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TOD IM HOCHHAUS: Ein Krimi aus Mainz
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TOD IM HOCHHAUS: Ein Krimi aus Mainz
eBook251 Seiten3 Stunden

TOD IM HOCHHAUS: Ein Krimi aus Mainz

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Über dieses E-Book

Es begann mit einem hässlichen, bösartigen Hund. Als er den Reifen eines Fahrrads zerbiss, wurde er vom Besitzer, dem jungen Norbert Weber, erschlagen. Und dann fand man die alte Frau Kowalek, die der Tod ihres geliebten Köters fast um den Verstand gebracht hatte, ermordet in ihrer Wohnung auf.

Frau Kowalek hatte keine Freunde gehabt in dem modernen Hochhaus in Mainz, aber wer hatte sie derart gehasst, dass er sie in ihrer Wohnung erschlug?

Luisa Ferber, gebürtige Frankfurterin, lebte längere Zeit in Berlin, bevor sie in Ulm ansässig wurde.

Tod im Hochhaus erschien erstmals im Jahr 1983.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum26. Apr. 2021
ISBN9783748781196
TOD IM HOCHHAUS: Ein Krimi aus Mainz

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    Buchvorschau

    TOD IM HOCHHAUS - Luisa Ferber

    Das Buch

    Es begann mit einem hässlichen, bösartigen Hund. Als er den Reifen eines Fahrrads zerbiss, wurde er vom Besitzer, dem jungen Norbert Weber, erschlagen. Und dann fand man die alte Frau Kowalek, die der Tod ihres geliebten Köters fast um den Verstand gebracht hatte, ermordet in ihrer Wohnung auf.

    Frau Kowalek hatte keine Freunde gehabt in dem modernen Hochhaus in Mainz, aber wer hatte sie derart gehasst, dass er sie in ihrer Wohnung erschlug?

    Luisa Ferber, gebürtige Frankfurterin, lebte längere Zeit in Berlin, bevor sie in Ulm ansässig wurde.

    Tod im Hochhaus erschien erstmals im Jahr 1983.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    TOD IM HOCHHAUS

    ERSTER TEIL

    Es heißt, ein neues Haus verlangt die Geburt eines Kindes oder den Tod eines alten Menschen.

    Im neuen Universum-Center in der Römerstraße war bisher weder ein Kind geboren worden noch war ein alter Mensch gestorben. Das Haus wartete ungeduldig und böse auf den ihm gebührenden Tribut.

    Hausmeister Heilbronner und sein Hund nahmen den Fahrstuhl und fuhren hinauf zum zwanzigsten Stockwerk. Sie machten ihren täglichen Inspektionsgang.

    Ein Oberlichtfenster an der Treppe war über Nacht offen geblieben. Ein nächtlicher Regen wäre eine böse Überraschung gewesen. Meister Heilbronner stieß einen zornigen Laut aus. Rocco, sein Hund, legte die Ohren an.

    Die große Treppe schwang sich wie eine breite Wendel um den Fahrstuhlschacht. Auf dem Treppenabsatz machte sich ein ergrauter, unförmiger Kaktus im riesigen Messingtopf breit. Heilbronner wusste, wohin er gehörte. Er hob ihn auf und trug ihn zum neunzehnten Stock vor die Wohnung des Ehepaars Regenbusch, stellte ihn ihnen vor die Tür. Wenn sie beim Türöffnen darüber fielen, war es ihm auch recht. Auf den Treppen durfte nichts abgestellt werden. Alle Mieter wussten es. Sie versuchten es immer wieder. Wenn bei einer Katastrophe oder bei einem Brand das Zeug im Weg war, gab man ihm die Schuld.

    Er öffnete mit dem Sechskantschlüssel eines der Milchglasfenster an der Treppe und lehnte sich hinaus. Neben dem Motorhaus des Fahrstuhls horsteten die Turmfalken. Zwei Eier lagen im Nest. Heilbronner sah jeden Tag nach, ob es noch da war und betete, keiner der Penthouse-Mieter möge es entdecken.

