Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Sonne, Mond und Kornfeld
Sonne, Mond und Kornfeld
Sonne, Mond und Kornfeld
eBook683 Seiten9 Stunden

Sonne, Mond und Kornfeld

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Tbilissi 1968: Die Mafia ist mächtig, der Staat korrupt. Mitten in die Machenschaften der georgischen Mafia gerät der siebzehnjährige Dschude. Lebenshungrig, ehrgeizig und verliebt, wird er eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen hat. Das Urteil: Straflager in Ostsibirien. Was dann folgt, ist eine abenteuerliche Odyssee, die den jungen Dschude quer durch Sibirien, durch russische Straflager und Gefängnisse führt. Tödliche Kälte und Tuberkulose sind dabei die geringsten Gefahren, denen Dschude zu trotzen hat. Als er Jahrzehnte später zurückkehrt, stolpert er in ein völlig anderes Tbilissi: Das Land ist unabhängig, und mit der Rosenrevolution bricht eine neue Ära an.

Ein bildgewaltiges Panorama über das Georgien der 1970er Jahre bis in die Gegenwart - unmittelbar und atemlos erzählt. Und dabei nicht zuletzt die Geschichte einer großen Liebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum24. Okt. 2023
ISBN9783863913984
Sonne, Mond und Kornfeld

Ähnlich wie Sonne, Mond und Kornfeld

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Sonne, Mond und Kornfeld

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Sonne, Mond und Kornfeld - Temur Babluani

    1

    Anfang Sommer 1968 wollte meine einzige Hose endgültig nicht mehr bis zu den Knöcheln reichen und ließ meine bloßen Waden sehen. Zudem war der Hosenboden so abgewetzt, dass ich mich vorsichtig hinsetzen musste und beim Aufstehen immer prüfend darüberfuhr, ob er noch ganz war. Geld für ein neue Hose hatte ich nicht. Mein Vater hatte mir trotz meiner Bitte keins gegeben, die Hose würde es noch tun, ich solle eben pfleglich damit umgehen. Ich hatte also keine Wahl und auch keine Zeit zu verlieren. Ich musste mir selbst was einfallen lassen.

    Spätnachts nahm ich die Straßenbahn über die Woronzow-Brücke und stieg an der katholischen Kirche aus. Von dort bis zum Siebten Krankenhaus ließ ich keinen einzigen Innenhof aus: Ich ging überall rein und wo immer Wäsche hing, musterte ich sie aufmerksam, aber eine Hose konnte ich nirgends entdecken.

    Das wunderte mich. Was ist nur los? Wo sind die Männer alle hin? Oder brauchen die keine Hosen mehr?

    So weit von zuhause weg auf die Suche war ich deshalb gegangen, weil es zu riskant gewesen wäre, in meinem Viertel eine Hose zu stehlen. Denn was hätte ich machen sollen, wenn ihr Besitzer sie erkannt hätte? Ich hätte nur wieder ohne Hosen dagestanden.

    Beim Krankenhaus ruhte ich mich ein wenig aus. In meiner Hemdtasche hatte ich noch zwei schöne Kippen; ich rauchte beide auf. Dann ging ich rechts den Hang hinauf und trat durch einen hohen Bogengang in einen kleinen Innenhof. Dort stand ein fünfstöckiges altes Backsteingebäude. In keinem der Fenster brannte Licht, nur über dem Eingang flackerte eine schmutzige Lampe.

    Auf einem Balkon des obersten Stocks machte ich in der Dunkelheit die Konturen einer Hose an einer Wäscheleine aus und freute mich. Hinaufzukommen wäre nicht einfach, aber ich überlegte nicht mehr lange, zog die Schuhe aus, ließ sie unten an der Mauer und begann vorsichtig das Regenrohr hochzuklettern, versuchte keinen Lärm dabei zu machen.

    Ich war beim zweiten Stockwerk angelangt, als mein zerschlissener Hosenboden platzte und in Fetzen ging. Unterwäsche trug ich nicht und die ohnehin kühle Nacht machte sich empfindlich bemerkbar. Zum Glück, dachte ich, ist mir so was nicht bei Tag passiert.

    Endlich auf der Höhe des Balkons der obersten Etage angekommen, stockte mir der Atem: Aus der Nähe war klar erkennbar, dass an der Leine eine Jeans trocknete. Die waren damals in Tbilissi eine große Seltenheit; Jeansträger waren nur vereinzelt anzutreffen. Und erst seit kurzem waren Jeans im jüdischen Viertel für teures Geld zu haben.

    Ich langte nach dem Fenstersims, suchte zwischen den Backsteinen nach einem festen Griff für meine Finger und einer Stelle, wo ich mich auf Zehenspitzen halten konnte, und erreichte so, mich an der Mauer entlanghangelnd, den Balkon. Ich schwang mich über das Geländer und kauerte mich einen Moment hin.

    Es gibt Augenblicke, in denen Stille mit nichts zu vergleichen ist.

    Vorsichtig löste ich die noch feuchte Jeans von der Leine, dachte aber gar nicht daran sie anzuziehen, sondern knotete sie mir um die Taille und machte mich auf den Rückweg. Ich kam sicher unten an, schlüpfte wieder in meine Schuhe, verließ den Hof durch den Bogengang und spurtete die Straße entlang. Straßenlampen mied ich und hielt mich an die dunklen Stellen.

    Es dämmerte schon fast, als ich unser Viertel hochging und am Eingang des Parks ein wenig verschnaufte. Die Nacht war nicht schlecht gelaufen. Ich fühlte mich bereits als reicher Mann. Wen ich jetzt unbedingt sehen musste, war Chaim. Ich hoffte inständig, dass er zuhause war.

    Wir wohnten in benachbarten Häusern. Beide vierstöckig und mit dem gleichen dicken Blech gedeckt. Wir hatten einen großen Gemeinschaftsinnenhof, in dem wir als Kinder Fußball spielten und wo die Welt für mich ihren eigentlichen Anfang hatte.

    Im Unterschied zu Chaims Haus hatte das unsere vom Innenhof bis zum Dachboden eine Wendeltreppe. Diese Treppe ging ich hoch, durchquerte den Dachboden, stieg aufs Dach und schaute über die Stadt. Am Horizont gegen das Tbilisser Meer färbte sich der sonst noch dunkle Himmel rosig. Am Fuß des Arsenalbergs rollte ein langer Güterzug in Richtung Aserbaidschan. Das Räderrattern war bis zu uns herüber zu hören.

    Ich wechselte auf Chaims Hausdach und blieb beim Taubenhaus stehen. Die Vögel begannen zu gurren und zu rucken. Der Taubenschlag mit den insgesamt dreißig Tauben gehörte Chaim und mir gemeinsam. Es war ein wirklich schöner Anblick, wenn sie alle auf einmal in den Himmel stiegen und über dem Viertel kreisten.

    Innegehalten hatte ich deshalb, weil ich im obersten Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses hinter einem sonst dunklen Fenster in sekundenlang schwach aufglimmendem Licht Tscharlika erkannte, der sich eine Zigarette anzündete. Er war nicht allein: Neben ihm hielt ein kahlköpfiger Mann einen Fotoapparat auf Chaims Fenster gerichtet. Scheißspitzel!, dachte ich. Sicherheitshalber duckte ich mich hinter den Taubenschlag und zog mich auf die Hofseite zurück.

