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Die Reformatorin: Das Leben von Argula von Grumbach
Die Reformatorin: Das Leben von Argula von Grumbach
Die Reformatorin: Das Leben von Argula von Grumbach
eBook465 Seiten6 Stunden

Die Reformatorin: Das Leben von Argula von Grumbach

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Über dieses E-Book

Argula von Grumbach – sie ist Die Reformatorin. Die erste Frau, die es wagte, unter Einsatz ihres Lebens aufseiten Martin Luthers für die Reformation zu kämpfen. Eine adelige Frau an der Schwelle zur Neuzeit: energisch, klug, mutig und leidenschaftlich. Ihre Überzeugung macht sie stark, und sie setzt für sie alles aufs Spiel: ihre gesellschaftliche Stellung, das Glück ihrer Familie, ja sogar ihr Leben. Gegen alle Widerstände schreibt sie an, nur Gott, ihrem Glauben, ihrem Gewissen verpflichtet … Ein historischer Roman, präzise recherchiert bis in alle Details, glänzend geschrieben, fesselnd bis zur letzten Seite. Ein faszinierendes Werk der promovierten Wissenschaftlerin und Autorin der Monographie über Argula von Grumbach.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Kern
Erscheinungsdatum16. Apr. 2015
ISBN9783957161567
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    Buchvorschau

    Die Reformatorin - Silke Halbach

    Silke Halbach

    Die Reformatorin

    Das Leben der Argula von Grumbach

    Historischer Roman

    Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Impressum:

    © by Verlag Kern GmbH, Ilmenau

    © Inhaltliche Rechte bei der Autorin

    1. Auflage, April 2015

    Autorin: Dr. Silke Halbach

    Umschlag/​Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

    Bildnachweise: Cover - Karte: © Artalis - Fotolia.com

    Motiv Hand mit Feder: © anyka - ClipDealer.com

    Medaille: Hans Schwarz um 1520, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

    Hintergrund Rot mit Gold: © Reimer - Pixelvario - Fotolia.com

    Lektorat: Manfred Enderle

    Sprache: deutsch

    ISBN: 9783957161-123

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

    ISBN

    E-Book

    : 9783957161-567

    www.verlag-kern.de

    Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in

    DV-Systemen

    oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

    Die Lebensstationen der Argula von Grumbach

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Ein Wort der Autorin

    Argula im Schoße ihrer Familie

    Alltag und Festtag auf Ernfels

    Der Ritteradel im Wandel

    Der Landshuter Erbfolgekrieg

    Argula wird flügge

    Abschied von Ernfels

    Argulas Reise nach München

    Argula bei Hofe

    Festvorbereitungen bei Hofe

    Die Pest in Bayern

    Turnier und Tanz

    Traurige Nachrichten aus Ernfels

    Eheanbahnung für die herzoglichen Schwestern

    Der Streit der herzoglichen Brüder

    Argula als Beraterin ihres Herzogs

    Ein Franke für Argula

    Abschied vom Münchner Hof

    Abreise nach Lenting

    Die junge Mutter

    Argula, die Lehrerin

    Das zweite Kind

    Erste persönliche Berührung mit der Reformation

    Heimlichkeiten

    Argulas Kontakte zu führenden Reformatoren

    Der Fall Arsacius Seehofer bringt den Stein ins Rollen

    Zwei Briefe, die das Leben verändern

    Argulas Briefe in der Öffentlichkeit

    Unter Aufsicht in Burggrumbach

    Argula zu Gast beim Reichsgrafen von Simmern

    Argula schreibt an Friedrich den Weisen von Sachsen

    Argulas Brief an Adam von Thering

    Argula schreibt an Luther

    Die Heilerin

    Wertschätzung für Argula

    Die Schmähschrift des Johannes aus Landshut

    Abschied von Georg

    Besuch bei Georg in Nürnberg

    Argula in Arrest

    Zu Besuch in Nürnberg

    Die Schrecken des Bauernkrieges

    Hochzeit im Hause Luther

    Regen und Missernte

    Frohe Nachrichten aus dem Hause Luther

    Der Schwarze Tod

    Argula bei Martin Luther

    Argula auf dem Augsburger Reichstag

    Eine neue Liebe

    Erneut Witwe

    Tod und Trauer

    Abschiede

    Die letzten Jahre in Köfering

    Fußnoten

    Ein Wort der Autorin

    Auf die Frage, wer im 16. Jahrhundert die Kirche reformiert hat, erhält man im christlichen Abendland die Antwort, die Evangelische Kirche gehe auf den ehemaligen Mönch Martin Luther und seine 95 Thesen, die er am 31. Oktober 1517 am Hauptportal der Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen hat, zurück. Dann fallen gelegentlich noch die Namen Melanchthon, Calvin und Zwingli und einige wenige andere.

    Doch wer kennt, sieht man von einer Handvoll Theologen und Historikern ab, Argula von Grumbach, eine Geborene von Stauff (1492-1563), die aus dem Ritteradel stammende entschlossene Frau, die ihr ganzes Leben dem Kampf für ihren Glauben verschrieben hat?

    Diese Frau, verheiratet mit dem strenggläubigen katholischen Pfleger von Dietfurt an der Altmühl, einem Amtsträger des Bayerischen Herzogs Ludwig, und Mutter dreier Söhne und einer Tochter, hat es gewagt, für ihren Glauben alles zu riskieren und manches verloren: ihren Ehemann Friedrich von Grumbach, ihre Kinder sowie Hab und Gut.

