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Kaum eine Chance: und dennoch
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eBook362 Seiten4 Stunden

Kaum eine Chance: und dennoch

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Über dieses E-Book

Geboren im Nachkriegsjahr 1946 in Amsterdam. Meine Zukunft kann man nicht unbedingt als aussichtsreich bezeichnen. Meine Eltern haben kaum Zeit für mich und meine Schwestern. Der Jugendschutz befindet, dass wir in einem Waisenheim in »Schiedam« besser aufgehoben sind. Das Gute ist, wir drei bleiben zusammen. Nach fünfzehn Monaten befinden wir uns dann auf dem Bauernhof einer Pflegefamilie. Nicht hoffnungslos negativ, aber auch nicht empfehlenswert. Mein Vater ist von Gewissensbissen geplagt und gelobt sich zu bessern, sodass der Jugendschutz ihm seine Kinder wieder anvertraut. Meine Mutter findet sich mit einem Landwirt zusammen, der ihr verspricht in naher Zukunft ihre drei Kinder nachkommen zu lassen. Er löst sein Versprechen nicht ein. Mein Vater hingegen mietet für sich und seine Kinder eine Unterkunft bei einer netten Witwe. Alles geht gut. Mein Vater lacht sich eine ziemlich heruntergekommene, kinderfeindliche junge Frau an. Sie hasst Kinder. Es ist, vorrangig für mich, ein sehr unangenehmes, von Gewalt bestimmtes und schmerzhaftes Jahr. Der Jugendschutz kommt wieder in Aktion und bringt uns in Sicherheit. Wir Kinder sind leider getrennt untergebracht und wissen nichts voneinander. Mein Platz ist jetzt das Waisenhaus »Martha Stichting«. Ich lasse mich nicht mehr drangsalieren und wehre mich vehement.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum14. Feb. 2022
ISBN9783755708872
Kaum eine Chance: und dennoch
Autor

Cornelis George

Cornelis George is een pseudoniem. Hij is geboren 20 juni 1946 in Amsterdam en leeft sinds 52 jaren, nog steeds gelukkig getrouwd, in Duitsland. .

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    Buchvorschau

    Kaum eine Chance - Cornelis George

    Autobiografie

    Verdammt nicht gleich den andern.

    Übet Milde.

    Verzeiht. Entschuldigt. Denkt an eigne Schuld.

    Wenn jeder alles von dem andern wüsste,

    es würde jeder gern und leicht vergeben.

    Es gäbe keinen Stolz mehr, keinen Hochmut.

    Hâfis

    Inhaltsverzeichnis

    Amsterdam 1946

    Schiedam 1947

    Pro Juventute

    Rudolf Stichting

    Pastor R.J.W. Rudolph

    In der Rudolph Stichting

    Tagesablauf

    Frühjahrsarbeiten

    Die Katastrophe

    Christa weint nur noch

    Herbst

    Vorleseabend

    Erbsensuppe

    Der Hahn

    Besuch

    Amsterdam 1950 / 1951

    Oma Enzering

    Die Autofahrt

    Andere Kleidung

    Onkel Peter

    Zur Schule

    Baden ohne Badezimmer

    Der Garten

    Familie Boskoop

    Missverstanden

    Mein Holzschwert

    Aussprache

    Wintermantel

    Der Hafen

    Wintermantel 2

    Zwarte Water

    Der Kacklöffel

    Frau Fokkens

    Teddybärchen

    Aufklärung

    Blasrohr

    Der Alltag

    Es ändert sich etwas

    Onkel Thomas

    Christa

    Marie hat Wünsche

    Die Knöpfe im Garten

    Frühjahr 1952

    Marie

    Das neue Zuhause

    Slotermeer

    Nora

    Boskoop und Tilly in Wut

    Umzug nach Slotermeer

    Mutter?

    Versprochen!