    Dieser Tscharlika war neu zugezogen und kaum zwei Monate in unserem Viertel; er gab sich als Eisenbahningenieur aus und setzte, noch bevor du ihm guten Tag sagen konntest, immer schon ein Lächeln auf. »Das ist mal ein anständiger Mann!«, hatte mein Vater gesagt, und zwar deswegen, weil er ihm fürs Stiefelflicken statt der fünf Rubel sieben bezahlt hatte.

    Ich ging das Dach entlang und spähte in den Innenhof. Niemand zu sehen. Ein Fensterchen von Chaims Glasveranda stand offen. Ich hangelte mich an der Regenrinne zu dem Fenster, kroch hinein und ließ mich an der Fensterfront zu Boden, wo ich eine Weile still verharrte, bevor ich auf Zehenspitzen auf eine halboffene Tür zuging. Dahinter hörte ich Leute reden.

    Ich lugte vorsichtig in die Wohnung. Am Tisch saßen Chaims Onkel zusammen mit einem älteren Mann und tranken Tee. Das war alles, sonst passierte nichts, und ich war ein wenig enttäuscht.

    Warum hatten die beiden Scheißkerle mit dem Fotoapparat am Fenster gestanden?, fragte ich mich und blieb, für alle Fälle, weiter eine Weile lauschend stehen, aber ich hörte nichts Weltbewegendes. Sie redeten über die Preise von frisch eingetroffenem Gemüse.

    Ich trat den Rückzug an, drehte mich um und schreckte zurück. Vor mir stand ein großgewachsener, bärtiger Mann und lächelte mich an. Wie ein so großer Mann sich so leise anschleichen konnte, war mir ein Rätsel.

    Ich lächelte ihm ebenfalls zu und sagte augenzwinkernd: »Ich bin Chaims Kumpel.«

    »Weiß ich. Du heißt Dschude und bist der Sohn von Gogia, dem Schuhmacher.«

    Obwohl ich den Mann zum ersten Mal sah, wusste er nicht nur meinen Namen, sondern auch den meines Vaters und dessen Beruf dazu!

    »Und wer sind Sie?«, fragte ich.

    »Ein Verwandter von Chaim«, erwiderte er und deutete dann auf die Jeans. »Die lässt sich gut verkaufen.«

    »Wollen Sie sie nehmen?«

    »Nein, mit Verkauf hab ich nichts zu tun.«

    Chaims jüngster Onkel kam an die Tür. Dieser mochte mich nicht; er hielt mich für einen Unglücksvogel und er machte ein grimmiges Gesicht, als er mich hinter dem Bärtigen erblickte.

    »Wo kommt der denn her?«, fragte er.

    »Er ist vor zwei Minuten durchs Fenster geklettert.«

    Chaims Onkel wurde wütend. »In diesem Haus wohnt nicht nur Chaim allein.«

    Ich zog den Kopf ein und steuerte auf Chaims Zimmertür zu.

    »Verzieh dich!«, rief er mir nach.

    Ich tat, als hätte ich nicht gehört. Ging die verglaste Veranda entlang und öffnete die massive Eichentür. Chaim schlief auf dem Rücken ausgestreckt in seinem Eisenbett; seine Füße schauten unter der dünnen Bettdecke hervor. Als ich ihn an den Sohlen kitzelte, erwachte er sofort und hob den Kopf.

    »Ich bin’s.« Ich machte Licht, knotete die Jeans um meine Taille auf und zeigte sie ihm.

    »Prima«, sagte er anerkennend, um dann den Blick auf meine zerrissene Hose zu heften. »Brauchst du eine Hose?« Er hatte schon begriffen, warum ich da war.

    »Ja«, sagte ich.

    Er überlegte. »Also gut, nimm meine. Aber um drei Uhr musst du sie mir wiederbringen.«

    Es war nämlich so, dass auch Chaim bloß eine einzige Hose besaß.

    »Du hast sie eher wieder«, versprach ich.

    Während ich die Hose wechselte, erzählte ich ihm, was ich vom Dach aus gesehen hatte. Er hörte mir aufmerksam zu, kniff dann die Augen zusammen und begann über Tscharlika herzuziehen.

    »Was glaubst du, warum die dich ausspähen?«

    »Frag meine Onkel, die werden’s dir sagen. Sie haben nichts zu verheimlichen.«

    Mir kam der Verdacht, dass das Ganze für ihn überhaupt nichts Neues war.

    »Danke für die Hose«, sagte ich. Was anderes gab es ja nicht zu sagen.

    »Lass diesen alten Lumpen nicht hier liegen, weg damit!«

    Ich hob die Überreste meiner Hose auf und ging.

    »Dass du dich ja nicht verspätest!«, rief er mir nach.

    2

    Im jüdischen Viertel klapperte ich alle Gebrauchtwarenhändler ab, die ich kannte. Mein Schätzpreis für die Jeans war hundert Rubel.

    »Und wir? Was liegt bei dem Preis für uns noch drin?«, hörte ich überall. Zwei Stunden verlor ich auf diese Weise, bis ich schließlich zum ersten Verkäufer zurückkehrte. Er gab mir achtzig Rubel und ich machte mich zum Nawtlughi-Markt auf.

    Der Markt in Nawtlughi war damals der billigste der ganzen Stadt. Zuerst kaufte ich mir eine Hose, zog sie an und atmete erleichtert auf – geschafft! Danach probierte ich ein blaues Hemd; es passte wie angegossen, außerdem gefiel mir die Farbe; ich knöpfte es zu und bezahlte. Dann wechselte ich zu den Schuhständen und schlüpfte in Schnürstiefel, von denen ich bisher nicht einmal zu träumen gewagt hätte.

    Meine alten Schuhe waren fünfmal geflickt; ich hatte sie mit Vaters Werkzeug eigenhändig repariert. Zweimal hatte ich sie sogar größer gemacht, sodass sie kaum mehr etwas mit Schuhen gemein hatten; aber es war immer noch besser, als barfuß herumzulaufen. Jetzt warf ich sie zusammen mit meinem alten, zerrissenen Hemd in eine Mülltonne.

    Für Manuschaka hatte ich ein »Carmen«-Eau de Cologne kaufen wollen. Während ich die Parfüms suchte, entdeckte ich jedoch ein weißes, mit blauem Fliedermuster besticktes Wolljäckchen, das mir gefiel; ich überlegte nicht lange, sondern bat die Verkäuferin es mir einzupacken.

    Ich war schon auf dem Rückweg, in der Straßenbahn, als ich bemerkte, dass ich Chaims Hose hatte liegenlassen. Nichts zu machen, ich musste noch einmal zurück.

    Der Verkäufer war keine zwei Jahre älter als ich. »Was für eine Hose? Hier ist keine Hose. Hier jedenfalls hast du sie nicht gelassen.«

    Dabei erinnerte ich mich genau, wie ich sie auf der Theke abgelegt hatte. »Streng dein Hirn an, sonst fackle ich dir den Laden ab!«, sagte ich.

    Sein Kollege zog Chaims Hose schließlich aus einer großen Kartonschachtel.

    »Ist sie das?«

    Ich nickte. Er wickelte sie in Papier und gab sie mir. Den Jungen rüffelte er: »Was soll das, wegen so ’nem Fetzen suchst du Streit?«

    Es war ein Uhr, als ich einem kleinen Nachbarsjungen Chaims Hose unter die Achsel steckte und ihm befahl, sie Chaim zu bringen. Ich selbst machte mich auf den Weg zu Manuschaka.

    In unserem Viertel gab es einen Friseur namens Garik, und Manuschaka war die Tochter dieses Garik.