    Als der junge Magister Arsacius Seehofer an der Ingolstädter Universität 1523 wegen seiner evangelischen Gesinnung in einem Verfahren zunächst mit dem Feuertod bedroht wurde, man ihm dann aber Strafmilderung anbot unter der Bedingung, dass er seinem „ketzerischen" Glauben öffentlich abschwor, trat Argula empört auf den Plan.

    Sie schrieb an den Bayerischen Herzog Wilhelm IV., den sie persönlich gut kannte, da sie etliche Jahre Hoffräulein bei seiner Mutter in München gewesen war. Außerdem wandte sie sich an die Ingolstädter Universität und an den Rat der Stadt. In den Jahren 1523 und 1524 verfasste sie insgesamt acht Schreiben an verschiedene namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, die schon bald, von mutigen Druckern trotz strenger Zensurauflagen vervielfältigt, die publizistische Öffentlichkeit in sage und schreibe rund 30 Auflagen, das heißt, in etwa 30.000 Exemplaren ¹ erreichten. Zum Entsetzen der Obrigkeit, aber auch nicht weniger Vertreter ihres eigenen Standes, war Argula auch mit den schlimmsten Drohungen nicht einzuschüchtern. Man hatte ihrem Mann nahegelegt, sollte er sie anders nicht zum Schweigen bringen, ihr einen oder zwei Finger abzuhacken oder sie gar einzumauern. Immer wieder drohte er ihr, doch selbst als er sein Amt verlor, die Familie erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen musste und eine Schmähschrift gegen sie mit den schlimmsten Unterstellungen veröffentlicht wurde, ließ sie nicht von ihrer Überzeugung. Darin bestärkt wurde sie von zahlreichen Persönlichkeiten aus dem Umfeld Luthers und durch „indirekte Korrespondenz" auch von diesem selbst.

    Der Roman beschreibt das Leben einer Frau, der wie fast allen Frauen in dieser Zeit der Zugang zu schulischer Bildung verschlossen war. Dass sie das Lesen lernte, verdankte sie einzig ihrem Vater, der ihr, nicht einem ihrer vier Brüder, eine ins Deutsche übersetzte Bibel schenkte. Argula las fleißig darin. Ihre Bibelkenntnis verblüffte und ärgerte ihre Gegner. Doch ihr Selbstbewusstsein, auch als Frau, die keine vertiefte Bildung genossen hatte, das Recht, ja sogar die Pflicht zu haben, das Wort Gottes zu verkünden und dafür zu streiten, wenn sich kein gebildeter Mann fand, beeindruckte nicht nur führende Reformatoren, sondern war auch Vorbild für etliche christliche Laien, darunter auch Frauen, die sich ebenfalls für die Reformation einsetzten.

    Noch im hohen Alter wurde sie zweimal festgenommen. Man warf ihr Ketzerei vor, und nur knapp entging sie einer längeren Gefängnisstrafe.

    Dieses Buch ist nicht Fiktion. Es ist das „Bildnis" einer starken Frau. Argula von Grumbach war ein Mensch von Fleisch und Blut. Dieser Mensch steht im Vordergrund und als solcher, das ist der Wunsch der Autorin, soll Argula von Grumbach auch wahrgenommen werden. Sie war leidenschaftlich, hartnäckig und hat gelacht, geweint, geliebt. Sie war „Die Reformatorin."

    Stefan Zweig sagte einst in seinem Vorwort zu seinem Roman über Maria Stuart: „Das Klare und Offenbare erklärt sich selbst, Geheimnis aber wirkt schöpferisch. Immer werden darum jene Gestalten und Geschehnisse der Geschichte nach abermaliger Deutung und Dichtung verlangen, die ein Schleier von Ungewissheit umschattet. Das „Klare und Offenbare in Argulas Leben ist in erhaltenen Quellen belegt. „Deutung und Dichtung helfen uns, obwohl mit einem „Schleier von Ungewissheit behaftet, Argula von Grumbach kennenzulernen.

    Ja, wir können diese leidenschaftliche Frau besser verstehen und sie in ihrer Bedeutung schätzen, wenn wir uns ihr nicht allein nur mit historischem Handwerkszeug nähern.

    Es gilt, Fragen zu stellen, Fragen nach ihren Wurzeln und ihrer Kindheit, ihrer Zeit bei Hofe, der arrangierten ersten Ehe, ihrem Alltag als Ehefrau und Mutter, nach ihrem Umgang mit Ablehnung, aber auch Erfolg und schließlich nach ihren letzten Jahren, die von Trauer und Leid gezeichnet waren.

    Die Frage nach der alles umschließenden Klammer, ist die nach ihrem von Gottvertrauen und Zuversicht geprägten „Doppelleben, denn erst in ihrer zweiten Ehe mit dem protestantischen Grafen von Schlick kann sie sich offen zu ihrer religiösen Überzeugung bekennen. All diese Fragen verlangen nach einer Antwort, einer Antwort, die der „historischen Wahrheit möglichst nahekommt, jedoch nicht immer mittels Beweisen belegbar ist.

    So sind manche Details einzelner Begegnungen und Gespräche, die tatsächlich stattgefunden haben, über die es jedoch kaum überlieferte Zeugnisse gibt, frei erfunden, könnten aber genau so wie beschrieben verlaufen sein. Mögliche Gedanken und „innere Bewegungen der Protagonistin, die von einem „Schleier von Ungewissheit umschattet sind (Stefan Zweig, s. o.), wurden frei erdacht.

    Sie ergänzen und runden das Bild ab, das sich dem Historiker bietet. Ja, mehr noch, sie erfüllen es mit Leben.