    Zur Schule

    Marie warnt Coby

    Schularzt

    Frau Schonewille

    Marie legt wieder los

    Coby verteidigt mich

    Marie kennt keine Gnade

    Coby macht Pause

    Marie hört nicht auf

    Sie ist weg

    Gerda ist da

    Vater will Marie zurück

    Sie ist zurück

    Die Prügelei geht wieder los

    Oma Bonnes

    Egmond aan Zee

    Wieder zu Hause

    Die Blase platzt

    Hans zu Hause

    Sommerferien

    Nikolaus

    Marie ohne Valium

    Weihnachten

    Der Schwan

    Ein ziemlich zäher Braten

    Sie dreht wieder durch

    Christa wählt Marie

    Coby kommt mit Oma Bonnes

    Polizeibegleitung

    Aufschnitt Reste

    Die Brust für Hans

    Mein Waterloo

    Er hat nur Augen für Marie

    Frühjahr 1953

    Ende Teil -1-

    Wie es weitergeht

    Nachwort

    Amsterdam 1946

    Der Zweite Weltkrieg hatte viele Menschen mürbe gemacht und abgestumpft, sie traumatisiert oder einfach auch nur desorientiert zurückgelassen. Die große Frage war doch: Wie soll es jetzt bloß weitergehen? Die Menschen suchten ihre Familien, Freunde und alte Weggefährten, um mehr oder weniger ihre Welt wieder auf die Beine zu bekommen.

    Ihre Perspektive stimmte einfach nicht. Es fehlte an allem möglichen, vor allem aber an Nahrung und Vertrauen in die Mitmenschen.

    Man war zu dieser Zeit wirklich bemüht, die Welt wieder in Ordnung zu bringen und wollten zudem auch wohl herausfinden, wer wohin gehörte und vor allem zu wem er/sie gehörte. Also man meinte auch zu der Zeit damit wohl „Selbstfindung". So auch meine Eltern, glaube ich zu wissen.

    Soweit ich dies heute beurteilen kann, hatten meine Eltern dieses Problem sowie auch eine Menge anderer Probleme nicht lösen können. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass sie es wirklich versucht hatten. Darum kann ich ihnen auch nicht wirklich böse sein, sondern ich habe eher Mitgefühl und Verständnis für sie. Dass es mich trotzdem traurig stimmt nicht in einer normalen Familie aufgewachsen zu sein, kann sicherlich ein jeder verstehen, jedoch hatte mein Dasein trotz allem auch so seine Reize für mich.

    Meine beiden Schwestern, sie heißen Coby, die sieben Jahre zählte und Christa, vier Jahre alt, hatten die Aufgabe und die Freude sich um ihren kleinen Bruder zu kümmern. Ich war erst ein halbes Jahr alt und sie hatten wenig Ahnung, was für die Betreuung eines so kleinen Burschen erforderlich war. Doch sie erfüllten ihre Aufgabe mit großer Hingabe. Es machte Ihnen großen Spaß ein lebendiges Spielzeug zu haben und schalten und walten zu können, ohne dass jemand sich einmischte. Kein Erwachsener machte ihnen dieses kleine Wesen streitig. Ich machte es ihnen aber nicht immer leicht und vielleicht stammt die heutige Distanz meiner Schwester Christa ja aus dieser Zeit.

    Auch sie hätte eigentlich ein Kind sein sollen, statt einem Baby die Windeln zu wechseln, zu müssen. Meine Eltern arbeiteten zu der Zeit in einem Café Restaurant sehr lange Schichten, um über die Runden zu kommen und unser Überleben zu sichern. Überleben war die erste Bürgerpflicht, denn der Staat konnte nicht allen seinen Bürgern wirklich helfen, weil direkt nach dem Zweiten Weltkrieg noch keine gut funktionierende Verwaltung installiert war.

    Es herrschte die Mentalität vor: „Jeder für sich und Gott für uns alle!" Zwar gab es eine große Schicht in der Bevölkerung, die den Glauben an Gott nicht mehr als ihre Lebensgrundlage betrachten konnte oder wollte, doch in der Not wurde, und wird, unser Schöpfer nur allzu gerne angerufen.

    Zum Glück gab es noch meine Großmutter mütterlicherseits, meine Oma Bonnes! Sie hatte die Möglichkeit ihre drei Enkelkinder zu ernähren, was sie auch mit großer Freude tat. Sie kam fast jeden Tag mit einer warmen Mahlzeit auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades und mit viel Liebe im Herzen, Wind und Wetter trotzend zu uns, um uns zu versorgen. Das war für diese Zeit eine enorme Leistung und meine spätere große Liebe zur Oma Bonnes lässt sich nur anhand dieser Fürsorge erklären. Oma Bonnes hat sich fast ein Jahr um uns gekümmert. Ich würde sagen, sie hat sich aufgeopfert uns zu versorgen und dazu meinen Eltern, den Versuch zu ermöglichen, eine Existenz aufzubauen. Das Wissen um diese Leistung meiner Oma Bonnes hat mir meine Schwester Coby vermittelt, wie auch vieles mehr aus dieser frühkindlichen Zeit.