    Garik hatte auch einen Sohn, Suren. Er war sieben Jahre älter als Manuschaka und ich, saß immer im Friseursalon herum und las Zeitung. Manchmal schor er kleinen Jungen das Haar, an die Größeren ließ Garik ihn nicht heran. »Wenn du ein bisschen gescheiter bist, dann darfst du«, sagte Garik immer.

    In Manuschaka war ich seit dem Kindergarten verliebt. Später lernten wir immer zusammen, aber am Ende der sechsten Klasse kassierte sie in allen Fächern außer Betragen eine Zwei und ging von der Schule ab. Ich schaffte es irgendwie bis zur letzten Klasse und hatte aktuell nur noch eine Prüfung offen, Aufsatz in Georgisch. Falls ich den schrieb, wie es von uns erwartet wurde, hätte ich das Reifezeugnis in der Tasche.

    Ich traf Manuschaka schon unterwegs; sie wollte Brot kaufen gehen. Erst erkannte sie mich gar nicht und starrte mich an, dann wurde sie rot. So war es immer: Wenn sie mich sah, errötete sie.

    »Bist du das?!«

    »Zu dir wollte ich gerade«, sagte ich.

    Sie machte einen Schritt rückwärts und musterte mich. »Wenn du dir das Gesicht wäschst, stehen dir die Klamotten noch besser.«

    »Was hab ich denn im Gesicht?«

    »Deine eine Wange und das Ohr sind ganz schwarz.«

    Mir fiel ein, dass ich die Nacht zuvor das Regenrohr hochgeklettert war, und aus unerfindlichen Gründen war meine gute Laune plötzlich weg. Sie merkte es und sorgte sich sofort.

    »Was hast du?«

    »Alles in Ordnung«, erwiderte ich.

    Es war wirklich alles in Ordnung. Nach den Einkäufen waren mir noch fünfunddreißig Rubel geblieben; so viel Geld hatte ich noch gar nie besessen und so gut angezogen war ich auch noch nie gewesen. Ich würde mir das Gesicht schon noch waschen, war ja schließlich keine große Sache. Ich verstand nicht, was mit mir los war, und wunderte mich über mich selbst. Wenn ich später an die Begegnung zurückdachte, kam ich immer zu ein und demselben Schluss: Ich musste eine Vorahnung gehabt haben.

    Ich wickelte Manuschakas Geschenk aus und gab es ihr. »Hier, für dich«, sagte ich.

    Sie freute sich und lachte mich an, zog das Jäckchen über und hüpfte um mich herum. »Du bist ein Schatz!«, rief sie.

    Als wir am Friseursalon vorbeikamen, sah Garik durchs Fenster und bemerkte uns in unseren neuen Klamotten. Er war dabei, Rafik zu rasieren, und wagte nicht ihn warten zu lassen und zu uns herauszukommen; also hob er nur anerkennend die Brauen.

    Mir fiel auf, dass Rafik Manuschaka im Spiegel anstarrte, und es gab mir einen Stich ins Herz. Manuschaka jedoch sagte wie nebenbei: »Dieser Rafik schaut mich in der letzten Zeit mit einem irgendwie anderen Blick an.«

    »Und du?«, fragte ich.

    »Wo denkst du hin? Wenn ich den seh, wird mir übel.«

    Rafik war zwar kein Dieb im Gesetz, er hatte keinen Rang, aber im kriminellen Milieu verfügte er über ernst zu nehmende Autorität. Der Polizeikommissar unseres Viertels, Temur Tembriqaschwili, ließ ihn in Ruhe, als ob er ihn fürchtete. Es hieß, Rafik würde unten im jüdischen Viertel die illegalen Händler kontrollieren und damit abkassieren.

    Mir kam Trokaderos Ausspruch in den Sinn: »Nichts ist so durchschlagend wie ein Neun-Gramm-Geschoss«, und ich dachte verärgert: Wenn er wirklich etwas im Schilde führt, passe ich ihn irgendwo im Dunkeln ab und jage ihm eine Kugel in die Stirn.

    Manuschaka dagegen vertraute ich. Warum hätte ich ihr keinen Glauben schenken sollen? Ich konnte mich nicht entsinnen, dass sie mich je angelogen hatte. Sie war zwar nicht ganz so ein Simpel wie ihr Bruder, aber doch sichtlich unbedarft. Sie war so herzensgut und naiv. Ganz normal konnte das nicht sein. Aber ich glaube, genau darum liebte ich sie.

    Bevor wir uns vor der Bäckerei voneinander verabschiedeten, vereinbarten wir, abends, nachdem ich mich ausgeschlafen hatte, zusammen ins Kino zu gehen.

    3

    Zwischen der Bäckerei und dem Lebensmittelgeschäft befand sich eine Bude, die mit rostigen Blechplanen überdacht und vorn offen war. Unter dem Dach stand ein niedriger, in den Boden einzementierter Metalltisch. Hinter dem Tisch saß mein Vater und reparierte winters wie sommers unter halboffenem Himmel alte Schuhe. Er hatte mir sein Handwerk ebenfalls beigebracht und wenn er viel zu tun hatte, half ich ihm.

    »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, hatte er mir einmal gesagt, »ich hinterlass dir meine Werkstatt und mein Handwerk. Damit kommst du allemal über die Runden.«

    Meine Mutter war, wie viele andere während des Kriegs, zusammen mit einer lahmen Tante aus Russland geflüchtet. Die Tante starb bald darauf und meine Mutter blieb allein zurück. Dann lernte sie meinen Vater kennen und ich wurde geboren. Sprechen gelernt habe ich also mit der russischen Sprache. Der einzigen Fotografie nach zu urteilen, die von ihr geblieben ist, war Mutter eine schöne Frau, jedenfalls mir kam sie schön vor. Ich war vier Jahre alt, als sie eines Tages aus dem Haus ging und nicht mehr wiederkam. Sie hat uns verlassen. Ich erinnere mich, dass ich ständig in Richtung Tür sah und auf sie wartete, aber als Vater die Türen mit einer anderen Farbe neu strich, schwand die Erwartungsfreude.

    Vaters zweite Frau hieß Maqwala. Sie war frisch vom Land in unser Viertel gekommen und fing als Verkäuferin in der Bäckerei an. Zuerst trieb sie sich mit einem sympathischen Kurden herum, dann warf Tengoia ein Auge auf sie und verbot dem Kurden, sein Brot in der Bäckerei zu kaufen.

    Tengoia war stark, ein Baum von einem Mann, und arbeitete als Verwalter in der Badeanstalt hinter dem Zirkus. Er war ein tüchtiger Raufbold; Schwächere betrachtete er als Untermenschen. Im Viertel ging er sozusagen mit niemandem außer mit Rafik höflich um.

    Sie schlossen die Tür hinter sich ab, er und Maqwala, und ab die Post vögelten sie hinter der Theke. Ich habe es durchs Fenster selbst gesehen, wie sie vor den ausliegenden Brötchen, Maqwala mit hochgereckten Beinen, rhythmisch hin- und herwippten. Die ganze Zeit standen Leute draußen vor dem Laden, die Brot kaufen wollten. Na, was sollten sie machen, also warteten sie eben.

    Diese Maqwala hat mein Vater, vor dessen Augen das alles geschah, geheiratet. Mit meiner Mutter war er offiziell nicht verheiratet gewesen; deshalb war es ganz einfach: Sie gingen zum Standesamt und ließen sich trauen.