    Die von Argula in Frühneuhochdeutsch verfassten Flugschriften beziehungsweise Auszüge aus ihren Briefen (kursiv gedruckt) wurden in einem verständlichen Deutsch wiedergegeben. Die meisten der handelnden Personen waren tatsächlich Zeitgenossen der Stauffertochter. Der beschriebene Ablauf der Reformation bis in die frühen 60er Jahre des 16. Jahrhunderts ist historisch belegt.

    Kapitel 1

    1492-1500

    Ernfels

    Argula im Schoße ihrer Familie

    „Dieses Kind ist wahrlich ein Gottesgeschenk!, brummelte der in den Burghof schauende aufrechte Mann. Und ein Lächeln umspielte die sonst so ernsten und auf die meisten Menschen streng wirkenden schmalen Lippen des Reichsfreiherrn Bernhardin von Stauff. „Es ist nicht nur die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Katharina, sinnierte er und drehte sich zu dem Gemälde seiner Frau an der Wand hinter sich um, welches er gleich im ersten Ehejahr von einem renommierten Künstler hatte malen lassen.

    Diese Ähnlichkeit hatten ihre Schwestern ebenfalls, ja, diese waren, so musste er zugeben, weitaus hübscher als seine ältere Tochter Argula. Und doch war es eben Argula, die ihm von allen seinen sieben Kindern am nächsten stand. Sie war eine echte Staufferin. Schon als kleines Mädchen, sie konnte gerade erst allein die gewendelte Treppe des Bergfrieds erklimmen, war ihr Ausdruck von Entschlossenheit geprägt gewesen.

    Argula hatte früh in ganzen Sätzen zu sprechen begonnen und hatte Eltern, Verwandte und Gesinde mit ihren Fragen oft an die Grenzen ihrer Geduld und manchmal auch an die ihres Wissens gebracht.

    Wie oft musste er selbst Pater Franziskus zurate ziehen, wenn Argula, seine „Argel, wie er sie nannte, wenn dieses Kind, wie so oft, auf seinem Schoße turnte und ihn mit ihren Fragen zu „Gott und der Welt in Atem hielt und sich mit seinen Antworten wieder einmal nicht zufriedengab. Der Geistliche, der die Bewohner der Burg Ernfels und des nahe gelegenen Dorfes Beratzhausen betreute, hatte schon vor Jahren scherzhaft gesagt, die Kleine werde sicher die erste Frau aus dem Geschlecht der Stauffer sein, die sich an einer Universität immatrikulieren werde. „Gott behüte!", hatte Bernhardin ausgerufen, war jedoch insgeheim sehr stolz auf seinen Liebling gewesen.

    Der Burgherr trat noch etwas näher ans Fenster, denn er hatte das Kind aus den Augen verloren. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder hinter den Brunnen gehockt. Da! Der Vater hatte den hellbraunen Haarschopf entdeckt. Sie zog sich mit beiden Armen am steinernen Brunnenrand hoch und schaute triumphierend zu ihm auf. Da stand die Sechsjährige nun mit ihrem Drehkreisel in der Rechten, das kleine Kinn herausfordernd emporgereckt, die Augen ohne Scheu zu ihm aufblickend.

    Plötzlich drehte sie sich abrupt zum Küchenhaus um. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Neugierig geworden blickte der Vater ihr nach. Nun hörte er es auch: Durch die offene Tür erklang ein lautes Schimpfen. Bernhardin, Argulas ältester Bruder, kam herausgerannt. Vermutlich hatte er wieder einmal einen ofenwarmen Fladen mitgehen lassen und war von Marie, der Köchin, dabei ertappt worden. Der Vater konnte es ihm nicht verübeln, das warme Brot war einfach köstlich!

    Was hatte der Knabe da unter seinen rechten Arm geklemmt? Richtig, das musste der neue Ball sein, den ihm der Knecht Johann in der letzten Woche aus einer mit Stroh gefüllten Schweinsblase gefertigt hatte.

    Auch Argula hatte den Ball entdeckt und rannte mit lautem Gebrüll auf ihren großen Bruder Bernhardin zu und versuchte, ihm das Spielzeug abzujagen. Anders als ihre Schwestern interessierte sich Argula nicht für Handarbeiten, Blumenbinderei oder das Singen frommer Lieder.

    Argula, wäre sie ein Junge gewesen, hätte sicher bei den Knabenturnieren ihren „Mann" gestanden. Obwohl noch sehr klein, war sie wendig, schnell und erfindungsreich, was das Bluffen und Täuschen anging. Wenn sie die Gelegenheit dazu hatte, übte sie sich gerne im Kräftemessen mit gleichaltrigen oder sogar etwas älteren Jungen. Sehr zu ihrem Leidwesen musste sie sich jedoch bei Wettkämpfen damit begnügen, die Knaben zu beraten und ihnen Tricks und Kniffe beizubringen, die ihre Gegner schlecht aussehen ließen.

    Der Reichsfreiherr lächelte noch immer, als er sich schon längst wieder seinen Büchern zugewandt hatte. Es galt, Urkunden über ein Gerichtsurteil und das Ergebnis eines Erbstreites auszustellen. Auch wollte er die Frontage neu festlegen und sich Gedanken über eine neue Abgabenordnung machen, denn Beratzhausen war gewachsen, und nichts tat einem Dorf weniger gut, als ein Leben in rechtlich ungeklärten Verhältnissen. So etwas schürte nicht nur die Unzufriedenheit der Einwohner, sondern konnte dem Burgherrn sogar zur Gefahr werden, denn wie schnell wären einige Männer nur zu gerne bereit, in Zeiten eines Machtvakuums den Stab zu ergreifen!