    »Turmgefühl«, sagte eine Stimme hinter ihm, »ein veritables Turmgefühl, nicht wahr?« Zahnarzt Weinheber deutete mit den ausgelaugten Händen über die Dächer der Stadt. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht, so schön gewohnt wie hier im zwanzigsten Stock!« Sein mageres Gesicht lachte in hundert Fältchen, und sein Zahnarzt-Reklame-Gebiss leuchtete in reinstem Weiß.

    »Ich wohne im zweiten, und mir gefällt es auch«, sagte Heilbronner und überlegte zum hundertsten Mal, ob Zahnarzt Weinhebers Zähne wohl echt waren.

    »Recht haben Sie, recht haben Sie.« Der Zahnarzt ging schon weiter zum Fahrstuhl. »Aber abends müssen Sie da rausschauen, mein lieber Mann, abends! Das ist ein Erlebnis, ein veritables Erlebnis! Guten Tag!«

    Heilbronner kannte den Nachtausblick über die Stadt, die hellen Straßen, die leuchtenden Häuser, die dunkle Silhouette Sankt Martins und den spiegelnden Strom. Er hatte dieses Bild genauso gern im Tageslicht: das Braunrot und Schwarz der Dächer, das Grau und Bunt der Fassaden, das Grün und Braun der Anlagen, den Verkehr in den Straßen, die Schiffe auf dem Strom. Überall war Leben, Farbe, Betrieb.

    Der Hausmeister liebte seine Stadt am Fluss mit ihrem Dom, ihren alten Häusern, ihrer römischen Vergangenheit, und er liebte sie erst recht mit ihren neuen Häusern und Straßen, dem neuen Rathaus und der betriebsamen Fußgängerzone; vor allem liebte er das Universum-Center, das sein Haus war. Auf allen Postkarten, in allen Bildbänden wurde das Alte gezeigt, immer nur die alten Mauern, die alten Türme, die vergammelten Winkel und Ecken, als ob man sich seiner neuen Häuser schämte. Die Wolkenkratzer Amerikas galten Generationen als Sinnbild von Fortschritt und Reichtum. Nach dem Krieg bauten diejenigen, die überlebt hatten, ebenfalls Hochhäuser, beileibe keine Wolkenkratzer, aber ein paar Stockwerke höher und bequemer als die alten Häuser, und die Generation nach ihnen wollte sie am liebsten einreißen und die alten, unbequemen und dunklen Wohnstuben wiederhaben. Wir sind doch eine merkwürdige Nation!

    Der Hausmeister verriegelte das Fenster wieder, überprüfte die Lichtschalter und bemerkte stirnrunzelnd einen Berg von Zigarettenkippen in der entferntesten Ecke. Liebesleute schätzen die ungestörte Ruhe von Hochhaustreppen in der Nacht.

    Die Fahrstuhltür klappte. Rocco knurrte. Heilbronner blickte auf und lehnte sich dann abwartend gegen das Treppengeländer.

    Sie waren vielleicht siebzehn. Hatten die Schlafsäcke auf dem Rücken, in den Plastiktüten wohl ihre Verpflegung. Die Jeans saßen so prall, dass sie sich darin vermutlich nicht bücken konnten. Das Haar wucherte ihnen wild und furchterregend um Stirn und Kinn.

    »Na, wohin soll es denn gehen?«, fragte Heilbronner von seiner gewaltigen Höhe herab.

    Sie reckten die schmächtigen Schultern, hoben frech die Nasen. »Wir besuchen unseren Onkel, haben Sie was dagegen?«

    »So, den Onkel! Wer ist das?«

    Sie sahen sich an. »Zahnarzt Weinheber!«

    »Dritte Wohnung rechts«, sagte Heilbronner gemütlich. »So früh hat der aber noch keine Sprechstunde. Und er ist auch gar nicht da!« Er blieb immer noch stehen. »Wenn ihr aber auf dem Dach übernachten wollt, kann ich euch bloß sagen, mein Hund hat das nicht gern. Und ihr kommt da sowieso nicht rauf. Kein Zugang zum Dach, Herrschaften. Es geht nur durchs Motorhaus. Und da habe ich den Schlüssel!« Er klopfte auf seine Hosentasche. Rocco hob die dunkle Schnauze und zeigte seine kräftigen Zähne.