    Während die Erwachsenen in meiner Familie sich bemühten uns zu ernähren, wartete Korea darauf bekriegt zu werden. Freiwillige aus Europa und Übersee, die noch nicht die Möglichkeit gehabt hatten zu erleben, wie das so ist, wenn Menschen erschossen werden, verhungern, erfrieren oder sonst auf unbekannte Weise massakriert werden, meldeten sich, um ihren Erfahrungsschatz zu erweitern. Später erzählten einige von diesen Enthusiasten, dass sie hauptsächlich doch nur den Frieden sichern wollten.

    Freiwillig meldete sich hierzu auch der Straßenbauarbeiter Thomas R. Der Zufall wollte es nun, dass mein Vater, immer noch in Zusammenarbeit mit Oma Bonnes, mit dem Versuch beschäftigt war uns zu versorgen und sich zu finden. Was er fand, war eine junge Frau, ich nenne sie Tilly. Sie war wohl die Ehefrau des Thomas R. (eigentlich weiß ich nicht 100 % sicher, ob sie schon mit Thomas verheiratet war, aber dazu später).

    Oft wird gesagt, Kinder, vor allem wenn sie noch klein sind, können eine Familie zusammenhalten. Bei meiner Eltern jedoch muss da etwas nicht funktioniert haben in Sachen Familie. Oder war ich, als drittes Kind dass versorgt werden sollte, das Problem?

    Den Weg meiner Mutter zu beschreiben ist vorerst einfach. Während indessen mein Vater auf allen möglichen und unmöglichen Spuren seinen Weg suchte, verirrte sich ein Bauernsohn aus der näheren Umgebung von Amsterdam in die Nähe meiner Mutter. Dieser Bauernsohn schwor meiner Mutter, dass er nicht nur sie auf ewig lieben würde, sondern auch ihre schon vorhandenen drei Kinder mit aufnehmen und eventuell auch adoptieren wollte.

    Nun hatten viele Bauern im Zweiten Weltkrieg ihren Landsleuten gegenüber bewiesen, weniger christliche Eigenschaften zu pflegen. Sie hatten sich oft mit teilweise üblen Tauschgeschäften an dem Elend der Mitmenschen bereichert.

    Meine Mutter war aber noch sehr jung und vor allem unerfahren. Das muss wohl der Grund gewesen sein, dass sie ihm seinen Schwur abkaufte, ihre Siebensachen einsackte und sich auf den Weg machte in das – vermeintliche – Glück.

    Es kam, wie es kommen musste, meine Mutter wurde Bäuerin, und ich hatte ein erziehungsberechtigtes Elternteil weniger. Es machte mich aber nicht wirklich arm, traurig, oder was auch immer. Denn ich war jetzt doch erst vierzehn Monate alt und außerdem hatte ich ja zwei Ersatzmütter und meine Oma Bonnes.

    Meine Mutter verlor sich dann aus meiner Umgebung, um erst viel später – zu meiner Überraschung – wieder auf sich aufmerksam zu machen.

    Mein Vater war in der Zwischenzeit ernsthaft bemüht seine Kinder zu versorgen, aber die Nachkriegszeit und die Frauen machten ihm dann doch sehr zu schaffen, der Arme!

    So auch die soeben angesprochene Tilly. Sie hatte sehr darunter zu leiden, dass ihr Mann, (aber wie zuvor erwähnt, ich weiß nicht 100 % sicher, ob sie verheiratet waren) den Weg nach Korea gehen wollte und schließlich auch ging. Tilly hatte in meinem Vater jedoch einen sehr erfolgreichen und fleißigen Tröster und Ernährer auf Zeit gefunden.