    Das hatte sein Bruder Hieronymus einst bitter zu spüren bekommen. Bernhardin von Stauff raufte sich das schütter gewordene graue Haar – und vergessen war die kleine Argula, die inzwischen selbstverständlich ihrem Bruder die mit Stroh gefüllte Schweinsblase abgejagt hatte.

    Nach getaner Arbeit ließ Bernhardin von Stauff seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Seine Tochter Argula war im Schicksalsjahr 1492 geboren worden. Er und andere Vertreter der Ritterschaft hatten seit Jahrzehnten Auseinandersetzungen mit ihrem Landesherrn, Herzog Albrecht IV. von Bayern-München, gehabt. Albrecht wollte sich einen einheitlichen Staat unter seiner zentralen Leitung schaffen. Glücklicherweise hatte Kaiser Friedrich bereits 1465 einem seiner Vorfahren, Johann Stauffer zu Ernfels, die Reichsfreiheit verliehen und damit dessen Stand erhöht. In den darauffolgenden Jahren hatte es zwischen dem Heer des Herzogs und den unter dem Wappen des Löwen verbündeten Rittern, die sich „Löwler" nannten, zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen gegeben. Bernhardin, der damals fast noch ein Knabe gewesen war, erinnerte sich an die Schmach, die seine Eltern und Onkel empfunden hatten, als es dem Herzog zwischenzeitig gelungen war, die Unruhen mit Waffengewalt niederzuschlagen. Es hatte zwei Jahrzehnte gebraucht, bis sich die stolzen Ritter davon erholt hatten.

    Als der Herzog schließlich gegen den „Schwäbischen Bund mit einem Söldnerheer zu ziehen gedachte, das er aus Steuermitteln des Adels finanzieren wollte, hatten sich 1489 Bernhardin und 45 weitere Ritter zusammengeschlossen. Für den Stauffer und die mit ihm verbündeten „Löwler war es ein Glück gewesen, dass sie die beiden jüngeren Brüder Albrechts IV. für ihre Sache gewinnen konnten. Gestärkt waren sie auch durch die Unterstützung des „Schwäbischen Bundes, der dem Bayern in seinem Vormachtstreben Einhalt gebieten wollte. Als ihnen dann auch noch der Böhmenkönig Wladislaus den Beistand seiner Landstände versprochen hatte, hatten sich Bernhardin und 12 weitere „Löwler stark genug gefühlt, König Maximilian, der einmal Kaiser werden sollte, ihre Beschwerdeliste in Nürnberg zu überreichen.

    Der Stauffer erinnerte sich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Wie sehr hatte er sich geärgert, als der unentschiedene und schwache Maximilian den Parteien einen Vergleich vorschlug!

    Bernhardins Ader auf der Stirn schwoll an, er konnte sich nur knapp beherrschen, nicht mit der Faust auf den schweren Eichentisch zu schlagen.

    Doch dann hatte sich das ‚Blatt gewendet‘ ²  … Bei diesem Gedanken glättete sich seine Stirn wieder. Maximilians Vater, Kaiser Friedrich III., hatte sich zu guter Letzt auf die Seite der „Löwler" und damit gegen den Herzog, der inzwischen sein Schwiegersohn war, gestellt.

    Etliche gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Parteien waren gefolgt.

    Es war im Dezember 1491 gewesen, als sein Bruder von seinem Familiensitz Köfering aus das herzogliche Dorf Pfatter überfallen hatte. Und er, Bernhardin, war von Ernfels aus durch das Territorium des Herzogs gezogen. Er hatte gerade von seiner jungen Frau erfahren, dass sie wieder ein Kind unter dem Herzen trug, als es dem Herzog gelang, die staufferschen Burgen einzunehmen und seinen Bruder Hieronymus samt seinen Landsknechten gefangenzunehmen.

    Der Krieg hätte sicher noch länger gedauert, hätten nicht Kaiser Friedrich III. und dessen Sohn Maximilian eingegriffen. Zunächst waren die Verhandlungen zur Wiederherstellung der Besitzverhältnisse, wie sie vor den Auseinandersetzungen bestanden hatten, gescheitert. Die „Löwler" waren erbost gewesen, dass man so einfach über ihre Beschwerden hinweggegangen war.

    Bernhardin erinnerte sich noch gut an die aufgeheizte Stimmung, die in diesem Raum geherrscht hatte. Hier hatten die Ritter im Frühsommer 1492 heftig miteinander diskutiert und waren zu dem Schluss gekommen, einen weiteren Angriff zu wagen.

    Wie entsetzt hatte seine hochschwangere Katharina ihn angeblickt, als er ihr abends im Bett mitgeteilt hatte, dass sie schon übermorgen wieder gegen den Herzog zu Felde ziehen würden.

    Nach ersten militärischen Erfolgen hatten sich die Ritter jedoch schon bald wieder in der Defensive gesehen und das Angebot eines Waffenstillstandes zähneknirschend annehmen müssen, um Schlimmeres zu vermeiden.

    In diesen Tagen war sie geboren worden, seine stolze kleine Argula. Kein Wunder, dass sie das kämpferischste Wesen von allen seinen sieben Kindern hatte!