    Unsere Einzimmerwohnung hatte eine kleine Glasveranda; auf der schlief ich nach Maqwalas Einzug. Die Zeit verging, sie bekam erst einen Jungen, dann noch einen. In der Wohnung war kein Platz mehr, sodass ich in eine Abstellkammer unter dem Dach zog.

    Vater und ich brachten ein altes Eisenbett hoch, montierten es zusammen und stellten es unter dem Fenster auf. Nachdem ich den Zementboden gründlich gescheuert hatte, begann ich mein eigenes Leben; niemand störte mich und ich selbst kam ebenfalls niemandem in die Quere.

    Unten an der Wand entlang verlief eine dünne Heizröhre; im Winter konnte mir die Kälte nichts anhaben. Im Sommer, wenn die Sonne herunterbrannte, heizte sich das Blechdach aber dermaßen auf, dass es nicht zum Aushalten war. Sonst, bei anderem Wetter, war es nicht schlecht dort oben, besonders nicht, wenn es regnete.

    Jetzt öffnete ich die Tür zu meiner Kammer, zog die neuen Kleider aus und hängte sie sorgsam über den Stuhl. Bevor ich mich hinlegte, kam mir die Idee, dass es nicht schlecht wäre, einen kleinen Teppich zu kaufen und vors Bett zu legen.

    Ich sollte mir das Gesicht waschen, fiel mir noch ein, aber auf dem Dachboden gab es keinen Wasseranschluss, ich hätte in den Hof hinuntergehen müssen. Doch die Müdigkeit war stärker. Macht nichts, dachte ich, ich kann mich auch nachher noch waschen.

    Ich schlief bis drei Uhr nachts durch. Als ich erwachte, hörte ich drüben am Arsenalberg bereits den Güterzug rattern und regte mich auf: Ich hatte Manuschaka versetzt, ich hatte doch mit ihr ins Kino gehen wollen.

    Im Hof drunten am Wasserhahn wusch ich mir lange das Gesicht. Wird schon alles weg sein jetzt!, dachte ich, drehte den Hahn zu und ging auf die Straße hinaus.

    Ich hatte keine Zigaretten und hielt auf dem Asphalt nach Kippen Ausschau. Unversehens langte ich auf dem Platz an, wo mein Vater seine Bude hatte, und sah Tengoia vor der Werkbank stehen.

    Tengoia führte gewöhnlich in der Morgendämmerung, ziellos durch die Straßen streifend, seinen Fiffi aus. Der Hund hieß Bestera. Tengoia liebte ihn, so sagte er selbst, wie einen Bruder. Zwar war er nicht mehr der Tengoia von früher, der mir die ganze Kindheit hindurch Angst gemacht hatte, aber ich verkrampfte mich doch. Er stand da und beobachtete mich. Ich blieb ebenfalls stehen und sah zu ihm hin. »Arschloch!«, beschimpfte ich ihn schließlich.

    Nun erzähle ich kurz, was es damit auf sich hatte:

    Je älter mein erster Halbbruder wurde, desto mehr begann er Tengoia zu gleichen. Schließlich wurde die Ähnlichkeit so unübersehbar, dass das ganze Viertel ihn »Tengoias Jungen« nannte.

    Bis meinem Vater ein Licht aufging, dauerte es etwas länger. Er veränderte sich, wurde reizbar. Ich erinnere mich, wie er auf seinem Schemel hockend, in der Hand den Hammer, fassungslos auf die durcheinanderliegenden kaputten Schuhe vor ihm starrte. Ich wusste, die Zweifel plagten ihn. Er tat mir leid, aber was konnte ich schon ausrichten, was hätte ich ändern können?

    Er begann zu trinken. Kaum war er mit der Arbeit fertig, leerte er nebenan im Lebensmittelgeschäft zusammen mit den übrigen Säufern eine Flasche Wodka und torkelte dann, Taschen mit sich schleppend, die Treppe zu unserer Wohnung hinauf. In den Taschen befanden sich sein Werkzeug und die Schuhe, die geflickt werden mussten. Die Beziehung zwischen ihm und Maqwala war schon vorher nicht gerade harmonisch zu nennen gewesen, aber nun wurde sie noch angespannter; jede Nacht tönte das Gebrüll meines Vaters und Maqwalas Gezeter zu mir herauf.

    In einer regnerischen Nacht kam er vollkommen nüchtern zu mir auf den Dachboden, setzte sich auf den Stuhl und fragte: »Deine Brüder, wem gleichen die eigentlich?«

    Ich tat keinen Mucks.

    »Sag schon, genier dich nicht!«

    »Und selber hast du keine Augen?«

    »Sag!«

    Ich stieg aus dem Bett, zog erst den Vergleich zwischen dem Älteren und Tengoia und ging dann zum Jüngsten über. »Erinnerst du dich an Waloda, den Spediteur der Bäckerei?«, fragte ich.

    Er wand sich auf eine Weise, dass mir klar wurde, er erinnerte sich nicht nur, er war schon einen Schritt weiter.

    »Er hatte einen Kopf wie ein Birne und die Nase reichte ihm bis zum Kinn – beschreib ich ihn korrekt?«

    Er erwiderte nichts.

    »Jetzt vergleich mal deinen Jüngsten mit ihm, los, vergleich ihn. Dieser Waloda hat sich hier schon so lange nicht mehr blicken lassen, dass die Leute ihn vergessen haben. Sonst hätten sie den Kleinen ebenfalls um den Vatersnamen gebracht.«

    Er sah mich irgendwie belämmert an, stand dann auf und sah durchs Fenster auf die dunkle Stadt.

    Ich hatte seltsam gemischte Gefühle: Einerseits tat er mir leid, anderseits stieß er mich ab. Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus und sagte: »Du bist so ein Einfaltspinsel, es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn auch ich nicht dein Sohn wäre.«

    Er schüttelte den Kopf und drehte sich um. »Deine Mutter war eine anständige Frau.«

    »Wenn sie so anständig war, warum hat sie uns dann verlassen?«

    »Ich hab sie betrogen, sie hat›s erfahren und mir nicht verziehen.«

    »Deshalb? Das kann ich irgendwie nicht glauben.«

    »Doch, deshalb.«

    Ich widersprach ihm nicht weiter.

    »Weißt du, mit wem ich sie betrogen hab? Mit der Masawezkaja.«

    Die Masawezkaja war Musiklehrerin und unsere Nachbarin aus der ersten Etage.

    Ich musste lachen.

    »Was ist? Damals ging sie noch nicht am Stock, sie hat blendend ausgesehen.«

    »Dann hättest du besser sie heiraten sollen, die hätte dich nicht sitzenlassen und wir hätten dazu noch ihre Dreizimmerwohnung, denn lange lebt die sicher nicht mehr.«

    Er ließ den Kopf hängen und starrte zu Boden.

    Im Nachhinein dachte ich, dass ihn diese Bemerkung vielleicht zur Vernunft gebracht hatte. Denn am nächsten Tag sammelte er seine Siebensachen zusammen und quartierte sich bei der Masawezkaja ein. Die nahm ihn mit Freuden auf.

    Anscheinend waren die Masawezkis polnische Barone gewesen, und der Stammbaum meines Vaters hatte den Ausschlag gegeben. »Fürst Giorgi!« – so redete ihn unsere Nachbarin an. Einmal sagte sie zu mir: »Die Andronikaschwilis, deine Vorfahren, waren namenhafte Feudalherren, die schon in den Werken byzantinischer und arabischer Historiker Erwähnung fanden. Du kannst stolz auf deinen Namen sein.«

    Es hätte mich mal interessiert, wie ich Stolz auf meinen Namen hätte ausdrücken sollen. Das ganze Land war mit roten Fahnen eingedeckt.