    Sie zogen die Backen ein, kauten lautlos. »Ich glaube, ihr fahrt lieber -wieder runter, was?«

    Sie sahen an ihm empor. Er ragte über ihnen wie ein Turm. Sie betrachteten seine Schultern. Seine Hände waren gewaltig. Rocco, der schwarze Schäferhund, stand bei seinen Knien und sah noch gewaltiger aus. Sie grinsten verlegen. »Na, dann gehen wir halt wieder. Nichts für ungut, Chef!«

    Heilbronner schaute ihnen nach. Ein Hochhaus hat doch eine merkwürdige Anziehungskraft, dachte er. Sie rümpfen die Nasen, schimpfen es Betonsilo, Bettenburg, Umweltverschandelung, aber an den Wochenenden versuchen ganze Heerscharen, dem Universum-Center aufs Dach zu steigen. Alle suchen sie das Turmgefühl. Sie kommen nie hinauf. Aber sie versuchen es immer wieder.

    Heilbronner ging langsam hinunter zum achtzehnten Stock, kontrollierte die Beleuchtung und schritt dann über den Flur zum anderen Ende, wo sich die Nordflügeltreppe um den zweiten Fahrstuhl wand. Es war noch sehr früh am Morgen. Hinter den Wohnungstüren regte sich wenig. Hin und wieder hörte man ein Radio mit den Frühnachrichten.

    Seine Mieter waren alle ordentliche Leute. Heilbronner hatte nicht viel an ihnen auszusetzen. Natürlich gab es immer einmal Ärger, Aufregung, Missverständnisse. Es wohnten zu viele alte Leute im Haus, zu viele Rentner, zu wenig junges Volk, erst recht keine Kinder. Es gab keinen Ärger mit Kinderlärm, dafür umso mehr durch die dröhnenden Lautsprecher der Radios und der Fernseher. Es gab zu viele Schwerhörige im Haus. Arme Leute gab es dafür auch nicht; die konnten sich die Mieten hier nicht leisten.

    Den meisten Kummer machten ihm die Vergesslichen. Sie vergaßen, die Schlüssel mitzunehmen, wenn sie fortgingen, und der Hausmeister musste nachts aus dem Bett, um ihnen die Haustür aufzuschließen. Am schlimmsten war es, wenn sie in der Wohnung den Schlüssel innen im Schloss stecken ließen. Sie mussten ihm das bezahlen. Nach dem dritten Mal weigerte er sich und ließ sie selbst den Schlosser holen. Danach kam es dann meist nicht mehr vor.

    Sie riefen mit aufgeregter Stimme nach dem Hausmeister und hatten es furchtbar eilig, aber wenn er ankam, hatten sie nicht selten vergessen, was sie von ihm gewollt hatten.

    Es war ihnen nicht beizubringen, bei jedem, der unten an der Haustür klingelte, erst über die Rufanlage zu fragen, wer da ins Haus wollte. Sie drückten sorglos auf den Öffner, und jeder Bettler, jeder Hausierer und jeder Neugierige konnte ungehindert hereinspazieren.

    Sie sicherten ihre Türen mit dreifacher Verriegelung, aber sie öffneten sie jedem Landstreicher und ließen sich von redegewandten Händlern die unglaublichsten Dinge aufschwätzen, für die sie keine Verwendung hatten.

    Die Polizei warnte in Zeitungen, im Radio und im Fernsehen: Lasst euch nicht übertölpeln, lasst keine Fremden in eure Wohnungen, kauft nichts an der Haustür, was mehr als drei Mark kostet, unterschreibt kein Papier!

    Sie lasen keine Zeitung, hörten kein Radio und schalteten den Fernseher erst ein, wenn die Nachrichten und die Warnungen der Polizei vorüber waren.

