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Erinnerungen: Autobiographische Aufzeichnungen
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eBook933 Seiten12 Stunden

Erinnerungen: Autobiographische Aufzeichnungen

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Über dieses E-Book

Das hier sind Fragmente meines Lebens, denn die vollständigen Teile meines Lebens habe ich nämlich entweder vergessen, oder sie gehören nur mir. So ist auch das, was hier übriggeblieben ist, mehr eine Chronik als eine Biographie, eine Geschichte über Ereignisse, die mein Leben begleitet haben, so wahr und ehrlich erzählt, wie eine persönliche Geschichte dies überhaupt sein kann.

Einen verhältnismäßig großen Teil des Buchtexts machen Briefe, oder Teile meiner Briefe, Reden und Interviews aus.

Es schien mir unerlässlich, einige davon ganz oder in längeren Auszügen zu zitieren, denn das sind meine distanzlosen Reaktionen, meine schnellen und manchmal vorübergehenden Kommentare zu laufenden Ereignissen, und damit auch die authentischsten Zeugnisse über sie. Es war auch ein Weg, um nachträgliche Klugheit zu vermeiden, die in solchen Texten häufig anzutreffen ist.

Kurz, was hier folgt, ist meine Wahrheit über eine schwierige Periode unserer Geschichte.

Alija Izetbegović
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Sept. 2023
ISBN9783384026361
Erinnerungen: Autobiographische Aufzeichnungen

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    Buchvorschau

    Erinnerungen - Alija Izetbegović

    Ein Teil meines

    Lebens

    (Anstatt eines Vorwortes)

    Das hier sind Fragmente meines Lebens, denn die vollständigen Teile meines Lebens habe ich nämlich entweder vergessen, oder sie gehören nur mir. So ist auch das, was hier übriggeblieben ist, mehr eine Chronik als eine Biographie, eine Geschichte über Ereignisse, die mein Leben begleitet haben, so wahr und ehrlich erzählt, wie eine persönliche Geschichte dies überhaupt sein kann.

    Einen verhältnismäßig großen Teil des Buchtexts machen Briefe, oder Teile meiner Briefe, Reden und Interviews aus.

    Es schien mir unerlässlich, einige davon ganz oder in längeren Auszügen zu zitieren, denn das sind meine distanzlosen Reaktionen, meine schnellen und manchmal vorübergehenden Kommentare zu laufenden Ereignissen, und damit auch die authentischsten Zeugnisse über sie. Es war auch ein Weg, um nachträgliche Klugheit zu vermeiden, die in solchen Texten häufig anzutreffen ist.

    Kurz, was hier folgt, ist meine Wahrheit über eine schwierige Periode unserer Geschichte.

    Alija Izetbegović

    Sarajevo, am 31. März 2001

    Eine kurze Geschichte Bosnien und Herzegowinas

    (Verfasst gemäß Geschichte Bosniens¹ von Noel Malcolm)

    Bosnien und Herzegowina befindet sich am westlichen Teil der Balkanhalbinsel zwischen 42,26 und 45,15 Grad nördlicher geographischer Breite und zwischen 15,45 und 19,41 östlicher geographischer Länge. Im Norden und im Westen grenzt es an die Republik Kroatien, im Osten und im Süden hingegen an Serbien und Montenegro. Es hat eine Fläche von 51.129 km² mit 4.124.256 Einwohnern (gemäß der Volkszählung aus 1981) und einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von 81 Einwohnern pro km2. Der Name Herzegowina bezieht sich im Wesentlichen auf das Gebiet des Neretvatals, während der Name Bosnien sich auf die zentralen, östlichen und westlichen Gebiete bezieht, d.h. auf den Großteil des Landes.

    Die politischen Grenzen Bosnien und Herzegowinas wurden durch eine Reihe von Friedensverträgen und Konventionen während des 18. und 19. Jahrhunderts (1699-1879) rechtlich festgelegt. Durch den Beschluss der Zweiten Session des AVNOJ² von 1943 wurde dieses Territorium gemäß den Grenzen von 1918 mit einigen geringfügigen Änderungen nahe Sutorina und in den Bezirken von Bosansko Grahovo und Bihać definiert.

    Bosnien und Herzegowina ist mit einer als territoriale Einheit fast ununterbrochenen Geschichte seit dem Mittelalter bis heute eines der geschichtsträchtigen Länder Europas. Im Großteil des Zeitraums von 1180 bis 1436 war es ein unabhängiges Königreich; von 1580 bis 1878 war es ein Eyalet (ein Ausdruck, der die größte territoriale Einheit im Osmanischen Reich bezeichnet); von 1878 bis 1918 ein „Kronland" im Rahmen Österreich-Ungarns; und von 1945 bis 1992 eine föderale Republik im Rahmen Jugoslawiens.

    Demnach gab es über 650 der vergangenen 800 Jahre auf den geographischen Karten eine Entität unter dem Namen „Bosnien".

    Die ältesten Einwohner, zu denen wir Daten haben, waren Illyrer. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts sind Slawen auf die Balkanhalbinsel gekommen und haben ihre Siedlungen bis zu den nördlichen Teilen Griechenlands gegründet.

    Als besonderes Territorium wird Bosnien zum ersten Mal in einem politisch-geographischen Handbuch erwähnt, das der byzantinische Kaiser Konstantin Porphyrogenitus 958 geschrieben hat. Im Jahr 1102 wurde die Herrschaft Ungarns auf Bosnien formal erstreckt. Da sein Territorium entfernt und unzugänglich war, herrschte darüber ein Ban, dessen Herrschaft im Laufe des 12. Jahrhunderts immer selbständiger wurde. Damals gelang es Bosnien zum ersten Mal, ein mehr oder weniger unabhängiger Staat zu werden.

    Im Hochmittelalter ragen drei mächtige bosnische Herrscher heraus: Kulin Ban (der von 1180 bis 1204 herrschte), Ban Stjepan Kotromanić (1322-1353) und König Stjepan Tvrtko (1353-1391). Unter dem Zweiten dieser drei erweiterte sich Bosnien auch auf das Fürstentum Hum (Herzegowina), unter dem Dritten wiederum breitete es sich gegen Süden aus und bemächtigte sich eines großen Teils der dalmatinischen Küste.

    Bosnien war bis Mitte des 14. Jahrhunderts vom zentralen römischen Kirchenimperium getrennt, bis schließlich Franziskaner nach Bosnien kamen. Die bosnische Kirche befand sich wahrscheinlich seit den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts außerhalb der katholischen Jurisdiktion. Je mehr sie aber schrittweise ihre Selbständigkeit stärkte, umso mehr wuchs der Graben zu Rom.

    1463 kam Bosnien unter die Herrschaft der Türkei.

    Ein westlicher Chronist vermerkte 1595, dass die „slawische Sprache" im Osmanischen Reich am dritthäufigsten war. Die Familie Sokolu in Istanbul, aus der eine Reihe großer Vesire stammte, hatte ihren Ursprung in Bosnien. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es insgesamt neun große Vesire bosnischen Ursprungs. Die Annahme des Islam unter türkischer Herrschaft seitens eines großen Teils der Bevölkerung bleibt das eindrucksvollste und wichtigste Merkmal der neueren Geschichte Bosniens. Der albanische Geistliche und apostolische Visitator Peter Masarechi führt in einem 1624 zusammengestellten Bericht an, dass es damals in Bosnien 150.000 Katholiken, 75.000 Orthodoxe und 450.000 Muslime gab.

    In den ersten 15 Jahren der osmanischen Herrschaft in Sarajevo (davor bekannt unter dem Namen Vrhbosna) haben die Türken eine Moschee, eine Teki (Sitz eines Derwischordens), eine Musafirhana (Raststätte), einen Hamam (türkisches Bad) und eine Brücke über die Miljacka gebaut, haben Wasserleitungen eingeführt und einen Saraj (Serail, den Palast des Statthalters) errichtet, nachdem die Stadt seinen neuen Namen erhielt. In gleicher Weise wurde gleich zu Beginn inmitten der Stadt ein großer Markt gegründet.

