Die Geschichte(n) der Anna W.: 92 Episoden aus einem Leben
Von Ingrid Hoffmann
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Über dieses E-Book
Ingrid Hoffmann
Ingrid Hoffmann hat als Tochter Berichte ihrer Mutter und anderer Familienmitglieder gesammelt, aufbereitet und um eigene Erfahrungen ergänzt. Dieses Buch ist ein letztes Dankeschön an ihre längst verstorbene Mutter.
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Rezensionen für Die Geschichte(n) der Anna W.
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Buchvorschau
Die Geschichte(n) der Anna W. - Ingrid Hoffmann
Das Leben nehmen wie es ist.
Und trotzdem lächeln.
(Wolfgang N. Kraus)
Inhaltsverzeichnis
Auf ein Wort
Prolog
1923 Das Beste, das mir passieren konnte
1927 Lola
1929 Spinat & Co
1929 Vater muss Kohlen tragen
1930 Ein neuer Brunnen
1930 An der Donau
1930 Ferien bei der Anna-Tant’
1930 Die Türmerstube
1931 Die feine Torte
1931 Sauer verdientes Taschengeld
1932 Verletzung meiner linken Hand
1932 Nachspiel
1932 Das neue Kleid von Resi
1933 Ein „Kühlschrank" und elektrisches Licht
1933 Klein-Anna wäscht für Mutter
1933 Friedhofsbesuch in Enzersfeld
1933 Schuhe und Handschuhe
1933 Mein Arm muss weg
1933 Resi geht ins Ausland
1934 Schokolade
1935 Falsche Töne
1935 Vater nimmt Kostkinder
1936 Mutter kündigt
1937 Luis heiratet
1938 Lehrjahre
1938 Hoher Besuch
1939 Vater wird Geschäftsmann
1940 Polenbesuche
1946 Bruder Franz
1941 Gefallen
1942 Pakete mit unbestimmter Adresse
1943 Der Kuckuck ruft
1943 Zigaretten für Zwangsarbeiter
1945 März: Die Russen kommen
1945 Soldatenleben
1945 Der gestohlene Hase
1945 Vater will Mutter beschützen
1945 Flucht
1945 Mit wunden Füßen
1945 Schützengräben
1945 Kartoffel schälen
1945 8. Mai: Krieg aus!
1945 Erste Nachkriegstage
1945 Nähmaschinen stehlen
1946 Wieder ein Hans
1947 Jänner: Alle Hände voll zu tun
1947 Frühjahr: Elfer-Jause
1947 Das Pfingst-Turnier
1947 Wo können wir wohnen?
1949 Presswurst und Zwetschkenknödel
1950 Keuchhusten
1952 Ingrid hat Hunger
1954 Schwarzarbeit
1954 Anzeige
1955 Besuch bei Franz
1956 Ernst in Wien
1957 Aus Alt mach Neu
1957 Das E-Werk-Bad
1957 Urlaub mit Freunden
1958 Die Puppenfamilie
1958 Hämmern, Sägen und Kleben
1958 Die Jolly-Tant
1959 Waschtag mit Kindern
1960 Dänenbesuch
1960 Die Herrenschneiderei
1961 Die alte Heimat
1962 Die Frau Efferl
1963 Schiunfall ohne Schi
1963 Nass bis auf die Haut
1964 Besuch in Chemnitz
1964 Mama, mir schmeckt’s nicht
1965 Der Obauer Hansl
1965 Lungenriss
1966 Hilfe für Flüchtlinge
1970 Gute Freunde
1973 Wenn Kinder flügge werden
1974 Mein erstes Enkelkind
1974 Ich hab kein Geld
1975 Mutter wartet auf mich
1978 Mein Mann ist krank
1978 Allein gelassen
1998 Ingrid erinnert sich
1979 Auf Kur mit Gisi
1982 Meine Tochter baut ein Haus
1984 Arbeitsteilung
1995 Auf einem Kamel geritten
2000 Ich bin Urgroßmutter
2000 Mai: Ich bin ein Pflegefall
2013 Mischa
2013 Ich, Birgit, gehöre jetzt zur Familie
2013 Ich lebe
2013 Zum runden Geburtstag
Epilog
Die Familie
Auf ein Wort
Diese Geschichten schrieb ich für meine Mutter auf, teils aus meinen eigenen Erinnerungen, teils aus Mutters Erzählungen oder auch aus Mitschnitten von Interviews, die mein Sohn Werner akribisch führte, wofür ich ihm sehr danke.