    Es war zur Zeit ihres ersten Geburtstages gewesen, im August 1493, als endlich eine Einigung erreicht worden war. Man hatte ihnen zwar nicht die Kriegsschäden erstattet, ihr eigentliches Ziel hatten die „Löwler jedoch erreicht: die Wahrung der Landesfreiheit und die Erhaltung der Stadtrechte. 1495 schließlich hatte König Maximilian eine umfassende Reichsreform veranlasst, die unter anderem eine reichsweite Steuer und den „Ewigen Landfrieden vorsah. Letzteres war wirklich ein Triumph für die Reichsstände gewesen.

    Dennoch verspürte Bernhardin von Stauff noch immer tiefen Groll gegen den Herzog, der bei der Besetzung von Ernfels seine wertvolle deutsche Bibelausgabe und weitere Druckwerke aus seiner Bibliothek hatte mitgehen lassen.

    Der Burgherr schob seine Geschäftsbücher und Papiere beiseite, erhob sich ächzend aus seinem Eichenstuhl und rieb sich die rechte Hüfte. Die alte Verletzung, die er sich bei den Ständekämpfen zugezogen hatte, schmerzte ihn immer dann, wenn das Wetter umzuschlagen drohte. Die Glocke läutete zu Tisch, und er freute sich auf die warme Mahlzeit.

    Kapitel 2

    Um 1500

    Ernfels

    Alltag und Festtag auf Ernfels

    Wie alle Kinder liebte auch Argula Feste, und davon gab es viele im ausgehenden 15. Jahrhundert. So verzeichnete der kirchliche Festkalender rund 100 arbeitsfreie Fest- und Sonntage: Neben Ostern, Weihnachten, Pfingsten, den zahlreichen Kirchweihfesten um Ernfels und Beratzhausen, dem Erntedank- und dem Maifest, gab es noch unzählige Heiligenfeste.

    Nicht alle diese Feste wurden gleichermaßen mit üppigen Mahlzeiten und fröhlicher Unterhaltung, mit Gauklern oder Musikern gefeiert, doch immer gab es für die Kinder auf der Burg etwas Süßes, wie zum Beispiel eingemachte oder gedörrte Früchte, geröstetes Weißbrot oder Grießpudding. Für die Erwachsenen gab es stets Wein und manchmal auch Bier, und wenn man Gäste hatte, trug man selbstverständlich sein Sonntagsgewand.

    An Tauf- und Hochzeitsfesten drückte Pater Franziskus schon einmal ein Auge zu, wenn diese Getränke in nicht versiegenden Strömen flossen, „bis sich die Tische bogen". An hohen kirchlichen Feiertagen oder auf Beerdigungen ließ er jedoch Strenge walten.

    Heute, es war ein Sonntag, war einer dieser Feiertage, an denen selbst der Geistliche kräftig mitfeierte. Es war Mitte Mai, die Sonne schien vom frühen Morgen bis zum Schlafengehen.

    Am Vortag waren bereits die Sänger und Gaukler eingetroffen. Argula und ihre Geschwister hatten sie bei ihren Vorbereitungen beobachtet und schon einen kleinen Vorgeschmack auf das Fest bekommen.

    Pater Franziskus hatte in der Frühe die Messe, bei der die meisten Gäste schon anwesend waren, gelesen. Er hatte seinen Blick über die in der Burgkirche dicht gedrängt sitzenden und stehenden Festbesucher schweifen lassen und nach dem Segen noch ein paar mahnende Worte gesprochen, man möge es nicht übertreiben, nicht zu viel Wein trinken und sich überhaupt immer gottgefällig aufführen. Dabei hatte er einige junge Männer mit seinem durchdringenden Blick fixiert. Diese hatten begriffen, dass sie gemeint waren und die Augen gesenkt. Und jedermann war klar, dass Franziskus weiter ein Auge auf sie haben würde. Argula hatte ihm nur mit einem Ohr zugehört. In ihren Gedanken war sie schon beim Spiel. Ihr Vetter Adam und seine Schwester Anna waren unmittelbar vor der Messe angekommen, und sie hatten verabredet, nachher Dame und Mühle zu spielen. Adam war auch ganz begierig gewesen, von ihr die neuen Brettspiele Puff ³ und Tricktrack ⁴ zu erlernen.

    Ohne es selbst zu bemerken, hatte sie sich aus der Bank geneigt, um die beiden Kinder zu sehen. Jetzt traf sie ein strafender Blick des Geistlichen, und die Hand ihrer Mutter, die neben ihr saß, legte sich beruhigend auf ihren Unter arm. Vorsichtig suchte die Achtjährige zwischen den Rüschen des Ärmelaufschlages die Hand der Staufferin und drückte diese. Mutter verstand ihre aufgeregte Vorfreude!

    Endlich strömten nach der Messe alle ins Freie. Die Sonne stand schon hoch und blendete die Gottesdienstbesucher, die aus dem Halbdunkel des kirchlichen Gemäuers traten.

    „Darf ich …?", fragte Argula die Mutter und schaute dann auch vorsichtig zum Vater auf. Zum Glück waren beide Eltern bereits in Gespräche verwickelt, sodass sie nicht fragten, was ihre Tochter denn wolle, und so auch keine Einwände haben konnten.

    Das Kind raffte seine Röcke und lief zu den anderen. Als die Glocke zum Mittagessen läutete, hatten die Kinder rote Wangen vom Eifer des Spiels und vom Sonnenlicht. Ihre Festtagskleider waren staubig und die der Kleineren mit Grasflecken übersät. Angesichts des wunderbaren Frühlingswetters, des bevorstehenden Mahles und der Unterhaltung, die diesem folgen sollte, waren die Erwachsenen milde gestimmt.

