. Heu- und Strohballen zum Klettern, große Holzwagen. Ich durfte sogar zum Heu einfahren mit, oben drauf auf dem großen Wagen im Heu sitzen, manchmal auch auf dem Ochsen, der den Karren gezogen hat. Auch zum Getreide mähen mit der Sense. Danach haben wir es zum Trocknen als Puppen aufgestellt, die so gar nicht wie Puppen aussahen. Ich habe mich darunter verstecken können und der große Zottelhund hat mich gesucht. Es war der schönste Sommer, an den ich mich erinnern kann. Keiner, der gesagt hat 'Das darfst du nicht! Pass auf die Kleinen auf! Mach dies oder jenes!'
Ihre Augen leuchten. Sehnsuchtsvoll geht ihr Blick wieder nach draußen in den Novembernebel. Gelegenheit für mich Tee einzugießen.
„Meine Urgroßeltern haben dort gelebt. Wissen sie, mein Vater ist in Ungarn geboren. Das war das einzige Mal, dass ich Uroma Maria gesehen habe. Ich mochte es, wenn sie mich in ihre Arme nahm und über meine langen dick geflochtenen Zöpfe strich und betete. Ein zitronengelbes Kleid habe ich von ihr bekommen, für den Schuleintritt. Mit weißen Rändern, die sie selbst kunstvoll darauf gestickt hatte, dazu breite weiße Schleifchen mit weißen Punkten für meine Zöpfe. Sie hat mich 'meine kleine Prinzessin' genannt, als ich es zum probieren anzog. Prinzessin – zu hause war ich das längst nicht mehr. Sie seufzt. „Eine Prinzessin aus Stroh hatte sie für mich gemacht, damit ich sie nicht vergesse. Zu hause hat Marc das Püppchen später zerpflückt. Ich habe Rotz und Wasser geheult. Der einzige Kommentar dazu war: 'Ich hätte doch so viele schöne Puppen und solle mich nicht so haben, wegen dem bissel Stroh. Der Kleine versteht das doch noch nicht.' Immer musste ich zurückstecken! Warum?
'Ja Warum?' denke ich und: 'Es könnte mein Leben sein, von dem mir die Frau gegenüber erzählt.'
Für mich bleibt keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn sie redet schon weiter: „Noch lange hatte ich meine beiden Brüder im Schlepptau, wenn ich mit Freunden spielen wollte; war Schuld, wenn sie dreckig oder nass nach Hause kamen, weil ich nicht aufgepasst hatte. Als ich dann 12 oder 13 war, musste ich Samstagnachmittag erst Socken waschen, weil die Waschmaschine nur für Kochwäsche angeworfen wurde. Aufhängen und das Stopfen gehörte auch irgendwann dazu. Ich habe es gehasst! Meine Freunde waren draußen im Wald zum Spielen und ich stand mit meiner Mutter und manchmal auch allein in der Waschküche." Sie nimmt wieder einen Schluck Tee. „Später gab es dann nur noch Streit deswegen. Ich fing an zu hassen, dass ich ein Mädchen bin, habe nur noch Dinge getan, die nicht mehr typisch für Mädchen waren. Ich weiß nicht, wie viele Hosen und Jacken ich im Wald auf den Bäumen zerrissen habe. Einmal musste man mich mit der Leiter von einer hohen Birke holen, weil ich ganz hoch geklettert war und ein Freund, der schwerer war als ich, unter mir beim hinunterklettern zwei Äste abgebrochen hatte. Das Donnerwetter zu hause war riesig. Ich habe vieles angefangen und immer dann, wenn meine Mutter stolz darauf war, habe ich es hingeworfen und etwas Neues