Das Leben schreibt dir Briefe, aber die meisten kommen erst gar nicht an: Elke erzählt
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Über dieses E-Book
Montags gehen die meisten Sachen baden, pleite, gehen die Sachen, die man am Sonntag noch hatte, verloren.
Montags ist immer was los, und wenn nichts los ist, schiebt man es auf den Montag. Denn montags ist nie etwas los, ist nie etwas los, ist nie etwas los.
Der Montag ist nicht umsonst der Montag, wer am Montag etwas geschenkt bekommt, hat es für sein ganzes Leben.
Hans-Jürgen Hilbig
am 15.01.1962 kam er auf diese groteske Welt, er versuchte und versucht immer wieder zu schreiben und es der Welt zu zeigen, das ist eigentlich alles
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Buchvorschau
Das Leben schreibt dir Briefe, aber die meisten kommen erst gar nicht an - Hans-Jürgen Hilbig
Rilke
*
Zögernd schob ich den Mittelfinger zwischen Ringfinger und Daumen, schaute auf die Zeit, ohne auf eine Uhr zu sehen. Ich brauchte keine Uhr, ich brauchte Zeit. Aber manchmal brauchte ich auch die nicht.
Ich hielt einen Umschlag mit Bewerbungsunterlagen in den Händen, fürchtete, dass jemand in meiner Nähe zittern oder niesen und der Umschlag deshalb verloren gehen könnte. Das geschah nicht, nichts geschah, obwohl sicher alles geschah, wie sollte nichts geschehen, wo doch alles immer noch da war, der Wahnsinn und die Vernunft, die Vergebung und die Vergeltung, der Krieg und der Frieden, die Hoffnung und das Verderben, das Pech und das Glück. Natürlich war auch die Erkältung da und die Nasen, die von dieser Erkältung alles wissen wollten. Aus irgendeinem Grund, war dort, wo ich stand, nichts von all dem, nichts außer meine Schritte, einem Briefkasten, einen Umschlag und die Sorge, etwas falsch gemacht zu haben.
Ich versuchte die Unsicherheit auszuradieren, es gelang nicht, stattdessen fiel mir ein Radiergummi ein. Ich trug ihn in meiner rechten Jackentasche. Wenn ich ihn lange genug mit dem Mittelfinger berührte, dachte ich an eine Malerin.
Sie wohnte in einem kleinen Eckzimmer über einer Kneipe, in der ich manchmal saß. In ihrem Eckzimmer sah es aus wie in einem Palast, in dem es aussah wie in einem Eckzimmer. Es war staubig, wie es sich für ein Eckzimmer über einer Kneipe gehörte. Sie hatte keine Lampe, nur eine Kerze, die das Zimmer noch dunkler machte.
Ich fragte sie, sag mal, warum machst du es dir so dunkel hier. Ich zeigte auf das Licht draußen, sie musste es doch gesehen haben, sie war doch nicht blind, und selbst Blinde wissen von der Helligkeit, sonst wüssten sie ja nichts mit der Dunkelheit anzufangen. Sie sagte, ich bin Malerin, meine Bilder benötigen das Licht, das bekommen sie aus der Dunkelheit.
Sie sagte, das Licht ist nur ein Plagiat, eine billige Kopie, es macht die Dinge sichtbar, die wir vor uns selbst verstecken.
Sie blickte auf die Kerze, sie blickte auf mich, sie sagte, so lange wir uns noch unterhalten können, ist selbst die Dunkelheit schon zu viel, man sollte gar nichts sehen, was wir sehen, ist oft nur ein Hindernis. Sie sagte, wir suchen in den kleinsten Details die größte Entfernung, wenn wir keine Gesichter hätten, wären wir uns noch ähnlicher, wir existieren ja nur deshalb, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass wir genauso gut auch nicht existieren könnten. Ich wusste nicht immer, was sie meinte, aber die Art, wie sie sprach, mochte ich sehr, in ihrer Stimme lag etwas, etwas, das an vergessene Pläne erinnerte, an Pläne, die nur dazu auf der Welt waren, dass man sie einmal aussprach und dann ganz schnell wieder vergaß.
Doch zurück zu mir, ich musste an meine Zukunft denken, ich brauchte einen Job, und deshalb hatte ich meine Bewerbungsunterlagen ausgedruckt und sie in einen Umschlag gelegt.