    Nur die Kammerfrau Hermine machte Argula und ihren Schwestern verzweifelt Zeichen, sie sollten sich doch vorsehen in ihrem Sonntagsstaat.

    Doch die Kinder, die sich sonst nie einig sein wollten, hatten sich mit einem kurzen Blick verständigt, die Kritik geflissentlich zu übergehen.

    „Anna! Adam!, rief Argula die Kinder ihres Onkels zu sich. „Nehmt Eure Essschüsseln und folgt mir an die Tafel! Es gibt eine dicke Hühnersuppe mit einem besonderen ausländischen Gewürz, dessen Namen ich immer vergesse – Mutter, wie heißt das Gewürz noch gleich, mit dem die Soße für die Hühnchen abgeschmeckt wird? Katharina von Stauff beugte sich zu ihrer Ältesten, hielt ihren rechten Zeigefinger vor den Mund, um der Tochter zu bedeuten, sie solle nicht so laut sein: „Ich stehe doch direkt neben Dir! Es ziemt sich nicht für eine junge Dame zu brüllen wie ein Fuhrkutscher. Und das Gewürz heißt Zimt, mein Schatz. Der Händler hat es uns von weit her gebracht."

    „Ja, also, wandte sich Argula an Cousin und Cousine, „ich habe zugesehen, wie das Hühnchen mit Wasser und Wein gekocht und anschließend mit dieser Zimtsoße übergossen wurde. Und ich durfte einmal davon kosten. Ich sage Euch, es schmeckt himmlisch – so fremdländisch!

    Argula war sehr zufrieden, als sie die bewundernden und neugierigen Blicke ihrer Verwandten sah. „Wenn ich groß bin, reise ich durch die ganze Welt und koste alles fremde Essen", fügte die junge Staufferin hinzu und warf den Kopf in den Nacken, um die Ernsthaftigkeit ihrer Rede zu unterstreichen.

    „Wenn Ihr aber lieber Taubenpastete oder Kaninchen in Ingwersoße mögt – bitte schön!", sagte das Mädchen und machte eine einladende Handbewegung.

    Die Kinder waren schwer beeindruckt und rannten zu Tisch, weil sie all diese Köstlichkeiten sehen und probieren wollten.

    An der langen Tafel hatte sich schon Argulas Bruder Marcellus auf seinen Lieblingsplatz gegenüber dem großen Spiegel gesetzt. Von dort aus konnte er die ganze Gesellschaft gut überschauen. Ihm waren auch Argula und ihre Brüder Bernhardin, Gramaflanz und Feirafis sowie Cousin Adam gefolgt. Argulas jüngere Schwestern Zormarina und Sekundilla saßen neben ihrer Mutter. Sie waren, wie auch Cousine Anna, noch zu klein, um bei den älteren Geschwistern Platz zu nehmen.

    Alle ließen es sich schmecken, und die meisten ließen sich noch etwas Brot kommen, um die Soßenreste in den Tellern und Tischmulden aufzusaugen, so köstlich war das Mahl.

    Als Zwischengang wurde eine Kelle kalte Milch mit Pfefferminzblättern gereicht.

    Die Eltern hielten ihre Sprösslinge im Blick, denn bei den Stauffern achtete man auf gutes Benehmen. So manch ein Knabe hatte sich sagen lassen müssen: „Spuck nicht auf die Tafel, wisch Dir den Mund, bevor Du trinkst, rülpse nicht, und bohre nicht in den Zähnen!"

    Und die Großen machten es den Kleineren vor und nahmen die abgenagten Kaninchenknochen vom Tisch und ließen sie in die Knochenvase, die bald gut gefüllt war, rutschen.

    Ungeduldig schauten nun alle zur Tür, durch die die Dienerinnen mit der Nachspeise jeden Moment eintreten würden. Argula hatte gestern einen Blick in die Küche geworfen und Schalen voller „Zimmergewürze" entdeckt: kandierten Ingwer und Fenchel, Wacholder, außerdem Nüsse und sogar erlesene exotische Früchte. Katharina von Stauff, die wie die meisten Frauen der Burgherren die Haushaltsbücher der Familie führte, hatte keine Kosten gescheut und Orangen, Feigen und Datteln spendiert.

    Als die Leckereien aufgetragen wurden, war beifälliges Brummeln im Saal zu hören. Die Hausherrin nahm die anerkennenden Laute hochzufrieden wahr. Man wusste also die Großzügigkeit der Gastgeber zu schätzen. Und wie sie alle beherzt zugriffen!

    Die kleine Anna musste sich sogar von ihrem Vater zurechtweisen lassen, denn er hatte sie dabei ertappt, wie sie mit hochrotem Kopf Feigen und Datteln in ihre Schürzentasche gleiten ließ.

    Der Burgherr Bernhardin von Stauff, der die Szene beobachtet hatte, winkte ab und zwinkerte der Kleinen zu: „Hauptsache, die Burgküche hat Deinen Geschmack getroffen."

    Anna errötete und stieß mit noch gefüllten Backen ein zaghaftes „Ja, sehr!" aus. Ihr wurde die Peinlichkeit genommen, denn soeben wurde auch schon der gesellige und amüsante Teil des Festes angekündigt.