    Vielleicht war auch Liebe im Spiel oder nur Überlebenswille, wer vermag das noch zu sagen. Gesagt wurde auch, dass Tilly aus Mitleid gehandelt habe und diesem Mann mit seinen drei Kindern unbedingt helfen wollte.

    Das ist ja verständlich und sehr menschlich, es waren problematische und schwierige Zeiten für einen jeden. Andere waren überzeugt, es hätte auch noch andere Möglichkeiten gegeben. Ich will jedoch immer versuchen den guten Willen zu erkennen. Das ist für mich der angenehmste und auch wohl der einfachste Weg.

    Andere Möglichkeiten gab es sicher, aber für mich war alles in Ordnung. Denn ich hatte ja meine beiden Schwestern und meine Oma Bonnes, die mich mehr oder weniger gut umsorgten, aber ich war auch nicht sehr anspruchsvoll. Na ja, in meinem Alter!

    Später ging es dann wohl nicht mehr so weiter. Das Jugendamt hatte ein Schreiben aus der Nachbarschaft erhalten und war so auf unsere Situation aufmerksam geworden. Oma Bonnes wollte unbedingt weiter für uns sorgen, obwohl meine Mutter mit ihrem Bauern auf und davon war.

    Mein Vater hatte kaum die Möglichkeit Geld zu verdienen uns Kinder, zusammen mit Oma Bonnes natürlich, zu versorgen. In den Nachkriegsjahren war es außerordentlich schwer, eine zerrüttete Familie wieder in die Spur zu bekommen und das auch noch für einen alleinerziehenden Vater. Ihm wurde vom Jugendamt mitgeteilt; „Man hätte das Beste mit uns vor". Was hätten die sonst auch sagen sollen? Jedoch bezweifle ich auch heute noch, dass mein Vater zusammen mit Oma Bonnes die Kuh nicht vom Eis bekommen hätte. Coby weiß noch, dass die Polizei uns zusammen mit dem Jugendamt aus der Wohnung abholte, obwohl mein Vater nicht zu Hause war. Oma Bonnes wollte sich das nicht gefallen lassen und machte zusammen mit Tante Tilly einen richtigen Aufstand. Sogar die Nachbarn versuchten noch einzugreifen, aber es war vergebens.

    Oma hatte Angst, dass wir auf unbekannte Weise verschwinden würden und sie sollte Recht behalten, denn erst zwei Jahre später wurde sie über unseren Aufenthaltsort informiert

    Schiedam 1947

    Ich fand mich auf einmal unverständlicherweise – in einem Waisenheim wieder. Die Tatsache, dass ich in einem Heim gelandet, war nicht so schlimm, aber gleich ein Waisenheim? Wir hatten doch Eltern.

    Jungen und Mädchen wurden getrennt, dann nach Alter sortiert und anschließend entsprechend untergebracht. Aber nicht mit mir, so nicht ihr lieben Leute!

    So jung wie ich war, hatte ich doch einen ausgeprägten eigenen Willen. Ich hatte anscheinend nicht vor, mich von meinen Schwestern trennen zu lassen und machte das sehr lautstark, sehr deutlich. Nachdem die Verantwortlichen meine unüberhörbare Ablehnung zwei lange Tage über sich ergehen hatten lassen, wurde meine ältere Schwester Coby zur Verstärkung hinzugezogen und siehe da, alles war wieder gut!

    Nach zwei Tagen aß ich dann erst mal ordentlich, um dann anschließend in den Armen meiner Schwester einzuschlafen. Ich ließ es nicht zu, dass man mich wieder von meiner Schwester trennte und nach mehreren Tagen war ich dann ein Präzedenzfall. Das erste nicht weibliche Wesen im Mädchenhaus war jetzt vierzehn Monate alt und es war gut so. Ich bildete mir hierauf jedoch nie etwas ein.

    Meine Schwester sollte mich auch weiterhin um und versorgen, wofür ich dann wiederum aus lauter Dankbarkeit und Liebe zu meiner Schwester, die einzigen blühenden Blumen aus dem Waisenhausgarten für sie pflückte.

    An diese Periode meines Lebens habe ich selbstverständlich kein eigenes wissen, jedoch meine Schwester Coby konnte sich noch gut erinnern.