    Es war üblich, dass Reiche der Verwaltung dauerhaft Land zur Sicherung der Einnahmen für wichtige Einrichtungen (nicht nur Moscheen und Schulen, sondern auch Raststätten, Bäder und Brücken) überlassen. Dieser Typus einer religiös-wohltätigen Stiftung ist unter dem Namen Waqf bekannt. Es wird geschätzt, dass zum Zeitpunkt der österreichischen Okkupation Bosniens, 1878, ein Drittel des bewirtschaftbaren Landes im Eigentum von Vakufs war.

    Ab den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts werden zum ersten Mal orthodoxe Geistliche und Gläubige in vielen Teilen Bosniens erwähnt. Es ist bekannt, dass einige orthodoxe Kloster im 16. Jahrhundert errichtet wurden (in Travna, Lomnica, Papraća, Ozren und Gostoć), das wichtige Kloster Rmanj im Nordwesten Bosniens wiederum wird zum ersten Mal 1515 erwähnt.

    Mindestens jede zweite bosnische Generation nahm an großen Kriegen teil. Der Krieg, von dem sich das Türkische Reich nie wieder vollständig erholt hat, wurde 1683 bis 1699 gegen Österreich geführt. Zwischen 1684 und 1687 haben die Österreicher allmählich ganz Ungarn eingenommen und Tausende Muslime von ihren Besitztümern nach Süden vertrieben, sodass ganz Bosnien von Flüchtlingen überflutet war. Bis 1687 sind ungefähr 30.000 Muslime aus Lika geflüchtet. Dieser allseitige Zufluss an Flüchtlingen hatte Einfluss auf die Größe und Zusammensetzung der bosnischen Bevölkerung – man rechnet, dass nach diesem Krieg gar 130.000 Flüchtlinge nach Bosnien gelangt sind.

    Im Jahr 1737 besiegte der bosnische Statthalter Ali-paša Hećimović die österreichische Armee in der Schlacht bei Banja Luka. Mit dem Friedensvertrag, der darauf geschlossen wurde (Belgrader Frieden von 1739), wurde wiederum die nördliche Grenze des heutigen Bosniens festgelegt.

    Der nächste Krieg gegen Österreich, der 1788 begann, hatte ernste politische Folgen. Der österreichische Kaiser Josef II und die russische Zarin Katharina die Große sind darüber übereingekommen, den Türken die Länder des Balkans zu nehmen und sie untereinander aufzuteilen. So kam es zur geopolitischen Aufteilung von Interessenssphären auf dem Balkan, was Ende 1878 zur österreichischen Okkupation Bosniens und dreißig Jahre danach zu seiner Annexion führte.

    Die europäischen Großmächte, die sich im Juli 1878 zum Berliner Kongress versammelten, beschlossen, dass Österreich-Ungarn Bosnien und Herzegowina, das theoretisch weiterhin unter türkischer Oberherrschaft blieb, besetzen und verwalten sollte. Die österreichische Okkupation Bosniens begann. Die Eroberung dauerte ungefähr drei Monate. Sporadisch gab es erbitterten Widerstand und häufige Guerillaüberfälle. Die Gesamtverluste der Österreicher in der bosnischen Operation von 1878 betrugen 946 tote und 3.980 verletzte Soldaten.

    Die österreichische Okkupation trat eine Welle an muslimischen Flüchtlingen, hauptsächlich Richtung Türkei, los. Nach amtlichen Daten der österreich-ungarischen Regierung sind zwischen 1883 und 1905 32.625 und zwischen 1906 und 1918 ca. 24.000 weitere Personen ausgewandert. In diese Zahlen sind aber weder diejenigen eingerechnet, die illegal, noch diejenigen, die in den ersten vier Jahren (bis 1883) ausgewandert sind. Einige muslimische Historiker haben festgestellt, dass die Gesamtzahl der Auswanderer ungefähr 300.000 betrug, die Schätzung scheint aber zu hoch zu sein.

    In Sarajevo wurde 1889 eine katholische Kathedrale geweiht und bald danach auch die Kirche des Heiligen Antonius von Padua.

    An der Spitze Bosniens stand 1882 bis 1903 Benjamin Kállay, ein österreichischer Historiker und ehemaliger Diplomat. Seine Politik in Bosnien tendierte dazu, das Land vor dem Einfluss nationalistischer Bewegungen, die aus Serbien und Kroatien stammten, zu schützen und die Idee einer bosnischen Nation als besondere und integrative Entität zu fördern. Für sein Vorhaben war es wichtig, zuallererst die Muslime für die Idee der bosnischen Nation zu gewinnen.

    Im Jahr 1909 wurde den Muslimen unter dem liberalen österreich-ungarischen Finanzminister Baron Burian (der diese Funktion von 1903 bis 1912 bekleidete) ein System zur Vakuf-Verwaltung³ genehmigt, im Jahr darauf wurde auch ein bosnischer Landtag gewählt. Auch wenn sich der Landtag auf einem beschränkten Wahlrecht gründete und keine unmittelbare gesetzgebende Gewalt hatte, so hat er es dennoch verschiedenen Organisationen, die in den letzten Jahren von lokalen Gemeinschaften gegründet wurden – die Muslimische Nationale Organisation (1906), die Serbische Nationale Organisation (1907) und die Kroatische Nationale Gemeinschaft (1908) – ermöglicht, als echte politische Parteien zu wirken.

    Obwohl sich manche prominente muslimische Leiter als Kroaten und Serben „bekannten", so haben solche Einzelmeinungen den allgemeinen Standpunkt der Muslime, die sich fest als besondere politische Entität formiert haben, nie gefährdet.

    Nach dem Attentat auf Prinz Ferdinand Ende Juli 1914 griff Österreich-Ungarn Serbien an. Der Erste Weltkrieg begann, welcher 1918 mit der Niederlage der Mittelmächte endete.

    Am 30. Mai 1917 verkündete der slowenische Politiker Korošec mit einigen seiner Kollegen eine Deklaration, mit der er zur Vereinigung der Slowenen, Kroaten und Serben in einem Staat aufrief. Eine ähnliche Erklärung verabschiedete auch der kroatische Landtag am 29. Oktober 1918.

    Die Hauptpartei, welche fast ein Monopol auf muslimischen Zuspruch hatte, war die „Jugoslawische Muslimische Organisation", die im Februar 1919 in Sarajevo gegründet wurde. Ihr Präsident Dr. Mehmed Spaho verteidigte den Standpunkt, dass Bosnien darauf beharren muss, eine eigene Identität als autonome Einheit im jugoslawischen Staat zu erhalten.

    Als im November 1920 Wahlen in Jugoslawien abgehalten wurden, vereinte Spahos Partei fast alle muslimischen Stimmen in Bosnien und Herzegowina auf sich und bekam so das Recht auf 24 Abgeordnetenplätze in der Volksversammlung.

    Im Jahr 1929 änderte König Aleksandar die Verfassung per Beschluss und verkündete Jugoslawien anstelle des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Der Staat wurde auf neun Banschaften aufgeteilt, jede dieser Banschaften überlagerte wiederum die alten Grenzen der konstitutiven Elemente des jugoslawischen Staates. Bosnien wurde auf vier Banschaften aufgeteilt: die Banschaft Vrbas, in welcher auch Teile Kroatiens aufgenommen waren, die Banschaft Drina, der auch ein großer Teil Serbiens hinzugefügt wurde, die Banschaft Zeta, die hauptsächlich aus Montenegro bestand, und die Banschaft Primorska, die auch einen Teil der dalmatinischen Küste umfasste. Zum ersten Mal in mehr als vierhundert Jahren war Bosnien kein einheitliches Ganzes mehr.

    Die bosnischen Muslime waren ausgesprochen unzufrieden, da sie in jeder der vier Banschaften, in denen sie lebten, in der Minderheit waren.

    Die Kroaten haben Aleksandars Verfassung nicht akzeptiert. Es begann eine politische Auseinandersetzung zwischen Serben und Kroaten, die zehn Jahre dauerte. Im August 1939 erreichten der serbische Vertreter Cvetković und der kroatische Maček ein Übereinkommen über die neue Organisation Jugoslawiens.

    Das Erste, worauf sich beide einigten, war die Aufteilung Bosnien und Herzegowinas. Die beiden kroatischen Banschaften, Sava und Primorska (die auch einige Teile Bosnien und Herzegowinas umfassten), vereinigten sich zu einer einzigen Banschaft Kroatien. Die Einwohner der restlichen Teile Bosnien und Herzegowinas sollten hingegen durch Plebiszit erklären, ob sie sich Kroatien oder Serbien anschließen wollen.