Den Umschlag hielt ich in den Händen, hatte den Briefkasten erreicht, doch plagte mich Unsicherheit. Ich öffnete den Umschlag, entdeckte einen Fehler im Bewerbungsanschreiben, der leicht zu korrigieren gewesen wäre, doch dazu hätte ich nach Hause gehen müssen und darauf hatte ich keine Lust.
Also sagte ich mir, ist nicht so schlimm, schloss den Umschlag und warf ihn in den Briefkasten.
Einige Tage später saß ich in der Küche, kochte Kaffee, sah aus dem Fenster, beobachtete einen Mann, der bemüht war, ein Taschentuch aufzuheben. Doch das Taschentuch wollte nichts davon wissen. Es zog sich jedes Mal von seiner Hand zurück.
Er trug ein langes Sakko mit dem Emblem der Vereinigten Staaten. Wahrscheinlich kam er von dort und sollte uns beibringen, wie wir zu leben hatten.
Das Taschentuch wirbelte kurz in der Luft. Der Wind bekam es zu fassen, der Mann versagte, er puderte seine Nase mit seinem Versagen. Doch er lächelte, noch lächelte er. Er lächelte kühl, so wie man am Tag einem Einsamen zulächelt, irgendeinem Einsamen, der sein Leben tapeziert mit seiner Einsamkeit.
Die Straße war voller Leute, voller Leute, die über das Problem des Mannes hinwegsprangen, es nicht sehen wollten, nicht sehen wollten, dass er ein Problem hatte, man sah das Problem, es wäre so leicht gewesen, eine kleine Hilfe, eine rettende Hand, doch nichts, diese Menschen taten nichts.
Dem Mann schien das egal zu sein, er hätte die Hilfe der anderen am Ende nicht einmal angenommen, für ihn existierte nur noch dieses Taschentuch. Er wollte es haben, er wollte es unbedingt.
Er trug einen großen grauen Filzhut, einen Hut, der seine Farbe ändern konnte, der seine Farbe aber nicht änderte. Einen Hut, der nur existierte, wenn man ihn nicht verlor; wenn man ihn verlor, schien er zu verschwinden, er war dann kein Hut mehr, aber was war er dann?
Er war ein Hut, der nicht mehr als Hut existierte. So einfach war das. So einfach war das natürlich nicht. Es gab nichts Einfaches in dieser Stadt. Es gab Worte, man nahm sie in den Mund; man nahm sie in den Mund und behielt sie dort, meistens war es besser, sie zu behalten, hin und wieder jedoch kam man damit raus, das änderte nichts, es war genauso wie vorher, als wäre man, selbst als man noch redete, die ganze Zeit sprachlos geblieben.
Er machte keinen Lärm. Er hatte Hände. Warum sollte er keine haben. Aber er hatte keine Hände, die nach etwas greifen konnten, ohne dass sie etwas verloren.
Diese Hände waren sichtbar, sie machten deutlich, dass sie zu ihm gehörten, und deshalb schrie er nicht, schrie nicht, wie Babys schreien, er durfte nicht mehr wie ein Baby schreien. (Babys schrien so, weil sie fürchteten, eines Tages nicht mehr zu schreien.)
Das schien ihn zu schmerzen. Der Schmerz war das Lächeln der Wunde. Der Schmerz war nicht austauschbar, und doch konnte man ihn leicht mit dem Lächeln verwechseln. Das Lächeln sah dem Schmerz ähnlich, obwohl sich beide selten erkannten, sie erkannten die Ähnlichkeit nicht und das war gut, das war ungemein gut, denn es half beim Überleben, und überleben wollte der Mann doch, überleben wollten auch der Schmerz und das Lächeln.
Der Mann war unglücklich, das konnte ich an seinem Lächeln sehen. Die Menschen lächeln immer so, wenn sie nicht wissen, wie es weitergehen soll.
Niemand schien ihn zu beachten, warum auch. Die Leute hatten zu tun. Sie standen in dunklen Jacken vor Bushaltestellen. Sie suchten die Mülleimer nach Pfandflaschen ab. Sie zitterten, weil sie vor etwas Angst hatten. Wovor hatten sie Angst? Was taten sie dagegen? Rauchten sie zu lange an verdorbenen Ecken? Suchten sie dort irgendeinen