    Vater war fünf Jahre alt gewesen, als seine Eltern von den Kommunisten erschossen wurden; er wuchs im Kinderheim auf. Zum Glück lernte er das Schusterhandwerk und konnte sich so, wie er selbst sagte, über Wasser halten, sich ein Auskommen sichern.

    Obwohl Maqwala zuerst erleichtert schien – »Endlich bin ich den alten Nörgler los« –, lehnte sie vor Gericht die Scheidung ab und rührte die wohlwollende Richterin beinahe zu Tränen. »Ich bin bereit, ihm alles zu verzeihen und mich mit ihm zu versöhnen.« Sie hielt eine sehr beeindruckende Rede. Ich jedenfalls hätte ihr wahrscheinlich geglaubt, wenn ich nicht gewusst hätte, was für eine sie war. »Ich hab mein Lebtag nie einen anderen gehabt, die Kinder sind von ihm, aber wegen dieses alten Luders verleugnet er uns.«

    Was blieb ihr auch anderes übrig? Ihr Leben würde sich ändern, und diese Veränderungen verhießen nichts Gutes, sodass sie zurückgeschreckt war. Denn die Alimente, die mein Vater würde zahlen müssen, reichten nicht einmal fürs Essen, wie Eliko, die Krankenschwester, behauptete.

    »Ich bin gläubig und bete jeden Tag, dass er zur Vernunft kommt und zur Familie zurückkehrt«, sagte Maqwala.

    Schließlich gab die Richterin meinem Vater neun Monate Bedenkzeit: Nur wenn er nach dieser Frist immer noch bei seinem Entschluss bliebe, würde sie die Scheidung vollziehen.

    Vater war verärgert; er hatte vorgehabt, die Masawezkaja zu heiraten. Nicht nur zum Spaß – er war der Meinung, ihre Dreizimmerwohnung sei eine zweite Heirat durchaus wert.

    »Ist doch nicht schlimm«, beruhigte sie ihn. »Neun Monate sind nicht so eine lange Zeit, die gehen schnell vorbei. Und dann wird alles gut.«

    Wie ich später erfuhr, hatte Maqwala meinen Vater nach dem Gerichtstermin gebeten, sich mit ihr zu versöhnen, aber er war kategorisch bei seinem Nein geblieben. »Wenn wenigstens einer von mir wäre, könnte ich sagen, zum Teufel was soll’s, und dir verzeihen, aber so wie’s jetzt aussieht, nein, da gehen wir getrennte Wege.« Er verabscheute sie; wenn er sie sah, wurde er ganz blass. Ich konnte mich nur wundern: Als er sie heiratete, hatte er doch gewusst, was für eine sie war. Was konnte er da anderes erwarten?

    Meine Exhalbbrüder ließen sich ab und zu auf dem Platz blicken, beschimpften meinen Vater und bewarfen ihn mit Steinen. Aber nur, wenn ich nicht da war; sobald sie mich sahen, verdufteten sie.

    Maqwala ihrerseits ging weder mir noch sonst jemandem aus dem Weg; sie rückte nicht von ihrer Behauptung ab. »Hör auf mit dem dummen Zeug, sie sind deine Söhne«, sagte sie zu Vater. »Also sei so gut und kümmer dich um sie. Du weißt sehr wohl, dass sie alles Mögliche nötig haben.«

    Vater ignorierte sie, tat, als sähe und hörte er sie nicht. Ich fand heraus, dass die Masawezkaja ihn instruiert hatte, wie er sich verhalten sollte, und daran hielt er sich. Doch am Ende wurde es ihm trotzdem zu viel und er ließ Maqwala durch Krankenschwester Eliko eine Drohung ausrichten: »Sag ihr, meine Großmut ist erschöpft, sie soll sich hier nicht mehr blicken lassen, sonst schlag ich ihr mit diesem Hammer den Schädel ein.«

    Krankenschwester Eliko nahm ihre reparierten Latschen und ging – mit dem Resultat, dass am nächsten Tag Tengoia betrunken auftauchte und sich mit funkelnden Augen vor Vater aufbaute: »Was verbreitest du da für Gerüchte, du alter Esel? Wie kommst du drauf, dass ich der Vater von deinem rachitischen Jüngelchen sein soll?« Er tat, als sei das für ihn etwas vollkommen Neues und als hätte er das Gerede darüber noch nie gehört.

    Chaim und ich kauften nebenan im Lebensmittelgeschäft gerade Zigaretten, hörten sein Gebrüll und traten auf die Straße hinaus.

    »Was hast du gegen die arme Frau, dass du ihr Leben ruinierst? Wozu hast du sie geheiratet, wozu ihr Kinder gemacht? Ich sag dir, kein Wort mehr übers Geld. Du gibst ihr, was sie haben will, sonst mach ich dir das Leben zur Hölle.« Tengoia trieb es wirklich auf die Spitze.

    Auf Vaters Stirn und Glatze perlten dicke Schweißtropfen. Er stand auf und sagte mit fremd klingender Stimme: »Kommt nicht in Frage, ich geb der keine Kopeke!«

    In diesem Moment fiel mein Blick auf ein Foto meiner Mutter, das zwischen kaputten Schuhen und scharfen Messerklingen auf dem Tisch lag. Das Foto hatte vor Maqwalas Zeit an der Wand auf der Glasveranda gehangen und war dann verschwunden. Ich freute mich, es jetzt hier zu sehen. Wer weiß, welche Sehnsucht den armen Mann überkommen hatte, dass er das Bild wieder hervornahm.

    Bei Tengoia war mit allem zu rechnen. Wenn er nur das Bild nicht beschädigt, dachte ich. Ich trat an die Werkbank und wollte es an mich nehmen, aber ich kam nicht dazu. Denn Tengoia dachte wohl, ich wolle eines der Messer schnappen, um meinem Vater zur Seite zu springen, und versetzte mir einen Fußtritt. Sein Absatz traf mich in die linke Rippenseite. Der Schlag nahm mir den Atem, ich rang nach Luft. Als ich endlich aufkeuchte, verlor ich das Bewusstsein.

    Wie ich die Augen wieder öffnete, lag ich auf einem Sofa. Die Masawezkaja war bei mir. Erst erkannte ich sie gar nicht. Wer verdammt noch mal ist das?, dachte ich. Mir war schwindlig und die Seite tat mir weh. Später stellte sich heraus, dass zwei Rippen gebrochen waren. Mühsam setzte ich mich auf.

    »Chaim und ein paar Säufer haben dich hochgebracht«, sagte sie.

    Ich fragte nach meinem Vater.

    »Deinen Vater hat er nicht angerührt, aber die Werkstatt zertrümmert, das Dach herunter- und den Tisch herausgerissen.«

    In dieser Wohnung hatte ich nichts verloren. Ich stieg in meine Dachkammer, legte mich auf die rechte Seite und dachte darüber nach, wie ich es Tengoia heimzahlen könnte. Ich wusste, körperlich kam ich nicht gegen ihn an. Vielleicht könnte ich mich anschleichen und ihm einen Ziegel über den Schädel schlagen oder mir vom schieläugigen Tamas den Revolver leihen und ihn in den Fuß schießen, mit dem er mich getreten hatte.

    Dann hörte ich Schritte. Es war Manuschaka.

    »Wie geht’s dir?«, fragte sie besorgt.