    Pro Juventute

    Oma Bonnes hatte zusammen mit meinem Vater das Sorgerecht für uns beantragt, und während diese Anfrage noch bearbeitet wurde, hatten die Verantwortlichen entschieden, dass wir in der Rudolf Stichting bestens aufgehoben wären. Weil Oma Bonnes, die vorher vom Jugendschutz und vom Waisenhaus in Schiedam informiert worden war, uns nicht gehen lassen wollte, ohne zu wissen, wohin man uns bringt, hat der Jugendschutz die Polizei eingeschaltet. Die Polizei hat uns drei zusammen mit einem Jugendschutzbeauftragten in Schiedam abgeholt, um uns dann in der Rudolph Stichting abzuliefern. Alle Proteste seitens Oma Bonnes und meines Vaters wurden ohne Begründung abgeschmettert. Die Pro Juventute war der Zusammenschluss mehrerer Vereine, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts in den Niederlanden gegründet worden waren. Es war eine private Initiative, die sich vorwiegend für die Bekämpfung von Jugendkriminalität einsetzte. Sie unterstützte auch Familien finanziell und begleitete sie bei der Erziehung. Heute nennt sie sich Bureau Jeugdzorg. Jawohl, Bureau Jeugdzorg, wie der niederländische Jugendschutz jetzt offiziell heißt, hatte selbstverständlich sehr viel Arbeit in den Nachkriegsjahren und konnte oder wollte sich nicht bei jedem Widerspruch neu entscheiden.

    Rudolf Stichting

    1949

    Die Rudolf-Stichting bestand aus mehreren großen Häusern mit Scheunen und Ställen für Schweine, Hühner, Gänse, Kaninchen, Rinder und Pferde. Das ganze erinnerte an ein kleines Dorf am Rande eines Dorfes, mit vielen Wiesen und einem großen Baumbestand. Kein Wald, nur eben viele Bäume rund um die Häuser herum. Der besagte Bauernhof war in U-Form angelegt. In der Mitte befand sich ein Wohnhaus mit Küchenanbau und an der Außenseiten, quer zum Haupthaus, auf der linke Seite, einem Viehstall und einem Beiküche.Über das alles, im Dachgeschoss einen Heuboden.

    In diesem Anbau sollten sich alle säubern, die von draußen wieder hereinkamen und, wenn vorhanden, saubere Kleidung und auch Socken anziehen. Die Holzschuhe wurden draußen gesäubert und dann auf Brettern abgestellt, die an der Wand befestigt waren. An der rechten Seite vom Haupthaus war ein relativ großes Stallgebäude mit Schweinekoben an der Außenseite. An der zum Hof gewandte Seite befand sich eine Remise oder offener Geräteschuppen. Hinter diese Remise waren der Hühner– und Gänsestall und noch einige Kaninchenställe. Auf der linken Seite des Hofes befand sich ein zusätzlicher Käl­berstall mit einem kleinen Schuppen voller Strohballen und der Pferdestall. Auf den ersten Blick machte das alles einen guten Eindruck. Es imponierte uns und wir dachten, das Leben hier würde aufregend werden. Und jawohl, es sollte aufregend werden, jedoch nicht immer so, wie wir es uns erhofft hatten!

    Mein Vater meinte später, er hätte nicht gewusst, was da auf uns zukommen sollte. Und selbst wenn er es gewusst hätte, hätte er es trotzdem nicht abwenden können. Denn ein weiterer Verbleib im Waisenhaus zu Schiedam wäre unmöglich gewesen! Nach der Zeit in diesem Waisenhaus hatten der Jugendschutz und die Jugendgerichtshilfe über unsere weitere Unterbringung so entschieden.

    Es war mir irgendwann zu dumm nach so langer Zeit noch darüber zu diskutieren, nur meine Schwestern hatten immer noch Diskussionsbedarf und löcherten meinen Vater noch Jahre-lang damit.

    Für Coby und Christa war es eine schwere Zeit, mit Geschehnissen, die keine Frau und kein Mädchen jemals erleben sollten. Es war und ist mir unbegreiflich, aus welchen Gründen mein Vater allein die Verantwortung für unsere verlorene Kindheit und Jugendzeit tragen sollte, wir hatten schließlich auch eine Mutter. Warum meine Schwestern meinen Vater für diese Zeit für verantwortlich machten, entzieht sich noch heute meiner Kenntnis, aber sie sind nicht bereit, mich darüber aufzuklären. Sie brauchten wohl unbedingt jemanden, den sie für die verkorkste Zeit ihrer frühen Jugend verantwortlich machen konnten.