    Mehmed Spaho starb im Juni 1939, als diese Verhandlungen in ihrer kritischsten Phase waren. Sein Nachfolger Džafer Kulenović verlangte die Schaffung einer eigenen Banschaft Bosnien und Herzegowina, doch seine Forderung blieb ohne Resonanz.

    Am sechsten April 1941 griffen die Deutschen Jugoslawien an, vier Tage später riefen sie den neuen „Unabhängigen Staat Kroatien" aus (bekannt unter seinen Initialen NDH), dem ganz Bosnien und Herzegowina einverleibt wurde. Dieser Staat war nicht unabhängig, sondern war in zwei Militärzonen aufgeteilt, eine deutsche und eine italienische. Die Demarkationslinie teilte Bosnien und Herzegowina diagonal vom Nordwesten bis zum Südosten. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens, die 1941 den Aufstand gegen die Deutschen startete, hatte keine klaren Vorstellungen darüber, wie der Status der bosnischen Muslime sein sollte. 1936 schrieb der kommunistische Intellektuelle, der Slowene Eduard Kardelj:

    „Wir können nicht über die Muslime als Volk sprechen, sondern als eine besondere ethnische Gruppe. Auf der 1940 abgehaltenen Parteikonferenz wiederum hat Milovan Đilas, der für die nationale Frage „verantwortlich war, die Muslime in der Auflistung der jugoslawischen Völker ausgelassen.

    Im sog. Unabhängigen Staat Kroatien (1941-1945) kam es zur Vertreibung von Minderheiten, insbesondere Serben und Juden. Im Sommer und Herbst 1941 gaben muslimische Führungspersonen eine Reihe von öffentlichen Resolutionen und Protestnoten gegen diese Gewaltakte der Staatsmacht heraus. Solche Resolutionen wurden in Sarajevo, Prijedor, Mostar, Banja Luka, Bijeljina und Tuzla verabschiedet.

    1945 kamen die Kommunisten in Jugoslawien an die Macht. Die Mehrheit der Muslime machte mit dieser Tatsache ihren Frieden. Anstatt von Kroatien oder Serbien geschluckt zu werden, wurde ihnen eine föderale Lösung angeboten, in der Bosnien und Herzegowina weiter bestehen bleiben würde.

    Für die Muslime war einzig wichtig, dass das Morden aufhört. Man schätzt, dass während des Zweiten Weltkriegs ungefähr 75.000 Muslime umgebracht wurden, was 8,1% ihrer Gesamtzahl ausmachte. Die Kommunisten haben mit allen, die ihre Herrschaft nicht annahmen, brachial abgerechnet. Der Historiker Noel Malcolm gibt an, dass 1945 und 1946 in Jugoslawien fast 250.000 Menschen in Massenerschießungen, Todesmärschen und Konzentrationslagern ums Leben kamen.

    Die jugoslawische föderative Verfassung, die im Januar 1946 verkündet wurde, war eine getreue Kopie der sowjetischen Verfassung, die zehn Jahre davor verabschiedet wurde. In dieser Verfassung stand, dass Jugoslawien Religionsfreiheit achten würde, in der Praxis war es jedoch anders.

    1946 wurden die Schariatgerichte abgeschafft, 1950 hingegen wurde das letzte Maktab⁴ geschlossen – das waren, Grundschulen, in welchen Schüler grundlegendes Wissen über den Koran erlangten. Abgeschafft wurden die muslimischen Kultur- und Bildungsvereine „Gajret, „Narodna Uzdanica, „Preporod und andere. Nur die Arbeit der offiziellen Islamischen Glaubensgemeinschaft (IVZ) wurde zugelassen, mit insgesamt nur zwei streng überwachten Madrasas zur Ausbildung muslimischer Geistlicher. Auch die muslimische Druckerei in Sarajevo wurde geschlossen. Die Körperschaft, welche die Vakufs verwaltete, wurde wiederum unter staatliche Aufsicht gestellt. Manche dieser Maßnahmen haben sich indessen widersprochen: islamische Texte waren auch weiterhin im Umlauf, Kinder wurden in den Moscheen unterrichtet, die Derwischorden waren in Privathäusern aktiv, während die Schüler- und Studentenorganisation „Junge Muslime⁵ sich der antiislamischen Kampagne widersetzte, bis einige Hundert ihrer Mitglieder in den Jahren 1946 bis 1952 verhaftet wurden.

    Die Frage, was es bedeutet, Muslim in Bosnien und Herzegowina zu sein – ob es sich um eine religiöse, ethnische oder nationale Identität handelt – ist entgegen den Überzeugungen der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, nicht von der Tagesordnung gewichen.

    In der Volkszählung von 1948 hatten die Muslime drei Optionen: sie konnten sich als Serben muslimischen Glaubensbekenntnisses deklarieren, Kroaten muslimischen Glaubensbekenntnisses oder als „national nicht Zugeordnete. Das Resultat: 72.000 davon erklärten sich als Serben, 25.000 erklärten sich als Kroaten, 778.000 erklärten sich hingegen als „nicht Zugeordnete. Bei der nächsten Volkszählung, 1953, war das Resultat ähnlich.

    Bei der Volkszählung von 1971 taucht zum ersten Mal auch die Kategorie „Muslim im nationalen Sinne" auf.

    Nach Titos Tod kam die ökonomische Ineffizienz des sozialistischen Systems voll zum Ausdruck, während die nationalen Spannungen wuchsen. 1987 stieg die jährliche Inflation auf 120%, 1988 wiederum auf 250%. Bis zum Ende des Jahres stiegen Jugoslawiens Auslandsschulden auf über 20 Milliarden Dollar. Die Bevölkerung wurde immer ärmer, was eine Gelegenheit für extreme Nationalisten darstellte, sich der Sache anzunehmen und für allgemeine Unzufriedenheit zu sorgen.

    Am Vidovdan [Veitstag], dem 28. Juni 1989, versammelten sich einige Hunderttausend Serben am Gazimestan, unweit der Hauptstadt des Kosovo, Priština, um das 600-Jahresjubiläum der Schlacht am Kosovo zu begehen. „Nach sechs Jahrhunderten sind wir wieder mit Kämpfen und Streitigkeiten befasst. Das sind keine bewaffneten Kämpfe, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass es auch zu solchen kommen wird", sagte Slobodan Milošević. Das versammelte Volk gab ihm donnernden Zuspruch.

    Die Gründung unabhängiger politischer Parteien, die 1988 in Jugoslawien nur zaghaft begann, verwandelte sich in einen regelrechten Strom. Im Januar 1990 verließen die slowenischen Kommunisten den Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens demonstrativ und Slowenien und Kroatien kündigten Mehrparteienwahlen für den Frühling 1990 an. Bei den ersten siegte eine liberal-nationalistische Koalition, bei der zweiten wiederum die neue kroatisch nationalistische Partei, Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ)6 mit Franjo Tuđman an der Spitze.

    Bei den Wahlen in Bosnien und Herzegowina im November 1990 errang die muslimische SDA⁷ 86 von insgesamt 240 Abgeordnetenmandaten in der Landesversammlung, während 18 an andere muslimische Parteien gingen, einschließlich Zulfikarpašićs MBO⁸, mit weiteren 13 Mandaten. Die Serbische Partei SDS⁹, angeführt von Radovan Karadžić, errang 72 Abgeordnetenmandate.

    Anfang 1991 sprach Milošević offen darüber, dass er verlangen würde, Serbien die gesamten Gebiete Kroatiens und Bosnien und Herzegowinas anzuschließen, sollte es Versuche geben, die föderative Struktur Jugoslawiens durch die losere Form der Konföderation zu ersetzen.

    Am 25. Juni 1991 erklärten Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Nun musste auch Bosnien und Herzegowina die Anerkennung seiner Freiheit verlangen, sonst bliebe es im Restjugoslawien unter serbischer Herrschaft. Am 6. April 1992 haben die westlichen Staaten die Unabhängigkeit Bosnien und Herzegowinas anerkannt, jedoch begann an demselben Tag die Aggression gegen dieses.