    Eben waren schon drei Sänger eingetreten, die, bunt gewandet, sich vor dem Hausherrn verneigten und sodann anheben wollten, die Taten der Edlen und Könige zu besingen. Doch Bernhardin hob die Hand, und sofort schwiegen alle still. Mit Blick auf Argula kündigte der Hausherr die Präsentation eines „Schaugerichtes an, das er, wie er hervorhob, auf Wunsch seiner ältesten Tochter bestellt hatte. Argula stand die Freude ins Gesicht geschrieben, und es hielt sie fast nicht auf dem Stuhle, doch da öffnete sich schon die schwere Eichentür mit lautem Knarren. Hereingetragen wurde auf einem riesigen Silbertablett ein feuerspeiender Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Die „Ahs und „Ohs ertönten nun überall im Raum. Jetzt konnte das Kind sich nicht mehr beherrschen. Argula hatte dieses Schauspiel zwar bereits einmal gesehen und wusste selbstverständlich auch, dass man den Adler in langer Prozedur sorgsam von seinem Federkleid und seiner Haut „befreit hatte, dass das zarte Fleisch des großen Vogels gekocht und anschließend wieder unter seine natürliche „Hülle" gestopft und diese wieder zusammengeklammert worden war. Sie wusste, dass Eisenstangen die abgespreizten Flügel in Position hielten, und man hatte ihr auch erklärt, dass das, was am Schnabel brannte und ein Feuerspucken vortäuschen sollte, Wolle und Kampfer waren, die die Köchin dem Vogel in den Schnabel geschoben und vor Betreten des Festsaales entzündet hatte.

    All dies wusste die kleine Staufferin, dennoch zog sie das Schauspiel in seinen Bann. Sie erhob sich und rannte auf den großen Diener Karl zu, der jetzt das Tablett geschickt über die Köpfe der Tafelrunde manövrierte und sich auf die älteste Tochter seines Herrn zu bewegte, die sich jetzt, wie meist, wenn sie aufgeregt war, den Nasenrücken rieb und der dafür von der Mutter gestrenge Blicke zugeworfen wurden. Karl stellte den Adler, aus dessen Schnabel noch immer Flammen züngelten, doch tatsächlich vor dem Kind auf den Tisch. Argula erhob sich und wäre am liebsten noch näher an das Tablett herangegangen, gehorchte jedoch, als Karl ihr das Zeichen gab, sie solle eine Armlänge Abstand halten. Da stand sie nun mit angehaltenem Atem und schaute fasziniert auf den Adler bis das Feuer verloschen war.

    Nach diesem Spektakel, das sicher nur wenige Minuten gedauert hatte, löste sich jetzt schlagartig die Anspannung. Die Gäste jubelten, prosteten sich zu und lachten – ein Zeichen für die Kinder, dass sie sich nun von den Bänken erheben durften.

    Die Sänger versuchten noch einmal ihr Glück, merkten jedoch schnell, dass es galt, noch etwas abzuwarten, wollte man sich denn der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer sicher sein.

    Argula war inzwischen von Kindern umringt. Sie und Marcellus erklärten begeistert die Prozedur, der es bedurft hatte, das Tier entsprechend herzurichten. Mit roten Wangen und glänzenden Augen hingen die jungen Gäste an ihren Lippen, und die beiden Staufferkinder genossen es, alles bunt auszuschmücken und ihren Reden mit großen Gesten Nachdruck zu verleihen. Nur die Frage, wer denn jetzt das gekochte Vogelfleisch esse, konnten beide nicht beantworten: „Vielleicht das Gesinde in der Küche?, mutmaßte Marcellus. Die Kinder jedenfalls waren sich alle einig, dass sie selbst kein Bedürfnis verspürten, etwas vom „Schaugericht zu kosten.

    Während nun die Erwachsenen den Sängern lauschten, spielten die Kleinen Fangen und Verstecken, die älteren Kinder vergnügten sich beim Brettspiel.

    Als es schließlich zu dämmern begann, gab es zum Abschied noch eine besondere Attraktion. Bernhardin und seine Frau Katharina hatten Gaukler auf die Burg bestellt. Unter Klatschen und Jubel schauten Groß und Klein den Unterhaltern zu. Alle hielten den Atem an, als ein kleiner schmächtiger Mann Feuer schluckte und es dann in heißem Schwall wieder ausspie.

    Die Damen zeigten sich entzückt, als ein junges Mädchen mit einem Schirm in der Hand auf einem Seil turnte.

    Die Knaben und ihre Väter freuten sich besonders an einem nicht mehr ganz jungen Gaukler, der in einem gelbbraun eingefärbten Schaffell den wilden Löwen gab. Zum Abschluss ging eine alte Frau, die ebenfalls zu der Truppe gehörte, herum und las den erwachsenen Gästen aus der Hand. Die Freude unter den Gästen war groß, denn alle Anwesenden konnten gemäß den Weissagungen der Alten einer gesunden und glücklichen Zukunft entgegensehen.

    Um kurz vor Mitternacht waren die meisten Gäste wieder abgereist oder hatten, weil sie von weiter her gekommen waren, ihr Lager in den Nebengelassen der Burg bezogen. Die Kinder schliefen alle schon selig, und die Erwachsenen taten es ihnen bald nach.

    Kapitel 3

    um 1500

    Ernfels

    Der Ritteradel im Wandel

    Der Alltag der Burgbewohner verlief selbstverständlich wesentlich weniger spektakulär. Besonders in der Winterzeit, wenn die Tage kurz waren und der eisige Wind um die auf einer Anhöhe gelegene Burg pfiff, gab es für Jung und Alt wenig Abwechslung.