    Und dann die Menschen in der Rudolph Stichting. In jeder Altersklasse und Größe waren mehrere Personen vertreten. Eine Frau, ein Mann, Mädchen und Jungen in blauen Kitteln und komischen Mützen auf dem Kopf und Holzschuhe an den Füßen. Einer dieser Jungen war der leibliche Sohn des Paares, man nannte ihm Henk. Er war so alt wie ich.

    Ungepflegt, ungekämmt, und er roch nach Schweinestall oder Kuhstall oder Gott weiß was. Jedenfalls stank er entsetzlich, sein Vater aber auch. Coby meinte später, dass ihr schlecht würde, sie wusste nur nicht, ob von diesem Gestank oder vor Aufregung. Ich denke, es war wohl vom beidem eine gehörige Portion.

    Wir waren jetzt unfreiwillig umgezogen von Schiedam nach Barneveld in die Rudolph Stichting, wie die Einrichtung offiziell noch heute heißt. Die Fahrt vom Waisenheim zu einem neuen Abschnitt meines Daseins steht mir noch ganz vage im Gedächtnis. Eine gerade Straße, an beiden Seiten hohe Bäumen, Pappeln, sehr viele Pappeln.

    Die Straße wird wohl immer in meinem Gedächtnis bleiben. Es sind für mich eigentlich keine so bösen Erinnerungen an diese Rudolph Stichling. Na, vielleicht gibt es im Unterbewusstsein einen Stachel. Jedoch bin ich mir nicht wirklich bewusst, was das sein könnte. Es ist wohl mehr das Fehlen eines stabilen Fundamentes, auf das man sein Leben aufbauen kann. Und die Geschehnisse um meine Schwester Christa.

    Pastor R.J.W. Rudolph

    Am Ende dieser Straße war die Rudolph Stichting, genannt nach dem Erbauer und Leiter, Pastor R.J.W. Rudolph. 1911 kaufte Pastor R.J.W. Rudolph (1862-1914) mehrere Hektar Ackerland in der Gemeinde Barneveld (Niederlande) und gründete das Jugenddorf „de Glind. Hier sollten Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern leben durften oder konnten, ein Zuhause bekommen. Die Buchhaltung und die Verwaltung wurden ausgegliedert und von der Stiftung „de Glindhorst übernommen. In der ersten Zeit gab es erhebliche Probleme, auch – aber nicht nur – finanzieller Art.

    Der Pastor R.J.W. Rudolph ließ ein paar schlichte Bauernhöfe bauen und verpachtete die Höfe an Bauernfamilien ohne Hof und ohne Hoffnung je einen Bauernhof ihr Eigen nennen zu können. Das Ganze gegen eine geringe Pacht, jedoch mit der Verpflichtung mehrere Pflegekinder aufzunehmen und sie christlich zu erziehen. Auch damals wusste man: „Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern gut gemeint."

    Der Pastor und vor allem seine Nachfolger hatten jedoch nicht berücksichtigt, dass eine christliche Erziehung möglichst von Menschen vorgenommen werden sollte, die auch selbst christlich erzogen worden sind und vor allem, die das Christsein auch vorleben konnten und wollten!

    In dieser Gründungszeit – und auch später natürlich – war es nicht unwahrscheinlich, dass ein Bauernknecht mit seiner Angetrauten alles Mögliche versprochen hatte, nur um einen Pachtvertrag zu erhalten. Es braucht auch nicht allzu viel Fantasie sich vorzustellen, wie viele Menschen sich in der Zeit von ungefähr 1930 bis 1945 um einen Pachtvertrag bemüht hatten. Der Pachtvertrag war in der Anfangszeit der Rudolph Stichting auf unbestimmte Zeit ausgelegt und konnte nur bei nachgewiesenem Fehlverhalten gekündigt werden. Die späteren Statuten sahen sogar vor, dass der Betreiber des Hofes den Pachtvertrag mit allen Rechten und Pflichten an seine Söhne weitergeben konnte.