    Auch wenn die Vereinten Nationen Bosnien und Herzegowina am 22. Mai 1992 anerkannt und als Mitgliedsstaat in ihre Reihen aufgenommen haben, haben sie das Waffenembargo nicht aufgehoben, als wenn sich nichts geändert hätte. Die serbischen Armeekommandanten prahlten damit, dass sie genug Waffen und Munition hätten, um noch sechs, sieben Jahre in Bosnien und Herzegowina Krieg zu führen. Das Embargo hatte keinen Einfluss auf ihre militärischen Kapazitäten. Für die bosnischen Streitkräfte war das Embargo hingegen einem Todesurteil gleich.

    Sowohl die amerikanische als auch die deutsche Regierung haben kurzzeitig die Absicht gezeigt, das Embargo aufzuheben, doch ist es dem damaligen britischen Außenminister Douglas Hurd infolge energischer Überzeugungsbemühungen gelungen, sie von diesem Vorhaben abzubringen. Er behauptete, dass der Krieg damit nur verlängert werden würde.

    Das Embargo wurde nicht aufgehoben, doch der Krieg verlängerte sich und dauerte bis Ende 1995. Beendet wurde er durch den Friedensvertrag in Dayton am 21. November 1995, (unterschrieben in Paris am 14. Dezember 1995).

    1 Anmerkung des Übersetzers: Der Autor bezieht sich auf die bosnische Übersetzung (Noel Malcolm, Povijest Bosne, Zagreb/Sarajevo: Erasmvs Gilda/Novi Liber, 1995) von Malcolm, Bosnia: A Short History, New York: New York University Press, 1994. Siehe auch die deutsche Übersetzung: Malcolm, Geschichte Bosniens, Frankfurt am Main: S. Fisher, 1996.

    2 Anm. d. Übers.: Abkürzung für „Antifašističko viječe narodnog oslobođenja Jugoslavije, übersetzt „Antifaschistischer Rat der Voksbefreiung Jugoslawiens.

    3 Anm. d. Übers.: Aus dem Arabischen „Waqf, über die türkische Adaption „Vakuf ins Bosnische, übernommen, übersetzt „Stiftung oder „Fonds.

    4 Anm. d. Übers.: Arabisch für „Büro oder „Schreibtisch, war jedoch im bosnischen Kontext der gebräuchliche Begriff für religiöse Grundschulen, meist abgehalten in Moscheen.

    5 Anm. d. Übers.: Oft auch im Ausland unter dem Originalnamen „Mladi Muslimani" bekannt.

    6 Anm. d. Übers.: Abkürzung für „Hrvatska demokratska zajednica".

    7 Anm. d. Übers.: Abkürzung für „Stranka demokratske akcije, übersetzt „Partei der demokratischen Aktion, welche von Izetbegović mitbegründet wurde. Siehe auch Anmerkung 22.

    8 Anm. d. Übers.: Abkürzung für „Muslimanska bošnjačka organizacija, übersetzt „Muslimische Bosniakische Organisation.

    9 Anm. d. Übers.: Abkürzung für „Srpska demokratska stranka, übersetzt „Serbische Demokratische Partei.

    Kapitel I

    Jugend und erstes Mal im

    Gefängnis

    Kindheit und Krankheit des Vaters. Erste Vorstellungen vom Glauben und erstes Schwanken. Die Serben herrschen. Azići – ein durchmischtes Dorf. Wehrdienstflüchtiger. „Junge Muslime. Die Kommunisten kommen. Der Konflikt mit den Kommunisten. Die kommunistische „Gleichheit. Verurteilt zu drei Jahren Gefängnis. Halida.

    Meine Kindheit scheint mir ausgesprochen fern. Wie wenn ich an einem heiteren Tag Berge betrachten würde, sehe ich ihre Umrisse, aber nicht ihre Details. Das Leben ist nicht kurz. Meines hat sich in die Länge gezogen.

    Geboren wurde ich in Bosanski Šamac vor 75 Jahren in einem Haus, aus dem man die zwei größten bosnischen Flüsse sieht, Bosna und Sava. Als ich zwei Jahre alt war, sind wir nach Sarajevo umgezogen. Dort ging ich auch zur Schule. Vor wenigen Tagen bin ich am Gebäude des Gymnasiums vorbeigegangen, in dem ich acht Jahre meiner Kindheit und frühen Jugend verbracht hatte. Das war das erste Knabenrealgymnasium, eine im Übrigen bekannte Schule – wir, die sie abgeschlossen haben, haben mit Stolz von ihr gesprochen. Hier habe ich auch an der rechtswissenschaftlichen Fakultät diplomiert. Davor studierte ich Agronomie, dann bin ich nach dem dritten Jahr zu den Rechtswissenschaften übergegangen.

    Ich gehörte zu einer großen Familie. Mein Vater hatte mit meiner Mutter fünf Kinder – drei Töchter und zwei Söhne. Ich bin der ältere Sohn, aber ich bin nicht das älteste Kind in der Familie, ich hatte zwei ältere Schwestern. Ich hatte auch zwei Hälbbrüder aus Vaters erster Ehe. Vaters erste Frau starb und so heiratete er meine Mutter irgendwann gegen 1921. Unsere Familie ist ansonsten, den Informationen nach, über die wir verfügen, gegen Ende des letzten Jahrhunderts aus Belgrad zugezogen. Mein Großvater wurde in dieser Stadt in einem Haus geboren, das nach Erzählung meines rahmetli¹⁰ Onkels väterlicherseits bis zum Zweiten Weltkrieg bestand. Mein Großvater, der in der Armee in Istanbul gedient hatte, hat eine junge türkische Frau namens Sedika geheiratet, die in Üsküdar geboren wurde – Üsküdar ist der Teil Istanbuls auf der anderen Seite des Bosporus. Mein Vater verstand ein wenig Türkisch, aber soweit ich mich erinnern kann, konnte er es nicht sprechen. Das hat meine Mutter manchmal geärgert, da sie kein Türkisch konnte und sich aus diesen Gesprächen ausgeschlossen fühlte.

    ***

    Meine Kindheit war von Vaters Krankheit geprägt. Er wurde im Ersten Weltkrieg an der italienischen Front am Piave schwer verletzt. Das hat sich später in eine Art Lähmung verwandelt, sodass er in den letzten zehn Jahren seines Lebens fast gänzlich immobil war. Meine rahmetli Mutter kümmerte sich sehr um Vater, wir Kinder wiederum halfen so sehr wir konnten, während wir im Geist der Freiheit aufwuchsen.

    Die Familie meines Vaters war einst sehr reich. In Bosanski Šamac arbeitete Vater als Händler, jedoch hatte er mit dieser Arbeit aufgrund seltsamer Umstände keinen Erfolg. Wir zogen nach Sarajevo, wo unser Leben viel schwerer war, aber es hatte auch einige gute Seiten: wir konnten uns bilden. Wären wir in Bosanski Šamac geblieben, weiß ich nicht, ob das möglich gewesen wäre.

    Meine rahmetli Mutter war eine sehr religiöse Frau und meine eigene Hingabe zum Glauben schulde ich teilweise ihr. Ausnahmslos pflegte sie aufzustehen, um das Morgengebet zu verrichten, was bedeutete vor dem Tagesanbruch. Sie weckte auch mich, um zur Nachbarschaftsmoschee zu gehen, das war die Hadžijska-Moschee unweit des Rathauses. Ich bin natürlich ungern aufgestanden, ich war damals zwölf oder vierzehn Jahre alt. Aber es war mir danach immer eine Freude, wenn ich besonders an Sommermorgen nach Hause zurückzukehren pflegte.. Die Sonne würde kurz davor stehen aufzugehen, in der Moschee war der alte Imam Mujezinović, der zum Morgengebet bei der zweiten Raka¹¹ ständig jene wundervolle Sure ar-Rahman¹² rezitierte. Diese Moschee in der Frühlingsblüte, dieses Morgengebet, diese Sure ar-Rahman und dieser Alim¹³, den die gesamte Nachbarschaft achtete, ist eines jener schönen Bilder, die ich durch den Nebel der vergangenen Jahre klar sehe.

    Ich war in jederlei Hinsicht eine Mischung aus Vater und Mutter: physisch ähnle ich mehr meiner Mutter und ihren Brüdern, was mir nicht sehr recht war. Ich wollte meinem Vater ähneln, der ein Mann von ausgesprochen schöner Statur war. Was aber den Charakter angeht, so bin ich meinem Vater näher. Nämlich sind all meine Cousins mütterlicherseits extrovertiert und kommunikativ gewesen, während die Izetbegovićs eher schweigsame und zurückgezogene Menschen waren.