    Sie zahlten für dieses Nichtbeachten mit verrückten Ratenkäufen überteuerter Waren, die sie nicht brauchten, mit dem Verlust von Wertsachen und Geld, gelegentlich mit dem Leben.

    Bettler, Hausierer und ähnlich lästige Zeitgenossen pflegten mit dem Fahrstuhl zum zwanzigsten Stockwerk hochzufahren; von dort aus klapperten sie dann gemächlich und bequem Tür für Tür auf den Etagen ab, jederzeit im Trocknen, im Winter noch im Warmen, und wenn sie zum Parterre kamen, hatten sie gut einen Straßenzug hinter sich gebracht. Mit leeren Händen ging keiner weg.

    Heilbronner hob die schweren Schultern. Er verhinderte, was möglich war. Kindermädchen für die Mieter war er nicht. Aber sie kamen nach dem Schaden natürlich zuerst zu ihm und beschwerten sich.

    Er las im Vorübergehen die Namensschilder. Gelegentlich schlug ein Hund an. Rocco antwortete nicht. Der andere gab sich zufrieden. An einigen Türen sträubte sich das Fell in Roccos dunklem Nacken. Er roch die Katzen.

    Heilbronner sah nach, ob nirgendwo die Schlüssel draußen steckten - es kam oft genug vor. Der Leichtsinn seiner Mieter kannte keine Grenzen. Selbst die Tür ließen sie hin und wieder über Nacht offenstehen. Sie hatten Dreifachriegel innen, aber sie benutzten sie nicht!

    Im sechzehnten Stock Kapitän Walter, längst außer Dienst, aber er fuhr immer noch mit seiner Frau um die Welt, mit dem Flugzeug. Drei Tage Penang, drei Tage Manila, drei Tage Kapstadt und drei Tage Santo Domingo. Dann waren sie wieder da.

    Im fünfzehnten Regierungsrat Bergmann, nette Leute, alt natürlich, aber von der Sorte, die nicht vergesslich war. Sie blieben für sich, hatten nicht einmal einen Hund, der anderen Hundebesitzern Gelegenheit geboten hätte, sich mit ihnen zu unterhalten. Wenn man keinen Hund hat, braucht man in einem Hochhaus mit keinem Menschen zu reden. Die Fahrstühle ließen gerade Guten Morgen oder Auf Wiedersehen zu, schon stieg man wieder aus. Die Leute im zwanzigsten Stock hatten keine Ahnung, wie die Leute im achtzehnten hießen.

    Bergmanns gegenüber wohnte Frau Marker, die Hebamme.

    Alle paar Monate hatte sie einen neuen Liebhaber. Immer waren es blutjunge Kerlchen. Immer sah man den Bürschchen auf einen Kilometer Entfernung an, dass sie nichts taugten und Frau Marker nur ausnutzten. Nun, wenn es ihr Spaß machte! Heilbronner war nicht dazu da, auf sie aufzupassen...

    Frau Kiel und Sohn im dreizehnten. Charmante Frau, Kleptomanin, stahl wie eine Elster. Der Sohn brachte alles zurück oder bezahlte. Oft genug kam er damit zum Hausmeister, wenn er nicht wusste, woher es stammte. Keiner wollte etwas mit ihr zu tun haben. Keiner ließ sie in die Wohnung. Die Geschäftsleute der Ladenzeile fürchteten sie wie die Pest, und das Personal wich ihr nicht von der Seite, wenn sie kam. Schlimm, schlimm, aber sie schienen Geld wie Heu zu haben! Der Sohn bewachte die Mutter und hatte keinen Beruf. Leute gab es!

    Bei Einzles im zwölften lag der Scheuerlappen auf der Fußmatte. Sie waren Schwaben, und die Frau war ein Putzteufel, wie er im Buch steht. Sie lief nur im Hauskittel und mit dem Kopftuch herum. Hin und wieder sah man den Ehemann. Er war die meiste Zeit auf Montage im Ausland. Wenn er im Land war, putzte sie nicht. Aber sobald er wegfuhr, fing sie wieder damit an. Sie putzte nur ihre Wohnung, nie sich selbst. Wie lange sie das wohl treiben würde?