    Der Gründer (Pastor R.J.W. Rudolph starb im Jahr 1914 und leider verwässerten seine Grundgedanken komplett. Im Jahr 1927 war die Gemeinschaft insolvent. Achthundert Diakonien aus den Niederlanden waren aber davon überzeugt, dass diese Idee fortgesetzt werden sollte. Die Rudolf Stichting wurde gegründet und der Ortsteil Glindhorst wurde mitsamt Immobilien und lebendem Inventar für 325,000 Gulden gekauft. Das Konzept wurde nicht geändert, das Dorf wurde nur vergrößert. Später musste dann nochmals die Kirche und Ende der Fünfzigerjahre der staatliche Jugendschutz wieder um finanzielle Hilfe gebeten werden.

    Von jetzt an wurden alle Pachtverträge mit den möglichen Landwirten, die gleichzeitig Pflegeeltern waren oder werden wollten, neu ausgehandelt. Es hatte anscheinend zu viele Beschwerden gegeben seitens der Schule, der leiblichen Eltern oder anderen Familienmitgliedern der Pflegekinder.

    Das eigentliche Ziel, ein wirklich christlich orientiertes Ehepaar in die Funktion von liebevolle Pflegeeltern einzusetzen, die zugleich auch gute Bauern sein sollten, wurde nicht immer erreicht. Andere behaupteten sogar, es wurde meistens nicht erreicht. Bei der Einstellung und Verpachtung waren jetzt selbstverständlich mehrere Institutionen verantwortlich, unter anderem die Kirche und das Jugendschutzamt. Dass diese Konstellation nicht einfach war, versteht sich von selbst. Somit wurde eine Kommission gebildet, die diese Verantwortung übernehmen sollte.

    Es gab damit immer auch die Chance, die Verantwortung für Fehlbesetzungen auf den Höfen den anderen Beteiligten zuzuschieben. Dass die Pflegekinder per Saldo die Leidtragenden waren, stand jedoch nicht ganz oben auf der Wahrnehmungsliste der Verantwortlichen. Ich wäre immer noch bereit, an ihren guten Willen zu glauben, wenn nach dem Tag, der Christa in ihr Unglück stürzen sollte, eine dieser Institutionen ihre Verantwortung übernommen hätte. Meine Schwester Christa sollte durch die Ereignisse für ihr Leben traumatisiert werden.

    Gerade der „Jugendschutz" ist eine sensible Sache, die man doch manchmal etwas differenzierter betrachten sollte. Beim Jugendschutz gibt es immer mehrere Beteiligte. Die einen wollen Kinder beschützen, die anderen wollen die Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder los sein. Überdies sind auch noch solche Personen beteiligt, die nicht beschützen wollen, sondern andere Interessen haben. Ja doch, meine jüngere Schwester weiß das sehr wohl, aber darüber bitte später.

    Zusätzlich gibt es auch noch Beteiligte, die nicht beschützt werden möchten, jedenfalls nicht auf eine Art und Weise, wie wir das erfahren haben. Doch unsere Wünsche spielten überhaupt keine Rolle. Wir wollten nicht weg aus unserer vertrauten Umgebung, nicht wieder der Beweis dafür sein, dass der Jugendschutz bestens funktioniert, nicht wieder Menschen ermöglichen, ihre erzieherischen Fähigkeiten an uns zu testen. Erst Ende der Fünfzigerjahre änderten die Verantwortlichen für die Rudolph Stichting die Struktur dieser Jugendschutzstiftung.

    Es wurden Gruppenhäuser und Wohnhäuser für Familien errichtet, sodass viele Kinder auch an einem verhältnismäßig normalen Familienleben teilhaben konnten, das Grundprinzip wurde jedoch beibehalten. Noch heute, wenn ich eine ähnliche, mit Pappeln begrenzte Straße befahre, wird mir wahrhaft mulmig im Bauch und ich zwinge mich meine Gedanken auf schönere Dingen zu konzentrieren. Wenn mir das nicht gelingt, werde ich manchmal traurig. Es ist nicht einfach zu erklären, warum das so ist, einmal wird das unangenehme Empfinden vielleicht nachlassen. Ich hoffe es wenigstens. Es war für mich auch nicht nur alles unangenehm in dieser Zeit. Erst später habe ich festgestellt, dass es mir an Familienzugehörigkeit und elterlicher Liebe gefehlt hat. Essen und Trinken ist selbstverständlich wichtig, doch es ist sicherlich nicht alles im Leben.