Der O-Ton ist eine Erinnerung für die Familie und gleichzeitig ein wichtiges Zeitdokument, wie Familien sowohl vor und während des Krieges, als auch in der Nachkriegszeit lebten.
Diese Geschichten der Anna W. erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und auch nicht auf exakte Wiedergabe ihres gesamten Lebens, sondern sollen vielmehr in chronologisch geordneten Episoden einen weiten Bogen über ihr Leben bis in die Gegenwart spannen.
Auch erhebe ich nicht den Anspruch auf ein literarisch wertvolles Werk, obgleich ich mich um einen niveauvollen Sprachgebrauch bemühte. Ich versuche in diesen Texten verschiedene Personen erzählen zu lassen, damit deren persönliche Blickwinkel das Leben meiner Mutter aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten können.
Im Laufe meines Lebens hat sich mein Bild von meiner Mutter stark gewandelt: Durch die intensive Arbeit an diesem Buch bin ich ihr so nah gekommen, wie ich es als Kind war.
Ein herzliches Dankeschön gilt meinem Freund Wolfgang Kraus, ohne dessen Hilfe dieses Buch wohl nicht zustande gekommen wäre.
Ingrid Hoffmann
Jänner 2024
Prolog
Nun bin ich neunzig Jahre alt, habe zwei Kinder, zwei Enkel und zwei Urenkel, ich habe viel gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt. Es war nur ein Atemzug. In ihm liegen meine ganzen Lebensjahre, eingebettet in Freud und Schmerz.
Meine Kindheit habe ich in Armut verbracht, aber ich habe nie hungern müssen. Meine Jugend verlief voller Entbehrungen, aber trotzdem gab es heitere Momente.
Wenn man jung ist, hadert man oft mit dem Schicksal, will erzwingen, was nicht geht, ist enttäuscht darüber, wünscht sich dies und das. Erst wenn man älter wird, wird man ruhiger, lernt zu unterscheiden, was wirklich wichtig ist im Leben. Ich habe viel Weisheit anhäufen können und habe gelernt wie es ist, zufrieden zu sein.
Die Wünsche werden kleiner mit dem Alter. Man nimmt vieles nicht mehr so krumm. Nie habe ich aufgehört mir meine junge Seele zu bewahren, offen zu sein für neue Ideen. Und meine Träume habe ich mir erhalten.
Mein Leben war nicht laut aber vielfältig. Mit ein bisschen gutem Willen ist mir doch Einiges gelungen, worauf ich stolz sein kann.
Das Leben ist schön.
Der Wienerwald-Bote schrieb im Jahr 1923:
Der Roggen als Hauptbrotfrucht.
Während in England und Frankreich zumeist Weizenbrot gegessen wird, halten wir mit Recht an unserem alten und nährstoffreichen Roggenbrot fest. Zudem gedeiht der Roggen auch auf leichten Sandböden, wo andere Getreidearten versagen. Roggen gedeiht nach Hülsenfrüchten und Klee am besten, kann aber auch nach Hafer und Gerste, selbst nach Roggen, wenn das Feld in gutem Zustand ist, angebaut werden. Zur Winterfrucht gibt man Kalidüngsalz, Superphosphat, Reformphosphat oder Thomasmehl und Kalkstickstoff, etwa 14 Tage vor der Saat. Den Kalkstickstoff kann man auch in zwei Gaben geben.
Quelle: anno.onb.ac.at
1923
Das Beste, das mir passieren konnte
Ich wollte dich gar nicht mehr haben, Anna.
Noch ein Kind - das Vierte.
Du warst uns einfach passiert.
Meine Schwangerschaft verlief mit zunehmender Dauer schwieriger. Das Atmen fiel mir schwer. Die Ärzte meinten nur, ich solle durchhalten und mich schonen. Das können vielleicht reiche Leute, aber nicht unsereins. Ich nähte für andere Leute Neues aus alten Kleidern, flickte ihre Wäsche. Den ganzen Tag in gebeugter Haltung vor der Nähmaschine täte meiner Lunge nicht gut, sagte der Arzt. Ich müsse mir eine andere Arbeit suchen. Auch die Schwester im Spital meinte, ich solle durchhalten: „Mit der Geburt Ihres Kindes werden Ihre Beschwerden abnehmen. Sie werden wieder gesund." Das stimmte auch. Ein kleines Wunder.
Luis ging morgens in die Schule, da warst du noch nicht da. Die Hebamme holte dich. Als Luis von der Schule kam, warst du schon auf der Welt. Er jedoch war nicht begeistert. Als Nachbarn ihm sagten, er habe ein Schwesterchen bekommen, sagte er nur: „Na, auch schon was."