    Er ging jedes Stockwerk ab. Im zehnten hatte einer die Glühbirnen der Treppenbeleuchtung ausgeschraubt. Es kam immer wieder vor. Im achten hatte einer sein Fahrrad auf dem Flur neben der Wohnungstür abgestellt. Heilbronner schulterte es und nahm es mit. Er würde es im Fahrradkeller abstellen; sein Besitzer würde es dort suchen.

    Ehepaar Pützke im siebten Stock: Er kochte und scheuerte und wusch die Wäsche, wenn er von der Arbeit kam. Sie tat nichts. Es musste ihm Spaß machen, sonst würde er es wohl nicht tun. Es ging den Hausmeister jedenfalls nichts an.

    Im sechsten standen jahraus, jahrein vor der Tür der Nordwohnung über Nacht die Joggingschuhe des Bewohners. Sie mussten Größe sechsundvierzig sein und wurden nie gestohlen.

    Im fünften Stock des Nordflügels forderten an den Wänden des Treppenhauses wilde Parolen zum Totschlag aller Kapitalisten auf, und im dritten Stock des Südflügels verkündeten Riesenbuchstaben schlicht: Ich bin gegen alles!

    Heilbronner hatte sehr viel Hochachtung vor unserer Chemie. Sie hatte das Mittel erfunden, das derartige Inschriften auf Mauern, Wänden und Straßen schnell, sauber und mühelos verschwinden ließ. Heilbronner würde seinen Vize, Herrn Lippert, damit beauftragen. Der pflegte mit seiner Minikamera so was erst zu fotografieren, ehe er es vernichtete. Wenn er es einmal wirklich als Buch veröffentlichte, wie er vorgab, würde sicher die Kunst der Treppe daraus.

    Im zweiten Stock wohnte Heilbronner selbst. Hier gab es selten Ärger. Die Froweins waren die meiste Zeit unterwegs; die Zwillinge - der Hausmeister schmunzelte - waren die nettesten Mädchen der Welt; die Vasalls - er schmunzelte stärker Frau Weber, die Musiklehrerin; Frau Kowalek mit ihrem hässlichen Hund; die Witzelbachs - lauter nette Leute. An den Mietern des zweiten Stocks gab es nichts auszusetzen.

    Er überging den ersten Stock. Die Versicherung und die Bausparkasse, die dort ihre Büros hatten, ließen sich von ihren eigenen Leuten bewachen. Er fuhr hinunter zum Erdgeschoss, und gerade, als er aus dem Fahrstuhl treten wollte, sah er einen Besucher warten, bei dessen Anblick der Hausmeister schon riechen konnte, von welcher Art dieser Bursche war: Klingelfahrer von der gerissensten Sorte! Den hatte wieder einmal eine bequeme Hausfrau hereingelassen?

    Heilbronner versperrte mit seiner massigen Gestalt dem unerwünschten Besucher den Zugang zum Fahrstuhl, ließ die Tür hinter sich zufallen und stellte das Fahrrad ab. »Rocco«, sagte er, und Rocco, mit genau der gleichen guten Nase wie sein Herr ausgestattet, stellte sich tonlos hinter dem Fremden auf. »Na, wohin willst du denn?«, fragte der Hausmeister, der solche Leute nicht mit Sie anredete. »Zum zwanzigsten Stock, wie? Und wohin da?«

    Genau wie die Wandersleute, die auf dem Dach zu kampieren versuchten, hatte auch der Fahrensmann das Schild neben der Haustür gelesen. »Zum Zahnarzt Weinheber«, erklärte er freundlich. »Man wird doch wohl noch zum Zahnarzt gehen dürfen?«

    »Gehen, das ist das richtige Wort«, meinte Heilbronner vergnügt. »Das läufst du, Bruderherz, Stufe für Stufe! Rocco!«

    Der Stoß einer Hundeschnauze in die Knie, Heilbronners harte Hand um seinen Oberarm - der Besucher sah sich plötzlich auf der Treppe. »Los, mein Bester, laufen, zwanzig Stockwerke hoch und wieder runter«, forderte Heilbronner. »Auf, auf, willst du vielleicht den Hosenboden verlieren, oder sonst noch einiges?«

    »Was fällt Ihnen ein, ich zeige Sie an!«, zeterte der Klinkenputzer.