    In der Rudolph Stichting

    „Willkommen in unserer schönen, christlichen und kinderfreundlichen Rudolph Stichting". So wären wir gerne empfangen worden von unseren Pflegeeltern, die Familie Boskamp, in unserem neuen, aber auch wieder zeitlich begrenzten Zuhause. Aber die zwei Menschen, die uns auf dem Hof empfingen, sagten zunächst gar nichts. Sie schauten uns nur grimmig an.

    Wir hatten uns brav nebeneinander hingestellt. Coby in der Mitte, Christa links und ich an Cobys rechter Seite. Man schaute uns an, als ob wir von einem anderen Planeten gekommen wären. Etwas Unbekanntes an uns musste diese beiden Menschen gewaltig gestört haben, denn sie schauten uns böse, aber zugleich auch unsicher an. Ich fragte Coby: „Warum sehen die uns so komisch an, haben wir etwas Böses getan?"

    Coby wollte mich wohl beruhigen und meinte: „Cees, die sind nicht böse, die sehen wohl immer so aus. Das war nicht sehr erhebend, aber eine weitere Aussprache mit Coby war nicht mehr erwünscht. Das dachte ich, weil der Mann seine Bibel auf den Tisch knallte und mich zum Fürchten böse ansah. Er meinte erzieherisch gelungen: „Halt die Klappe, hier und jetzt rede nur ich, Punkt. Die Ansprache begann so richtig herzerwärmend. Seine Botschaft an uns ging folgendermaßen weiter:

    „Als Erstes solltet ihr euch merken, dass wir uns euch nicht ausgesucht haben. Ihr seid uns zugeteilt worden und deswegen sind wir ab jetzt euer Pflegevater und eure Pflegemutter. Also Vater Boskamp und Mutter Boskamp. Ihr dürft aber auch Vater und Mutter sagen.

    So, Vater und Mutter! Halleluja, ist das toll! Jedoch das Beste sollte gleich anschließend auf uns abgefeuert werden. Die Botschaft an uns neue Hausbewohner ging weiter und sie lautete:

    „Ihr sollt nicht vergessen, wer ihr seit, wo ihr herkommt und warum ihr hier seit." Und genau das hätten wir drei auch gerne gewusst. Warum sind wir hier? Wieso hat die Polizei uns hierher bringen müssen?

    Die einleitenden Worte des Mannes mit der Bibel, versprachen einiges, nur nichts Gutes. Na ja, wenn man in einem Polizeiauto frei Haus angeliefert wurde, konnte das schon was zu bedeuten haben. Coby schaute die Pflegeeltern an und sagte dann voller Überzeugung, dass Oma Bonnes und Tante Tilly uns auch hätten versorgen können und wollen. Dies hätte sie wohl nicht sofort kundtun sollen. Es war nicht sehr hilfreich, denn die Pflegeeltern schauten uns recht säuerlich an. Der Pflegevater mit seiner Bibel in der Hand meinte dann aber nur noch:

    „Haltet die Klappe." Er war anscheinend ein Mann von wenig Worten.

    „Geht die Treppe nach oben und dann geradeaus in euer Schlafzimmer, wir rufen euch, wenn es was zu essen gibt." Oben angekommen fragten wir uns, warum der wohl die ganze Zeit die Bibel in der Hand hatte, denn gelesen oder zitiert hatte er dar­aus nicht. Wir einigten uns darauf, dass es wohl mehr Angeberei war. Er hatte uns wohl nur zeigen wollen, dass er des Lesens mächtig war.

    Das Schlafzimmer war nicht sonderlich groß, aber es reichte für uns. Und ich konnte nachts in Cobys Nähe sein. Mein Bett stand in einer Nische direkt unter der Dachschräge mit einem ziemlich schmuddeligen kleinen Dachfenster. Aufklappen konnte ich das nicht, aber durch die Ritzen kam überall ausreichend frische Luft herein. Am Fußende stand noch eine Art Kleiderschrank, der genau wie das Kabuff, welches sie hier Schlafzimmer nannten, seine beste Zeit schon

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