    Auch wenn er nach Sarajevo zu Mutters Familie zugezogen ist, wurde mein Vater in ihrer Familie sehr geachtet. Wenn es Probleme gab – familiäre oder eheliche – war er eine Art Richter in diesen Streitigkeiten. Ich weiß, dass sie auf ihn hörten, was mir imponierte. In meine Mutter war ich auf kindliche Art einfach verliebt. Und wenn sie mit Vater irgendwohin zu Besuch ging, konnte ich nicht einschlafen, bis sie zurückgekehrt sind. Ich lag wach, manchmal bis Mitternacht, während ich darauf wartete, dass sie sich melden. Ich war dann so müde, dass ich einschlafen würde, sobald ich das Öffnen der Tür und ihre Schritte hörte.

    Recht früh löste ich mich vom elterlichen Einfluss und lebte nach eigenen Vorstellungen weiter. Im fünfzehnten Lebensjahr begann ich, etwas im Glauben zu schwanken. Ich war in Gesellschaft meiner damaligen Freunde, über die ich über alles Mögliche sprach. Wir lasen kommunistische und atheistische Literatur. Zu der Zeit gab es in Jugoslawien rege, in der Regel illegale kommunistische Propaganda über diverse Broschüren, die von Hand zu Hand gingen. Die Kommunisten waren damit erfolgreich. Zum Teil war das eine Reaktion auf das Aufkommen des Faschismus in Europa. Kommunismus setzte Demokratie nicht voraus. In Jugoslawien war das eine Bewegung gegen den Faschismus, eine Kontraideologie, die ihrerseits ebenfalls totalitär war. Gegen den schwarzen Totalitarismus erhob sich der rote Totalitarismus.

    Die Kommunisten waren in meinem ersten Knabengymnasium besonders einflussreich. Diese Schule war bekannt für eine Zahl an Professoren, über die man insgeheim sagte, dass sie der kommunistischen Bewegung angehörten. Ich gelangte an einige Broschüren, welche die Kommunisten illegal in den Klassen verteilten, und so begann auch ich, wie mir damals schien, zwischen dem Problem der sozialen Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit und Gott zu schwanken. In der kommunistischen Propaganda war Gott auf der Seite der Ungerechtigkeit, da Religion ihnen nach „Opium für das Volk" war, ein Mittel, um das Volk ruhig zu halten, damit es nicht für eine bessere Stellung im realen Leben kämpft. Es war sehr leicht, auf diese Geschichte hereinzufallen. Ich habe sie nicht geglaubt. Immer schien mir - mal klarer, mal weniger klar – dass Verantwortung die Hauptbotschaft von Religion war. Religion gibt selbst einem Kaiser zu verstehen, dass er zur Verantwortung gezogen wird. Auch wenn er die Polizei in dieser Welt nicht fürchtet - denn die Polizei befindet sich in seiner Hand - so gibt ihm der Glaube dennoch zu verstehen, dass er sich für Gewalttätigkeit verantworten wird und dass er dieser Verantwortung nicht entgehen kann. Ein Weltall ohne Gott schien mir sinnlos.

    So bin ich nach zwei, drei Jahren des Herumirrens zum Glauben zurückgekehrt, aber auf neue Weise. Die gewisse Beständigkeit meiner Glaubensstärke – so wenig oder viel ich davon haben mag – beruht auf diesem Zweifel, der in meiner Jugend aufgetaucht ist. Das war nicht mehr bloß geerbter Glaube. Nun war das ein von Neuem eroberter Glaube. Diesen habe ich nie wieder verloren. Später schrieb ich ein wenig über diese Dilemmata, aber ich glaube, dass ich in diesen Artikeln nicht anderen, sondern gerade mir selbst meinen Glauben zu beweisen versuchte.

    ***

    In der Schule oszillierte ich zwischen einem hervorragenden und einem schlechten Schüler – eine Zeit lang würde ich fleißig lernen, dann aber würde ich plötzlich Bücher ganz ablehnen. In der vierten Klasse des Gymnasiums war ich von der Ablegung der (kleinen) Matura befreit, um dann in der darauffolgenden fünften Klasse am Ende des Jahres eine schwache Note zu bekommen – und seltsamerweise gerade in Geschichte, auch wenn ich Geschichte immer mochte. Für meine schlechte Note gab ich nicht mir, sondern meinem Geschichtsprofessor die Schuld. Das war ein sehr großer Mann, ein Serbe, der im ekavischen Dialekt¹⁴ sprach und oft derbe Witze auf Kosten muslimischer Schüler machte. Ich habe wohl darin den Grund gesehen, ihm für meine Note die Schuld zu geben.

    In den höheren Klassen des Gymnasiums habe ich das Lernen vollständig durch Lesen ersetzt. Mit 18 und 19 habe ich alle wichtigen Werke der europäischen Philosophie gelesen. Hegel gefiel mir zu der Zeit nicht. Später würde ich meine Meinung ändern. Besonderen Einfluss hinterließ auf mir Bergsons Schöpferische Evolution, Kants Kritik der reinen Vernunft und Spenglers zweibändiger Untergang des Abendlandes.

    Dennoch habe ich die Schule nicht völlig vernachlässigt. Ich maturierte mitten im großen Krieg im Sommer 1943. Stalingrad und El-Alamein hatten sich bereits ereignet, die Landung in Sizilien und Italien standen hingegen kurz bevor. Ich erinnere mich gut an diesen Krieg, da wir durch schwere Jahre, Gefahren und Mangelzeiten gingen. Ich erinnere mich beispielsweise an die große Hungersnot von 1941. Wir waren zuhause alle mehr hungrig als satt. Später besserte sich die Lage, am meisten dank der Schwarzhändler, die große Mengen an Nahrung herbeischafften. Alles andere hörte auf zu arbeiten, nur der Schwarzhandel funktionierte umso besser.

    Hier in Sarajevo herrschten damals die Ustascha, ein Pro-Nazi-Regime. Ich hätte mich nach der großen Matura zur Armee melden sollen, aber ich habe das nicht gemacht. Ich wurde zum Wehrdienstflüchtigen und versteckte mich 1944 das gesamte Jahr zuhause. Eines Tages erfuhr ich, dass die Militärverwaltung nach mir suchte, also floh ich in die Posavina in meine Geburtsgegend. Das ist eine Geschichte für sich, eine besondere Erfahrung aus den Entwicklungen der damaligen Kriegsereignisse: damals sah ich Tschetniks, Ustascha, Partisanen, ja selbst uns Muslime (die bewaffnete muslimische Miliz, die damals auch irgendein Akteur in Nordbosnien war).

    ***

    Es gab in meiner Kindheit auch sehr schöne Tage. Unweit von Sarajevo haben wir mütterlicherseits ein kleines Vermögen in Azići bei Stub geerbt – dort war der bekannte Džabija-Turm, der im letzten Krieg zerstört wurde, ein weißer Würfel mit indigoblauen Fenstern drum herum. Man konnte ihn aus der Ferne sehen. Im Garten neben dem Haus war auch eine Esche, der größte Baum im Sarajevoer Becken, und ein römischer Brunnen. Im Sommer gingen wir nach dem Unterricht zum Grundstück. Das ging infolge sieben, acht Jahre so, von 1932 bis 1940. Einige der ersten Jahre, bevor Vater erkrankte,, begleiteten wir ihn und meine Mutter. Später würden sie in Sarajevo bleiben, wir hingegen würden in Gesellschaft meiner Tante mütterlicherseits, die Witwe geblieben ist, dort hingehen. Diese am Lande verbrachten Tage waren sicherlich die schönsten Tage meines Lebens. Besonders morgens war es dort schön. Im letzten Krieg verlief gerade dort die Frontlinie. Dieses Stück Land aber, auf dem ich meine Kindheit verbracht hatte, blieb auf unserer Seite der Linie, fünfzig bis hundert Meter entfernt von den Gräben.