    »Da, die Seite tut mir weh«, erwiderte ich.

    »Am Sonntag geh ich mit Mama in die armenische Kirche und verfluche diesen Tengoia.«

    Am Abend brachte mich Chaim ins Krankenhaus; damals war die Behandlung noch kostenlos. Zwei Tage blieb ich dort. Sie röntgten mich, legten mir Verbände an, instruierten mich schließlich, was weiter zu tun war, und entließen mich.

    Vater hockte in der instand gesetzten Werkstatt und nähte Schuhe.

    »Vielleicht hilfst du mir ein bisschen; ich hab einen Haufen Reparaturen.«

    »Wie denn? Ich kann mich kaum bewegen«, sagte ich.

    Am Abend brachte mir die Masawezkaja einen Topf heiße Suppe auf den Dachboden und schlurfte wieder davon. Sie wusste, wie man eine leckere Suppe kocht, und sparte auch nicht mit Schmand. Ich hatte die Suppe kaum alle gemacht, als die Tür aufging und Bemala, der Kurde, hereinkam.

    »Trokadero ist mit seiner Brigade vom Mtazminda rübergekommen. Die haben Tengoias Kopf gegen die Werkbank gedonnert und ihn gezwungen, sich zu entschuldigen. Ich hab noch nie jemand gesehen, der solche Dresche gekriegt hat. Dein Vater hat geschrien, sie sollten ihn in Ruhe lassen, der arme Teufel stürbe sonst noch!«

    Die Nachricht ließ mich meine Schmerzen vergessen und ich setzte mich auf.

    »Bevor er ging, hat Trokadero den Leuten rundherum verkündet, Dschude Andronikaschwili sei sein Bruder und wer ihn oder seinen Vater beleidige, bekomme es mit ihm zu tun. Das ist grade eben passiert. Ich bin direkt zu dir gerannt.«

    Was ich da hörte, erstaunte mich nicht. Chaim musste Trokadero gebeten haben, Tengoia eine Lektion zu erteilen, und der hatte ihm die Bitte nicht abgeschlagen. Wie sonst wäre ich dazu gekommen, »Bruder« genannt zu werden? Um mich kümmerte er sich einen Dreck, ich war ihm völlig egal.

    Danach hatte sich Tengoia den ganzen Winter über nicht mehr im Viertel blicken lassen. Ich jedenfalls war ihm nicht über den Weg gelaufen. Jetzt stand er da und beobachtete mich; auch ich rührte mich nicht von der Stelle. Falls er sich etwas herausnehmen sollte, bekam er es nicht nur mit mir, sondern auch mit Trokadero zu tun, das war klar.

    »Selber Arschloch«, erwiderte er auf meine Beschimpfung, aber dabei blieb es, denn er war sichtlich erschrocken. Er senkte den Kopf und ging hinkend, sich auf seinen Stock stützend, den Gehsteig entlang weiter.

    Sein Hund schien zu spüren, dass etwas in der Luft lag; er drehte sich um und kläffte mich wütend an, bevor er seinem Herrchen folgte, und bald waren beide um die Ecke verschwunden.

    Ich blieb allein zurück. Zu dieser frühen Morgenstunde lag das Viertel immer in tiefstem Schlaf.

    Mein Gesicht und Haar waren noch nass, weshalb ich erst gar nicht merkte, dass es zu regnen begonnen hatte. Im Licht der Straßenlaterne sah ich feine Tropfen aus der Dunkelheit fallen. Dann wurde der Regen stärker und ich suchte in einer Telefonzelle Zuflucht. Es schüttete. Das Wasser rauschte in Sturzfluten aus den Regenrohren. Die Hangstraße verwandelte sich in einen Gießbach. Trübe, kleine Wellen trugen zerknüllte Zigarettenschachteln und anderen Müll davon. Plötzlich bogen mehrere schwarze Wolgas auf den Platz ein und fuhren an mir vorbei in Richtung unserer Straße.

    Trotz des strömenden Regens und der gesprungenen Scheiben der Telefonzelle konnte ich neben dem Fahrer des letzten Wagens Tscharlika erkennen und mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich rannte los, was das Zeug hielt, und steckte kurz darauf den Kopf aus dem Dachbodenfenster des Hauses, wo Tscharlika zur Miete wohnte. Von hier aus konnte ich sehen, wie in Chaims Fenstern das Licht anging, und ich sah auch seine beiden Onkel, die nur in Unterhosen dastanden. Dann war der Raum plötzlich voller Tschekisten.

    So etwas hatte ich noch nicht einmal im Kino gesehen: Sie leerten die Schränke, nahmen sie auseinander, bohrten Löcher in die Wände, rissen das Parkett auf. Mit einem Wort – sie schlugen alles kurz und klein.

    Ab und zu erhaschte ich einen Blick auf Chaims Onkel, wie sie von Zimmer zu Zimmer bugsiert wurden, Chaim selbst jedoch war nicht zu sehen. Wahrscheinlich ist er nicht zuhause, schloss ich.

    Bei Morgengrauen hörte der Regen auf, und auf der Straße erschienen die ersten Passanten. Vorsichtig umgingen sie die antennenbewehrten Wolgas.

    Ich ging wieder hinunter und stellte mich auf den Gehsteig neben Dittrich, den Ölhändler. Nachbarn schauten mit erschrockenen Gesichtern aus ihren Fenstern.

    Schließlich kamen die Tschekisten mit Chaims Onkeln aus dem Hauseingang, setzten sie getrennt in zwei Wolgas und fuhren weg. Kurz darauf erschien Tscharlika. Er war ein völlig anderer Mensch als einen Morgen zuvor, keine Spur mehr von dem alten Tscharlika. Mit strenger Miene öffnete er die Wagentür – und stutzte: Er hatte mich unter den Gaffern entdeckt und starrte mich an.

    Ich hielt seinem Blick stand, wich nicht aus. Er wusste, Chaim und ich standen uns nahe; wahrscheinlich war ihm bei meinem Anblick Chaim in den Sinn gekommen. Wie sonst hätte ich mir seine Aufmerksamkeit erklären sollen? Das Ganze dauerte nur drei, vier Sekunden, dann schwand sein Interesse; er setzte sich ins Auto, schloss ohne Hast die Tür und fuhr davon.

    4

    In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, fanden die Bullen bei Chaims Vater drei Hundertdollarscheine und verhafteten ihn. Damals galt Dollarbesitz als ernsthaftes Vergehen. Wer sich mit Fremdwährung, insbesondere mit Dollars, erwischen ließ, war verloren. Chaims Vater bekam acht Jahre; ohnehin von schwacher Gesundheit, erkrankte er bald an Tuberkulose und verstarb im Gefängniskrankenhaus. Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters erlitt Chaims Mutter, eine Glätterin, beim Bügeln einen Stromschlag und starb ebenfalls. So wurde Chaim Waise. Er wuchs bei seinen Onkeln auf, die ihn nicht verwöhnten, ihn vielmehr oft versohlten, aber an Kleidung oder Essen fehlte es ihm nie.

    Er war fünf Jahre älter als ich. Ich erinnere mich, wie ich ihn dauerte und wie er mir vorlog, er sei meiner Mutter begegnet, es gehe ihr gut und sie würde mich bald besuchen kommen. Vor Freude bekam ich immer eine Gänsehaut. Wenn er sich Eis kaufte, aß er es nie ganz auf, sondern gab mir etwas davon ab. Wurde ich getriezt, beschützte er mich. So gut wie er behandelte mich niemand, und ich dackelte ihm darum ständig hinterher.