    Auch wenn die politische Situation um 1500 stabil zu sein schien, so war es nach Meinung der führenden Persönlichkeiten des Ritteradels doch nur eine Frage der Zeit, bis der Herzog einen neuen Versuch wagen würde, die Reichsfreiheit auszufechten. Bernhardin und die „Löwler hielten in regelmäßigen Abständen geheime Treffen ab und besprachen sich. Auch hatte ein jedes Mitglied seine „Beobachter an den Schaltstellen der herzoglichen Macht.

    Die Kinder wussten selbstverständlich nicht um diese Dinge, spürten jedoch die innere Unruhe, die ihren Vater plagte. Ihre Mutter Katharina saß viele Winterabende bei Kerzenschein über ihrem Ausgabenbuch und rechnete mit gekrauster Stirn, wobei ihr gelegentlich ein leiser Seufzer entfuhr.

    Argula und ihre Geschwister, die sich am Kamin in dem großen Raum im Palas aufhielten, verstanden, dass sie in solchen Momenten zu schweigen hatten. Die Jungen hielten sich oft nicht an die Regel und wurden dann mit harschen Worten des Zimmers verwiesen. Meist verschwanden sie in die Ställe oder suchten Unterschlupf in der Wärme der Küche. Nur Marcellus, der, obwohl er noch recht jung war, wie seine Schwestern mehr Gespür für heikle Situationen hatte und sich nur leise flüsternd mit den Mädchen unterhielt, blieb in dem mit schweren Wandteppichen behaglich eingerichteten Raum. Argula erzählte dann gerne im Flüsterton, was sie in den wenigen Büchern, die in der schweren Eichentruhe verwahrt waren, gelesen hatte. Die Kleinen hingen an ihren Lippen, denn sie bewunderten die große Schwester, die offenkundig, da sie schon recht gut lesen konnte, Zugang zu großen Geheimnissen hatte.

    Tatsächlich las sie, wenn auch gelegentlich noch etwas stockend, bereits ohne Hilfe. Auch das Schreiben hatte sie gelernt. Sowohl der Mutter als auch Pater Franziskus hatte sie „Löcher in den Bauch" gefragt, hatte sich anfangs vorlesen lassen und sich dann später Buchstabe für Buchstabe selbst erschlossen. Sie las alles, was ihr in die Finger kam: Bücher über Heilkunde und Krankenpflege, die die Wirksamkeit verschiedener Kräuter beschrieben und erklärten, wie man fachgerecht Wunden versorgte, Heiligenlegenden, Gebets- und Anstandsbücher und fromme Traktätchen.

    Besonders faszinierte sie ein in Schweinsleder gebundener schwerer Band mit medizinischen Abbildungen, wie zum Beispiel der eines Menschen, der an Wundbrand litt. So kam es, dass, wenn jemand vom Gesinde erkrankt war, Argula aus ihrem Wissensschatz referierte.

    Die Eltern konnten sie dann oft nur knapp davon abhalten, sich stundenlang am Krankenlager aufzuhalten, denn trotz ihrer Warnungen überwog ihre Neugier die Angst vor Ansteckung und Krankheit.

    Neuerdings hatte sie begonnen, den Geistlichen in Diskussionen zu verwickeln. So hatte sie ihn auf eine Begebenheit angesprochen, die das Gesinde sich hinter vorgehaltener Hand erzählt hatte, die aber selbstverständlich nicht für Kinderohren bestimmt gewesen war.

    Argula hatte die Gabe, sich mit desinteressierter Miene und scheinbar abwesendem Blick unbemerkt in eine Ecke zu setzen, aber mit gespitzten Ohren genau zuzuhören. In diesem Fall hatte der Knecht Johann berichtet, in der Nähe vom Dorf Beratzhausen habe in der Fastenzeit ein Priester ein frisch erlegtes Wildschwein in den Fluss werfen lassen und habe sich dann ans Ufer gestellt und mit tragender Stimme verkündet: „Ich taufe dich auf den Namen Karpfen!"

    Johann und die Mägde hatten sich in der Küche ausgeschüttet vor Lachen und gemeint, das wäre doch eine gute Idee, auch sie seien das wochenlange Fischessen in der Fastenzeit leid. Sie hatten aber nicht bemerkt, dass sich die kleine Staufferin hinter den Brennholzstapel gehockt hatte. Auf diese Weise hatte Argula schon so einiges über das Leben gelernt.

    Die Vorstellung, durch die Namensgebung bei der Taufe sei es plötzlich möglich, ja sogar erlaubt, zur Fastenzeit Fleisch zu essen, faszinierte sie so sehr, dass sie Pater Franziskus bei nächster Gelegenheit darauf ansprach. Dieser versuchte, seine Verblüffung zu verbergen und erklärte der Kleinen, dies sei eine dumme Geschichte, wie sie sich nur das Gesinde ausdenken könne. Selbstverständlich sei so etwas niemals geschehen.

    Doch Argula ließ nicht locker und bedrängte Franziskus: „Heißt das, dass man Gott und die Kirche hinters Licht führen kann? Sieht und hört Gott denn nicht alles? Wird er denn den Priester, der ihn hintergangen hat, nicht bestrafen? Kommt er in die Hölle? Und fährt dann vielleicht der Blitz in die Menschen, die von dem Fleisch gegessen haben?"

    Argula zitterte bei dem Gedanken. Und der Geistliche versuchte verzweifelt, das Kind zum Schweigen zu bringen, denn es galt, unbedingt zu verhindern, dass sie diese schändliche Geschichte ihren Eltern oder Geschwistern erzählte, mochte sie sich nun wirklich so zugetragen haben oder frei erfunden worden sein. Er entschied sich, dem Kind Angst zu machen, sagte mit Nachdruck, sie habe das alles

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