    Azići war ein national und religiös sehr durchmischtes Dorf. Zwei Familien waren muslimisch, die restlichen hingegen orthodox und katholisch. Dort gab es auch eine katholische Kirche, die im jüngsten Krieg zerstört wurde. Vor ihr wurden im Sommer Feiern abgehalten. Und wenn ich in Gedanken den Grund für diesen jüngsten Krieg zu entschlüsseln versuche, beschwöre ich ständig die Erinnerungen an Azići und diese religiös vielfältigen Leute. Dieses kleine Dorf war der Beweis, dass das funktionieren konnte. Und soweit ich mich erinnere, gab es dort viel gegenseitige Hochachtung. Wenn unser Nachbar Risto Berjan, ein alter serbischer Einheimischer, das Dorf passieren würde und sähe, dass irgendeine Frau im Garten war, so würde er grüßen, den Kopf aber in die andere Richtung drehen, um die muslimischen Gebräuche nicht zu verletzen. So war das dort unten beim Volk. Dort oben bei den Herrschenden war das anders.

    Im Gebäude, in dem ich heute als Mitglied des Präsidiums Bosnien und Herzegowinas diene, residierten zwischen den beiden Weltkriegen die Bane. Von 1929 war dies die sogenannte Banschaft Drina. Sarajevo war ihre Hauptstadt und der Ban war immer ein Serbe. Hier war das zuerst irgendein Velimir Popović, dann Ljuba Davidović usw.... Aber Velimir oder Ljuba… es war immer ein Serbe. Ich erinnere mich an noch eine Sache. Fast alle meine Lehrer in der Volksschule waren Serben. In der ersten und zweiten Klasse der Grundschule war meine Lehrerin die alte Dame Šušlić, eine Frau aus Serbien, die ich sehr gern hatte. In der dritten Klasse war es der Lehrer Biličar, im vierten Krstić, beide Serben. Nur eine kurze Zeit lang gab es einen Muslim namens Muhić. So war es in ganz Bosnien. Das war der Versuch der Serbisierung der Muslime. In der Schule lernten wir natürlich über König Aleksandar, der 1934 beim Attentat in Marseille getötet wurde. Ich ging damals in die vierte Klasse der Grundschule. Als der König starb, mussten an allen Häusern in der Stadt schwarze Fahnen ausgehängt werden. An unserem Haus war die schwarze Fahne vom Oktober bis April angebracht: die Städte ähnelten ein halbes Jahr lang einem schwarzen Schreckgespenst.

    Darüber hinaus wurde in manchen Schulen der Hl. Sava besungen, ein serbischer Heiliger, was die Kinder aller Religionen lernen mussten. Später wurde dies abgeschafft, dennoch wurde jeden 27. Januar das Feiern des Hl. Sava als Erzieher des Volkes fortgesetzt.

    Mehr oder weniger waren auch die Bürgermeister der Städte, insbesondere aber der Kreisstädte, durchwegs Serben. Das war der Zustand bis zum Cvetković-Maček-Übereinkommen, als Teile Bosniens der sog. Banschaft Kroatien zugeschlagen wurden. Dies war vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es kam zum Angriff auf Polen, darauf dann zum Krieg in Jugoslawien, sodass die Aufteilung ins Wasser fiel.

    Die serbische Hegemonie setzte sich auch zur Zeit des Kommunismus fort. Anfangs wurde dies durch das kommunistische ein wenig anationale Bewusstsein unterdrückt. Jedoch übernahmen die Serben die Vorherrschaft auf andere Weise, indem sie in die kommunistische Partei eintraten. Die nationale Ungleichberechtigung der Völker in Jugoslawien, in Wirklichkeit die Vorherrschaft der Serben in allen herrschenden Institutionen, führte zum Aufruhr der Slowenen und Kroaten und zum Zerfall Jugoslawiens. Die Muslime in Bosnien waren aufgeteilt, sodass es keine Muslime [im nationalen Sinne] oder Bosniaken gab, sondern muslimische Serben, die ihren Kulturverein „Gajret, und muslimische Kroaten, welche die „Narodna uzdanica hatten. Es handelte sich um den Versuch der Aufteilung Bosniens zwischen Serben und Kroaten. Der Versuch würde später seine blutige Form annehmen.

    ***

    Einige Monate vor dem Zerfall Jugoslawiens kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit der Gruppe, die als „Junge Muslime"¹⁵ bekannt ist. Das waren hauptsächlich Studenten von den Universitäten Zagreb und Belgrad und einige Schüler des Ersten und Zweiten Gymnasiums in Sarajevo. Den Kern der Gruppe bildeten Tarik Muftić, ein Student der Forstwissenschaften, Esad Karađozović, ein Medizinstudent, der 1945 von den Kommunisten getötet wurde, Emin Granov, ein Maschinentechnikstudent, Husref Bašagić, ein Bauingenieurstudent, der 1951 Jugoslawien verließ und nie wieder hierher zurückkehrte. Da war auch noch Asaf Serdarević, ein junger Agronom, der 1944 ebenfalls von den Kommunisten umgebracht wurde. Sie haben einige neue Ideen präsentiert, die eher dem entsprachen, was ich über meinen Glauben hören wollte. All das hat sich wesentlich von dem unterschieden, was wir in den Maktabs, im Religionsunterricht in den Schulen, bei Vorträgen, die wir besuchten, hörten oder in Artikeln der damaligen Zeitschriften lasen. Ich denke, dass es um das Verhältnis zwischen Wesen und Form ging – die Hodschas lehrten, unserem Verständnis nach, eher Rituale und Formen des Islam, etwas Äußeres in ihm, während sie sein Wesen vernachlässigten.

    Im März 1941 versuchten wir den Verein der Jungen Muslime auch gemäß den damaligen Vorschriften zu registrieren. Es wurde auch eine Gründungsversammlung abgehalten, es wurde bei dieser Gelegenheit auch ein Vorstand gewählt, doch Anfang April kam es zum deutschen Angriff auf Jugoslawien, sodass der Verein nie registriert wurde. Der Islam und zwei widerstrebende Grundtendenzen – nämlich Antifaschismus und Antikommunismus – bestimmten die allgemeine Orientierung der Bewegung der Jungen Muslime. Die zwei Systeme – Faschismus und Kommunismus, personifiziert in Hitler und Stalin – prägten die damalige Weltszene. Da war auch der Westen, doch das waren zwei neue Richtungen, welche die Ambition hatten, die alte Welt zu zerstören oder zu ändern. Es zeigte sich, dass das eine Illusion war. Diese sog. alte Welt bestand und änderte sich selbst weiterhin.

    In dem Augenblick als diese Bewegung Anfang der Vierzigerjahre aufgetaucht ist, war die Lage in der muslimischen Welt sehr schlecht. Es gab nur einige unabhängige muslimische Länder. Wir waren der Ansicht, dass das eine unhaltbare Lage war und dass der Islam eine lebendige Idee ist, die sich modernisieren und dabei ihr Wesen bewahren kann. Wir waren unzufrieden mit der Lage in der muslimischen Welt, wo Fremde dominierten, sei es durch Präsenz ihres Militärs oder ihres Kapitals.

    Die Organisation fand rasch Verbreitung unter den Jugendlichen, insbesondere unter Gymnasialschülern und Studenten. Wir hatten hunderte Sympathisanten in fast jeder Stadt Bosnien und Herzegowinas, darüber hinaus auch eine starke Studentengruppe in Zagreb. Im Laufe des Krieges (1941-1945) existierte eine Art stillschweigendes Übereinkommen zwischen uns und der damaligen Regierung, einander nicht anzugreifen: wir gingen nicht in direkte Konfrontationen, obwohl wir offensichtlich eine Opposition darstellten. Im Laufe von 1944 bin ich immer passiver geworden, da ich unzufrieden war, dass die Organisation einen Pakt mit El-Hidaja, der Vereinigung der Hodschas, abschloss. Nie habe ich mich mit den Hodschas verstanden, auch wenn es unter ihnen viele Leute gab, die ich achtete. Ich war der Ansicht, dass es weder einen besonderen Stand der Hodschas noch Scheichs geben sollte, und dass sie die Träger eines Verständnisses des Islam sind, der seine innere und äußere Entwicklung blockiert hat. Ich habe das öffentlich gesagt, weswegen ich auch ein wenig als ein geächteter Mann galt.

    Als der Krieg zu Ende war, haben wir unsere Tätigkeiten zur Überraschung des damaligen kommunistischen Regimes fortgesetzt. Sie haben versucht, uns davon abzubringen, als sie damit aber keinen Erfolg hatten, haben sie uns irgendwann Anfang 1946 verhaftet.

    ***

    Bereits als Kind wollte ich Jurist sein. Das war damals meine Jugendambition, ein Traum aus meinen Gymnasialtagen.