Dein älterer Bruder, Franz, blieb nach dem Krieg in Deutschland, deine ältere Schwester Therese ist mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Und Luis, unser Ältester, hat zwar dank Malis Hilfe seinen Jähzorn beruhigt, aber wenn ich von ihm etwas brauche, muss ich wohl ein schriftliches Bittgesuch einreichen. Er ist ja an sich willig, aber bis er wirklich etwas beginnt, muss man viel Geduld aufbringen.
So bist nur noch du da für mich und deinen Vater. Du entschädigst uns für alles. Und dein Mann unterstützt dich großartig. Wie kämen wir zwei sonst über die Runden, wenn wir dich nicht hätten.
Gar nicht haben wollte ich dich, Anna. Aber du bist die Einzige, die für uns da ist. Du kochst, wäschst und putzt für uns. Danach warten dann dein eigener Haushalt, deine Kinder und dein Mann auf dich.
Ich hab dich gar nicht mehr haben wollen, du bist uns passiert.
Doch du bist das Beste, das uns passieren konnte, Anna.
1927
Lola
Wer war Lola?
Ihren Kopf schmückten zwei dunkle Zöpfe, eine Haube, wie sie die Frau im 19. Jahrhundert trug: Die Ohren zugedeckt, das Gesicht mit Spitze umrahmt und mit zwei Bändern am Kinn verschnürt.
Sie war so groß wie ich und trug einen Kittel aus dunkelrotem schwerem Stoff, eine weiße Leinenbluse mit Puffärmeln und Spitze besetzt. Ebenso mit Spitze benäht waren die Beine ihrer Unterhose und ihr Unterhemdchen.
Die Füße wurden eingehüllt von fein gestrickten Kniestrümpfen und steckten in hübschen dunkelroten Stoffpatschen, die mit Bändern zugeschnürt und von je einer großen Quaste am Rist geziert wurden.
Ihr leinenblasses ernstes Gesicht hatte rosa Wangen, die Lippen blutrot und die Augen waren wie Sterne, von schwarzen Brauen umrahmt. Die Nase ragte gut gepolstert hervor.
Ihre Hände waren ebenso leinenblass, von zierlicher Gestalt, in vornehmer Haltung, die Finger beisammen, mit abstehenden Daumen. So saß sie da mit den Händen im Schoß, vor der Brust verschränkt, seitwärts herunterhängend oder einen Arm lässig ruhend auf dem Polster, an dem sie lehnte.
Arme und Beine konnten jedoch oft schlenkern, wenn ich sie trug. Die Gliedmaßen waren aneinandergekettet.
Wer war Lola?
Sie war die Puppe meines Lebens, die einzige, die ich mein eigen nennen durfte, und die meine Mutter selbst genäht hatte. Auch meine Tochter spielte noch damit. Doch irgendwann konnte sie keiner mehr brauchen. In unserer schnelllebigen Wegwerfgesellschaft hatte sie keine Daseinsberechtigung. Außerdem waren andere vielleicht schöner als sie. Aber heute tut es uns leid, dass wir sie nicht mehr haben, denn sie wäre eine Zeitzeugin alter Handwerkskunst.
1929
Spinat & Co
Anna war ein klein und zart geratenes Kind. Was allerdings nicht nur daher rührte, dass ihre Mutter während der Schwangerschaft große Probleme mit Atmung und Lunge gehabt hatte, sondern vor allem darin begründet war, dass Anna nicht alles schmeckte. Sie aß nicht alles, was auf den Tisch kam.
Fleisch gab es wenig, denn das war teuer und musste zugekauft werden. Aber Gemüse und Obst wuchsen so reichhaltig in Vaters Schrebergarten, dass es daran keinen Mangel gab. Er betreute sogar zwei Schrebergärten, den seiner Schwiegermutter Juliane und den eigenen. Luis, der älteste Bruder liebte Mehlspeisen. Also kochte die Großmutter für ihren Lieblingsenkel, was er besonders mochte: Apfelstrudel, Scheiterhaufen, Grießschmarren, Obstknödel, Buchteln usw.
Und damit auch Franz, Annas nur um zwei Jahre älterer Bruder, satt wurde, gab es vorher noch eine wirklich dicke Kartoffelsuppe und eine große Scheibe Brot dazu. Das schmeckte Anna auch. Aber Spinat, zum Beispiel, mochte sie gar nicht. Wenn also die Spinatzeit kam, hatte Anna nie Hunger. Doch Spinat sei gesund, versicherten ihr die Älteren, und müsse unbedingt verzehrt werden:
„Du sollst doch zu Kräften kommen", sagten