    Wo er nur blieb?, überlegte ich, während ich in Richtung Platz ging. Aus der Vitrine der Apotheke sah mir mein Spiegelbild entgegen und ich blieb stehen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich neue Klamotten trug. Auch mein Gesicht war gewaschen. Ich drehte mich nach allen Seiten und dachte: Prima siehst du aus. Dann tastete ich meine Hosentasche nach dem Geld ab und steuerte auf »Kitias Imbissstube« zu.

    Der Imbiss hatte eben erst aufgemacht. Ich bestellte Kuttelsuppe und setzte mich an einen Tisch. Ich hatte kaum zu essen begonnen, als zwei Besoffene hereinkamen, Kunstmaler.

    »Was möchtet ihr?«, fragte Kitia.

    »Nichts.«

    »Na, was wollt ihr denn dann hier?«

    »Wissen wir nicht«, erwiderte der mit dem längeren Bart. Dem anderen rannen Tränen übers Gesicht.

    »Was flennt er denn?«, fragte Kitia neugierig.

    »Er hat endlich begriffen, dass er kein Talent hat. Das macht ihm zu schaffen.«

    Die Maler hatten ihre Ateliers oben am Botanischen Garten. Mir waren sie immer als ganz besondere Menschen vorgekommen. Sie gefielen mir.

    Immer noch in Tränen, streckte der eine die Hand nach mir aus: »Da, sein Vater, das ist ein begabter Mann. Der hat mir mal meine Schuhe geflickt. Und wie er sie geflickt hat! Ich hab sie gar nicht mehr angezogen, sondern mitgenommen und bei mir an die Wand gehängt. Da seh ich sie mir an und freu mich. Sie sind besser gelungen als alle meine Bilder zusammen und besser als die von dem da auch.«

    Etwas Netteres hat über meinen Vater meiner Erinnerung nach keiner je gesagt, weder davor noch danach. Erst wollte ich ihm eine Flasche Wein spendieren, aber dann reute mich das Geld und ich dachte: Wenn er sich seiner Schuhe an der Wand so freut, was will er mehr? Wir wollen ja auch nicht zu viel des Guten tun.

    Mir fiel ein, dass ich Manuschaka am vorigen Abend ins Kino hatte ausführen wollen. Warum war sie nicht einfach hochgekommen und hatte mich geweckt? Sie pflegte doch sonst immer nach mir zu suchen. Aber diese Frage vergaß ich so schnell, wie sie aufgetaucht war, und erinnerte mich erst wieder an sie, als sich eines Tages alles klärte, viele Jahre später und weit weg von Tbilissi, in einem sibirischen Strafgefangenenlager. An jenem Tag jedoch entschied ich, mit ihr statt ins Kino an den Lissi-See zu fahren und dort spazieren zu gehen.

    Im Winter hatten wir zusammen einen indischen Film gesehen, in dem zwei Verliebte auf einem Boot in einem See voller Krokodile wohnten, sodass sie sich beim Baden immer in Gefahr begaben. Am Schluss schwimmt der Junge vom Ufer zum Boot, um dem Mädchen eine wichtige Neuigkeit zu überbringen, und da geschieht das Unglück. Das Mädchen schläft, wacht aber auf, und als sie sieht, was passiert, springt sie selbst ins Wasser.

    »Das hätte ich auch getan!«, sagte Manuschaka, was mir sehr gefiel.

    Daraufhin hatte ich ihr versprochen, frühmorgens einmal mit ihr zum Lissi-See hochzufahren, den ganzen Tag dort zu verbringen, ein Boot zu mieten und sie herumzurudern.

    Jetzt hatte ich Geld und wenn du Geld hast, steht der Erfüllung eines Versprechens nichts im Wege.

    Um zwei brachte Manuschaka immer etwas Warmes zu essen in den Friseursalon. Während Garik und Suren einen Happen aßen, fegte sie den Boden und wusch, was zu waschen war. Danach legte sie das gebrauchte Geschirr in die Tasche und ging wieder heim. Manchmal sprang ihre Mutter Susanna für sie ein, und ich hoffte, dass sie das auch jetzt tun würde.

    Sie wohnten in einem einstöckigen, ziemlich großen Backsteinbau. Im Hof hinter dem Haus standen ein Schuppen und ein Holzhaus mit vier Zimmern, die sie meist an Studenten vermieteten.

    »Das alles hab ich mit meiner Hände Arbeit erworben«, pflegte Garik stolz zu sagen.

    Aber Susanna hatte mir einmal erzählt: »Er lügt, das Haus gehörte zu meiner Mitgift. Meine Eltern haben es mir gekauft. Wenn du und Manuschaka einmal heiratet, überlasse ich euch hier im Eckteil zwei Zimmer. Die Übrigen benötigen Garik, Suren und ich, wenn wir, so Gott will, alle glücklich und zufrieden zusammen leben bleiben.«

    Sie war eine gute Frau, Gott hab sie selig. Sie hat mich umsorgt, als ich noch ganz klein war. Wenn mein Vater sich betrank und mich aus dem Kindergarten abzuholen vergaß, wartete ich im Klassenzimmer allein in einer Bank sitzend. Sobald Susanna, die in der Schule putzte, mit Reinemachen fertig war und abschloss, nahm sie mich mit zu sich nach Hause. Ihr Hof grenzte an das Kindergartengebäude. Sie machte mir zu essen, badete mich und legte mich schlafen. Als Kind pinkelte ich fast jede Nacht ins Bett, aber nicht ein Mal hat sie ein abfälliges Wort darüber verloren. Sie wusste Bescheid und unterlegte das Bettlaken einfach mit einem Wachstuch, das war alles.

    Nun stand ich vor Manuschakas Fenster und lehnte die Stirn an die Scheibe. Das Bett war ungemacht, die Bettdecke lag halb auf dem Boden. Manuschaka war nicht zu sehen.

    Ich wollte gerade umkehren, als mich ein Steinchen am Kopf traf und ich meinen Namen rufen hörte: »Dschude!« Ich blickte auf: Es war Chaim. Er lugte durch eine Lücke in der Wand unter dem Dach, wo ein Brett verschoben war.

    »Was bitte schön machst du da?«

    Er legte einen Finger an die Lippen. »Verrat keinem, dass ich hier bin, sonst bin ich verloren.«

    Ich nickte.

    »Auch nicht Manuschaka.«

    Ich zögerte. »Ja, aber wie lange willst da oben bleiben?«

    »Weiß ich noch nicht.«

    »Schön, ich sag Manuschaka nichts.«

    »Ich muss was mit dir besprechen.«

    »Wenn ich jetzt zu dir hochkomm, sieht man mich vielleicht. Ich komm besser um zwei wieder.«

    »Versprochen?«

    »Klar.«

    Er schob das Brett an seinen Platz zurück, sodass die Wand wieder ganz aussah.

    Um zwei musste Manuschaka im Friseursalon sein, und ihre Mutter würde um die Zeit ein Nickerchen halten. Oder auf den Markt gehen. Ich konnte dann also leicht unbemerkt zum Dachboden hochsteigen.

    Unterdessen war Manuschaka in ihr Zimmer zurückgekehrt und klopfte von innen an die Scheibe.

    »Was willst du?«, fragte ich ganz verwirrt.

    Sie öffnete das Fenster. »Was ich will?«

    Natürlich konnte ich ihr jetzt nichts mehr von meinen Plänen, am Lissi-See spazieren zu gehen, erzählen.