    Als ich 1949, nach 36 Monaten, das Gefängnis verließ und mich in Rechtswissenschaften einschreiben wollte, hat mich mein Onkel Šukrija, der ebenfalls Jurist war, von dieser Absicht abgebracht. Mein Vater dachte ebenso, dass ich als ehemaliger Gefängnisinsasse keinerlei Chancen in der juristischen Profession habe, denn die Kommunisten vergessen und verzeihen nicht. Ich schrieb mich in Agronomie ein, habe fast drei Jahre lang studiert und dort dreizehn Prüfungen abgelegt. Im Agronomiestudium war ich ein hervorragender Student, aber mit den vorbeiziehenden Jahren und Semestern habe ich immer mehr das Interesse an Agronomie verloren und bin letztendlich zu den Rechtswissenschaften übergegangen. Dennoch erachte ich diese drei Jahre nicht als verloren. Dort habe ich Mathematik belegt, Geodäsie, Melioration und sogar vier Chemieprüfungen, die anorganische, organische, analytische und die agrikulturelle.

    Eine interessante Erfahrung ist an diese Chemieprüfungen geknüpft. Während ich noch das Gymnasium besuchte, galt immer noch die Hypothese von der Konstanz von Materie und Energie, auch wenn Einstein schon bewiesen hatte, dass das nicht so ist. Dass durch die Spaltung von Atomen eine enorme Energie freigesetzt wird und dass es dabei zum Defekt der Masse nach der bekannten Formel E=mc2 kommt, hat Einstein noch im fernen Jahr 1905 veröffentlicht. Dennoch haben wir 35 Jahre später immer noch Newtons Physik gelernt und in der Newtonschen Welt „gelebt". Diese Welt war logisch, konstant, einbahnig, linear. Einstein hat diese Annahmen geändert. Der Weltraum ist gekrümmt, Zeit und Raum sind relativ, Materie und Energie hingegen sind konstant. Die Atombombe hat die Richtigkeit dieser unglaublichen Postulate mit Verspätung bestätigt und eine Epoche der Relativität angekündigt. Ich denke, dass sich das auf den Zeitgeist klar ausgewirkt hat. Es wurden auch einige allgemein angenommene Werte relativiert. Daher habe ich immer das Gefühl, dass ich in zwei unterschiedlichen geschichtlichen Zeitaltern gelebt habe: in meiner Jugend in einem, in meiner Reife und im Alter in einem anderen.

    ***

    Im April 1945 sind die Kommunisten in Sarajevo eingedrungen. Ihre Ära, die 45 Jahre dauern würde, hat begonnen.

    Im Herbst dieses Jahres haben wir von den „Jungen Muslimen eine Demonstration bei der Gründungsversammlung der Gesellschaft „Preporod abgehalten, welches die Kommunisten unter ihre Kontrolle bringenwollten. Wir hielten feurige antikommunistische Reden. Die Mehrheit im Saal gab uns einen donnernden Applaus und hat uns unterstützt. Mich und noch einige andere hat man an Ort und Stelle verhaftet.

    Offensichtlich war die OZNA (OZNA, Abteilung für Volksschutz), die jugoslawische politische Polizei, der Einschätzung, dass man die Bewegung bis zum Letzten erfassen sollte, sodass man uns am nächsten Tag freiließ. Wir haben uns später, weil wir „jung und dumm waren (ich war damals gerade zwanzig Jahre alt), weiterhin getroffen, sie aber haben das alles verfolgt, was ihnen ermöglicht hat, uns nach einigen Monaten zu verhaften und uns vor Gericht zu stellen. Ich wurde am 1. März 1946 mit einer Gruppe von vierzehn Gleichgesinnten verhaftet und zu drei Jahren Gefängnishaft verurteilt. Die Strafen waren nicht allzu streng verglichen zu dem, was später noch sein sollte. Wir waren die erste Gruppe der Beschuldigten und Verurteilten der „Jungen Muslime.

    Die Kommunisten würden ihre Ansichten über die Bewegung der „Jungen Muslime und selbst ihre Vorgehensweisen ändern, als sie zur Überzeugung gekommen sind, dass die Organisation trotz aller Verfolgung wächst. Alle Zeichen sprachen dafür, dass die Idee der Jungen Muslime sich im Volk breit macht, insbesondere unter der Jugend. Sie haben 1947 eine neue Gruppe verhaftet und verurteilt, im Jahr darauf einige Gruppen, um 1949 dann zu entscheiden, mit der Organisation endgültig abzurechnen. Damals wurden in Bosnien und Herzegowina fast tausend Menschen verhaftet. Das war die „Zeit des Informationsbüros (IB) – des Konflikts zwischen Jugoslawien und Stalin. Die Regierung stand unter Druck durch Stalins Vorwürfe, dass sie nachgiebig sei, dass antikommunistische Elemente im Land im Aufwind seien, sodass sie zu beweisen versuchte, dass das nicht so ist. Sie vertrieb die IB-ler (die Anhänger Stalins) und gleichzeitig auch uns. Aber man kann sagen, dass diese Abrechnung für die IB-ler viel schlechter ausgegangen ist. Es stimmt, dass eine Zahl unserer Leute im Gerichtsverfahren, das im Sommer 1949 abgehalten wurde, zum Tode verurteilt wurde. Doch der Umgang mit den Anhängern Stalins war vom menschlichen Standpunkt aus gesehen viel grober. Unsere Leute haben schwierige Dinge über sich ergehen lassen, aber sie waren nicht so erniedrigend wie bei den IB-lern. Uns hielt man im Gefängnis, in der Überzeugung, dass wir aussterben oder eines Tages nachlassen würden, während man jene umzuerziehen versucht hat, was bedeutete sie ideell zu brechen. Von unseren vier Freunden, die zum Tod verurteilt wurden, war Hasan Biber der älteste. Er war damals 27 Jahre alt; Nusret, der Jüngste, war nicht mal 20. Im Bittgesuch um Begnadigung haben seine Eltern geschrieben, dass ihr Nusret noch ein Kind ist. Das hat die damalige Staatsmacht jedoch nicht milde gestimmt. Auf der Entscheidung, mit der das Bittgesuch um Begnadigung abgelehnt wurde, befand sich die Unterschrift eines Mannes, den die Kommunisten einen „bekannten Humanisten nannten. Das war Moša Pijade, der Präsident des damaligen Präsidiums. 1914 hat Gavrilo Prinčip, der serbische Nationalist, in Sarajevo ein Attentat auf den österreichischen Prinzen verübt. Er wurde nicht zum Tode verurteilt, obwohl er den Thronfolger und seine schwangere Frau Sofia getötet hatte, weil er jünger als 21 Jahre alt war. Moša Pijade, der „Humanist, war der Autor des jugoslawischen Strafgesetzbuches, demnach die Todesstrafe auch über einen älteren Minderjährigen (Personen über 16 aber unter 18 Jahren) verhängt werden konnte. Die Opfer einer solchen Gesetzgebung und Vollziehung waren diese jungen Menschen, die sich tatsächlich nichts zu Schulden kommen ließen, außer anders zu denken. In der Anklage wurde ihnen Terrorismus zugeschrieben, den es nie gegeben hat. Heute weiß man zweifelsfrei, dass sich ihr muslimischer Aktivismus in einigen Schreiben, Zuschriften, Treffen und gewissem verbalen, psychologischen Widerstand gegenüber dem damaligen kommunistischen Regime erschöpfte.

    ***

    Im Gefängnis habe ich drei Jahre verbracht, vom März 1946 bis März 1949. Außer, dass ich die halbe Zeit ziemlich hungrig war, kann ich nicht behaupten, dass ich irgendwelchen anderen Torturen ausgesetzt war.