    »Gewiss, gewiss, aber erst nachher, mein Lieber; nachher gehen wir zur Polizei! Die freut sich immer, wenn sie Kerle wie dich sieht!«

    Heilbronner war in Form, der Bettler weniger. Der Hausmeister nahm gemächlich immer zwei Stufen auf einmal. Sein Opfer fing nach fünf Stockwerken an zu stolpern, keuchte, schwitzte. Wenn der Bettler stehenbleiben wollte, spürte er die scharfen Zähne Roccos am Hinterteil. »Los, weiter!« hetzte Heilbronner, »bloß keine Müdigkeit vorschützen! Ich hab’ nicht den ganzen Morgen Zeit, mit dir hier spazieren zu gehen!«

    »Ich hab’s am Herz«, beteuerte der Mensch, »ich hab’ ein Emphysem! Wenn ich tot umfalle, sind Sie schuld!«

    »Ich nehm’s auf mich«, versprach Heilbronner. »Wo wohnt denn deine Witwe?«

    Zwanzig Stockwerke, zwischen jedem Stockwerk sechzehn Stufen, sind eine gewaltige Höhe. Selbst Postboten scheuen davor zurück, erst recht Bettler, die körperliche Anstrengungen fürchten wie Seifenlauge.

    Stöhnend, ächzend, schweißgebadet, dampfend wie ein Thermalbrunnen kam der Geschundene oben an. Er ließ sich auf die Treppenstufen vor den Dachwohnungen fallen. »Mein Herz, mein Herz«, wimmerte er und schnappte nach Luft. »Meine Knie! Das ist Tierquälerei! Ich zeige Sie an!«

    »Ich geh’ ja mit«, versprach Heilbronner zuversichtlich. »Auf, immer noch keine Müdigkeit vorschützen. Leute wie du rennen doch den ganzen Tag über die Treppen, oder? Jetzt geht es runter, das ist leichter, Freundchen! Und dann gehen wir zur Polizei! Hast du überhaupt so was wie einen Gewerbeschein?« Er packte den Burschen bei der Schulter und stieß ihn die Stufen hinunter, dass er beinahe fiel. Rocco war ihm bereits an den Fersen. »Ich nehme den Fahrstuhl; warte unten auf mich!«

    Der Bettelmann rannte über die Teppen, Rocco rannte mit.

    Als Heilbronner unten ankam, war der Gast schon verschwunden. Rocco wedelte befriedigt mit der Rute. Das war eine Hatz, was? Schade, dass er dem Kerl nicht die Hosen hatte herunterreißen können. Aber sein Gebieter erlaubte dies unverständlicherweise nicht. Rocco gab die Hoffnung nicht auf. Einmal würde es erlaubt sein! Bei dem Gedanken an dieses Fest wedelte Rocco stärker. Er würde dann schon dafür sorgen, dass die Sache nicht unblutig ausging.

    Heilbronner schulterte das Fahrrad und brachte es zum Radkeller. Danach war es Zeit für die Morgenzeitung und das Frühstück.

    Auf der Straße betrachtete er nachdenklich die zwanzigstöckige Front seines Hauses. Im blauen Morgenhimmel segelten die Turmfalken. Sie rüttelten ihr Gefieder und stürzten wie braunrote Pfeile zwischen die Bäume und Büsche der Grünanlagen. Aber der Hausmeister hatte keinen Blick für die Vögel. Am elften und dreizehnten Stock rosteten die Balkonträger durch den Putz, und im sechsten Stockwerk würde es auch nicht mehr lange dauern, bis man es sah. Die Hausverwaltung würde Zustände kriegen, wenn er das

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