    »Sie haben Chaims Onkel verhaftet.«

    »Ja, ich weiß.«

    »Woher? Hast du’s geträumt?«

    »Dittrich ist vorbeigekommen und hat’s uns erzählt.«

    Mir fiel ein, dass ich dem Ölhändler begegnet war, und fragte lächelnd: »Was wollte denn der so früh am Morgen?«

    »Mein Vater hat sich Geld von ihm geliehen. Komm rein, was stehst du da draußen rum?«

    Es kam mir etwas merkwürdig vor, dass sie mich gar nicht fragte, wo ich gestern gewesen war, aber ich dachte nicht weiter darüber nach, meine Gedanken waren ganz bei Chaim. Warum versteckte er sich, was war da los? Falls seine Onkel irgendetwas Illegales gemauschelt hatten: Was hatte er damit zu tun? Was konnten sie von ihm schon wollen?

    In der Küche hantierte Susanna mit den Kochtöpfen; Garik und Suren hatten gerade ihr Frühstück beendet.

    »Hast du gehört, was passiert ist?«, fragte mich Garik.

    Ich nickte und setzte mich an den Tisch.

    »Sie hätten Chaim besser auch gleich mitgenommen.« Suren hasste Chaim, aber jetzt sagte er es extra wegen mir.

    »Ich mach dir ein Omelett«, bot mir Susanna an.

    »Danke, ich hab schon gegessen.«

    »Wirklich?«

    »Ja.«

    »Dann trink wenigstens Tee«, sagte Manuschaka.

    Den nahm ich gern.

    »Gut, kommst du grad vorbei.« Garik ging zum Praktischen über. »Du könntest mit Suren zusammen zum Markt gehen und mir zwanzig Kilo Teer und vier Sack Zement mitbringen. Im Salon ist die Decke undicht, da tropft Wasser runter, ich muss das selber reparieren.«

    Alles wäre mir lieber gewesen, als mit Suren zusammen zu sein. »Machen wir«, sagte ich.

    »Und keine Abstecher irgendwohin!«, ermahnte uns Susanna.

    5

    Um zwölf rollten Suren und ich den schwer beladenen Handkarren zum Platz hinauf. Ihn den langen Hang hinaufzustoßen war nicht gerade leicht gewesen und wir mussten verschnaufen. In diesem Augenblick tauchte vom Park her ein grüner Moskwitsch auf, am Steuer Tolik, Sohn eines Russen, auf dem Beifahrersitz Trokadero. Der Moskwitsch fuhr an der Apotheke vorbei und kam vor uns zum Stehen. Trokadero streckte den Kopf aus dem Fenster und rief mir zu: »Komm mal her!«

    Ich trat ans Auto und grüßte ihn.

    »Wo ist Chaim?«, fragte er.

    Und nun? Er hatte mir eingeschärft, niemandem zu verraten, wo er war. Also sagte ich schulterzuckend: »Ich weiß nicht.«

    Trokadero glaubte mir nicht, das sah ich gleich, aber er schien sich nicht zu ärgern, denn er lächelte; mein Verhalten gefiel ihm.

    »Wenn du ihn siehst, sag ihm, er soll mich zuhause anrufen.«

    Ich nickte. Was blieb mir anderes übrig?

    »Ihr wisst, was mit seinen Onkeln passiert ist?«, fragte ich.

    »Ja«, erwiderte er knapp und wandte sich Tolik zu: »Fahr los!« Und weg waren sie.

    Ich kehrte zum Karren zurück.

    »Irgendeinmal wird der dran glauben müssen«, zischte Suren, der dachte, mein Verhältnis zu Trokadero sei besser, als es in Wirklichkeit war.

    Im Lebensmittelladen kaufte ich Zigaretten, dann stießen wir den Karren endlich zum Friseursalon. Garik nahm die Ladung gründlich in Augenschein und war zufrieden. Er wandte sich zu mir und fragte, ob ich ihnen helfen könnte.

    »Klar, warum nicht.«

    »Bretter und Sperrholz liegen im Hinterhof«, instruierte er mich.

    Ich zog mein Hemd aus und stieg mit Suren aufs Dach. Wir lösten den spröden, gesprungenen Zement auf der Hofseite, zertrümmerten ihn mit Hämmern und warfen die Stücke in Eimer. Darunter kamen verfaulte Bretter zum Vorschein, die wir entfernten und mit neuen ersetzten. Darüber nagelten wir Sperrholzplatten. Garik war mit Kunden beschäftigt, aber kaum hatte er ein bisschen Zeit, schaute er zu uns herauf und gab uns gute Ratschläge. Unterdessen war es zwei Uhr geworden und Manuschaka erschien. Ich wollte nichts essen. »Ich hab’s eilig, muss zu einem Treffen, die warten auf mich.«

    Garik war wenig erfreut, als er das hörte. »Wie, du hilfst uns nicht mehr?«

    »Ich bin in zwei Stunden wieder da.«

    »In zwei Stunden ist Suren mit allem fertig.«

    »In dem Fall komm ich nicht mehr.«

    Wie sollte er in zwei Stunden fertig sein, so viel Arbeit wie das war?

    »Nicht doch, versprochen ist versprochen. Aber nicht später als in zwei Stunden.«

    Ich wusch mich und rannte dann fast die Straße entlang. Seit dem Morgen hatten mich die Gedanken nicht losgelassen. Na gut, er wird Angst haben und sich verstecken, aber warum ausgerechnet auf Manuschakas Dachboden?, wunderte ich mich. Normalerweise kam er nicht einmal in die Nähe des Hauses.

    Nun erzähle ich kurz, was es damit auf sich hatte:

    Im vorigen Frühling hatte Chaim mit Garik um zweihundertfünfzig Rasuren gewettet und gewonnen, sodass sich das ganze Viertel beinahe einen ganzen Monat lang gratis rasieren lassen konnte. Die Buchführung geschah auf einfachen nummerierten Zetteln mit bloß zwei Wörtern drauf: »Stutzen« oder »Rasieren« und darunter in Großbuchstaben »Chaim«. Die ganze Geschichte brachte die arme Susanna beinahe um den Verstand, sie drohte damit, extra nach Etschmiadsin zu pilgern und Chaim in der Kathedrale zu verfluchen. Jammern und Wehklagen herrschten in der Familie. Aber das alles war Pipifax gegen die Tatsache, dass Garik ein KGB-Schnüffler war. Davon wusste Chaim von mir.

    Als ich nämlich einmal zu Manuschaka ging, traf ich sie allein zuhause an. Sie hatte die Tür nicht gehört und rief aus der Toilette: »Wer ist da?«

    »Ich bin’s.«

    »Bin gleich bei dir.«

    Ich hatte Durst und ging in die Küche. Auf dem Tisch lagen sauber beschriebene Blätter; ich erkannte Manuschakas Handschrift. Ich trank Wasser, setzte mich und begann zu lesen. Die Haare sträubten sich mir. Als Manuschaka hereinkam, schrie ich sie an: »Was soll das? Wer bist du eigentlich?«

    »Das ist von meinem Vater, ich hab nichts damit zu tun, ich schreib’s nur ins Reine.«

    Sie legte mir das Original vor. »Da, sieh mal, was für ein Gekritzel, er schreibt die Buchstaben sogar verkehrt herum.«

    »Ja und, hat er nichts anderes zu tun?«

    »Sie haben ihn vorgeladen und ihm gesagt: ›Hörst

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1