    Während der Ermittlungen in Erwartung einer Anklage, befand ich mich im Militärgefängnis der Kaserne „Maršal Tito in Sarajevo. Das ist ein Gebäude neben der Technischen Schule – dort war das Militärgericht. Ich war in einem Zimmer untergebracht, in dem die Hälfte der Menschen zum Tod verurteilt war und auf die Entscheidung über ihre Berufungen warteten. Das waren meist Unterschlupfgeber von Tschetniks oder irgendwelche Schuldige aus dem Krieg. Als ich zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, meinten alle, dass das nichts ist, und es war natürlich auch nichts verglichen zu den anderen. Jedoch sind für ein Leben, das sechzig oder siebzig Jahre dauert, drei Jahre mehr als tausend Tage und Nächte. Ich wurde zur Ableistung der Strafe nach Zenica gebracht, doch blieb ich dort nicht lang. Nach zwei Monaten wurde ich ins Gefängnis „Stolac versetzt. In Stolac hielt ich mich sieben Monate auf, danach aber bin ich als Häftling mit geringer Strafe zu Baustellen überstellt worden. An Baustellen am Boračko-See habe ich an einem Ferienhaus der UDBA¹⁶ gebaut, wo sich später „meine" UDBA-Leute erholen sollten, Leute die ich im Zuge der Ermittlungen kennengelernt habe. Dann habe ich eine Zeit lang in Sarajevo an einem Gebäude des Zentralkomitees der KP gearbeitet. Im dritten Haftjahr wurde ich in ein Lager an der ungarischen Grenze, ans Gut Belja bei Beli Manastir, verbracht.

    Ihr wisst nie, was gut oder schlecht für euch im Leben ist. Wenn ich nicht 1946 eingesperrt worden wäre, was ich und die meinen für ein großes Unglück hielten, hätte ich 1949 den Kopf verloren. Das ist ziemlich sicher, denn auf dem Platz in der Organisation wurde ich, da ich verhaftet wurde, von Halid Kajtaz ersetzt. Halid wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt und wurde im Oktober 1949 erschossen. Der frühe Abgang ins Gefängnis hat mir das Leben gerettet, und so auch dieser Fortgang an die ungarische Grenze. Man wollte mich bestrafen, indem man mich 400 km weit von meiner Familie wegschickt. Sie wussten jedoch nicht, dass sie mir damit etwas Gutes tun. Das war ein großes landwirtschaftliches Gut, dort gab es viel zu essen. Überall gab es auf offenen Plätzen gehäufte Kartoffeln, die wir Häftlinge gebraten haben.

    Dort habe ich als Holzfäller gearbeitet. Ich wurde ziemlich geschickt bei dieser Arbeit. Später dachte ich, wenn ich jemals im Leben körperliche Arbeit verrichten und so mein Brot verdienen müsste, so würde ich unter die Forstarbeiter gehen. Von allen körperlichen Arbeiten – und ich habe viele gemacht – war mir diese am attraktivsten. Mit Holzfällen war ich den gesamten Winter von 1948 auf 1949 beschäftigt. Wir fällten Bäume, die zum Heizen bestimmt waren. Man musste sie mit Handsägen auf die Länge von je einem Meter zuschneiden, sie zu Holzscheiten zuhaken und sie schlichten. Es gab ein gewisses Tagespensum, das wir erfüllen mussten. Da es überall Holz gab, machten wir Lagerfeuer, brieten Kartoffeln und so verbrachte ich dort die letzten sechs Monate in durchaus gutem Zustand, entgegen dem, was die UDBA-Leute für mich vorgesehen hatten. Als ich die Haft verließ, war ich vierundzwanzig Jahre alt und war völlig erholt. Meine Familie weinte vor Freude, als sie sahen, wie gut ich aussah. Die Menschen wollten eines, Gott wollte etwas anderes.

    ***

    Nicht allzu lang nach der Entlassung aus dem Gefängnis heiratete ich ein Mädchen, das ich seit meinem achtzehnten Lebensjahr kannte. Halida war sehr schön, was man über mich nicht sagen konnte. Wir haben uns während des Krieges kennengelernt und wir trafen uns, wann immer die Sirenen Luftangriffe ankündigten. Dies kam immer öfter vor, denn britische Flugzeuge, die von Stützpunkten in Italien starteten, haben Sarajevo in immer kürzeren Abständen, manchmal auch mehrmals am Tag überflogen, um Bomben auf Ziele in Ungarn abzuwerfen. Manchmal haben sie ihre todesbringende Ladung auf die Stadt abgeworfen. Während die Menschen panisch in Keller und Zufluchtsorte flohen, würden Halida und ich auf der Straße bleiben, würden uns, überzeugt davon, dass uns nichts passieren könne, auf irgendeinen Stein oder die nächste Bank setzen. Wir zwei waren sicherlich die einzigen in der Stadt, die sich über den Klang der Sirenen, die einen möglichen Angriff ankündigten, freuten.

    Als ich für drei Jahre ins Gefängnis kam, haben wir fortgesetzt, einander feurige Briefe zu schicken, in denen, neben „Liebe, das häufigste Wort „Ewigkeit war – ein Wort, das Menschen ansonsten nur allzu leichtfertig und verantwortungslos verwenden. Ich nehme an, dass sich meine Gefängniszensoren beim Lesen unserer Briefe, die voll von großen Worten waren, gut unterhalten haben. Wir gaben unseren Gefühlen Ausdruck, welche Trennung und Qual nur noch mehr verstärkten.

    Dass Frauen schön sind, habe ich aber zum ersten Mal bemerkt, als ich sieben oder acht Jahre alt war. Als Junge begleitete ich meine Mutter bei Besuchen, damit sie nicht allein zurückginge. Bei einer Gelegenheit nahm sie mich zu einer Trauung bei einer alten Kopftuchträgerin mit. Das war ein Nikah¹⁷, eine Abendzeremonie, Bestandteil der religiösen Eheschließung. Mir erschien diese Frau magisch, soll meinen, dass ich nicht von ihr wegblicken konnte. War das vollkommen reine Bewunderung? Ich erinnere mich, dass ich später eine Art unbestimmtes Schuldgefühl deswegen verspürte.

    Da ich dann verheiratet war, war ich immer mehr in der Umgebung des weiblichen Geschlechts. Außer meiner Frau Halida waren da auch unsere beiden Töchter Lejla und Sabina und darauf eine Serie von fünf Enkelinnen. D. h. in unmittelbarer Nähe von acht Vertreterinnen des schwachen Geschlechts. Ich kannte das Leben und die Probleme der Frauen. Ich war Gott gegenüber dankbar, ein Mann zu sein und es schien mir, dass mich das zu einer Art Solidarität mit Frauen als dem weniger glückvollen Teil der Menschheit verpflichtete.

    Die erste Enkelin, Selma, wurde vor 24 Jahren geboren. Meine tiefsten Gefühle sind mit diesem Mädchen verbunden. Das, was ich für dieses kleine Geschöpf verspürte, habe ich weder davor noch danach gegenüber irgendwem empfunden. Über sie habe ich eine liebe und lustige Erinnerung. Ich sollte nach Libyen reisen und dort fünfzehn Tage bleiben, meine Tochter, mein Schwiegersohn und die kleine Selma, die damals keine vollen zwei Jahre alt war, sind ans Meer gegangen und ich hatte sie schon zwei Wochen lang nicht gesehen. Nun sollte ich verreisen und Selma noch weitere fünfzehn Tage nicht sehen. Das war bereits zu viel zum Ertragen. Ich drängte meine Frau, für einen Tag zu ihnen zu gehen, um Selma zu sehen, um dann nach Sarajevo zurückzukommen und mich auf die Reise aufzumachen. Ich erinnere mich, wie sich Halida mit Recht ärgerte: zuerst mussten wir mit dem Zug reisen, dann mit der Fähre zur Insel, wo sie sich aufhielten, dann per Anhalter, denn auf der Insel gab es keine Busse, es waren aber brennend heiße Sommertage. Glücklich sind die Menschen, die ein gewisses Maß an Verrücktheit haben. Ich denke, dass ich einer von ihnen war.

    ***

    Als ich 1949 freikam, habe ich mich erneut mit der Organisation der Jungen Muslime über rahmetli Hasan Biber, einen der führenden Mitglieder der Organisation, in Kontakt gesetzt.

    Hasan gab mir nicht sofort irgendeine wichtige Aufgabe. Er bat mich, einige Artikel für das damalige Blatt „Mudžahid" zu verfassen, das im Geheimen erschien. Meine Treffen mit Hasan dauerten weniger als 40 Tage, da er am 11. April verhaftet wurde. Später erfuhr ich, dass man Hasan bei den Ermittlungen schrecklich unter Druck setzte, zuzugeben, dass ich wieder mit der Organisation in Verbindung stehe. Hätte er das zugegeben, hätte ich mich erneut in langjähriger Haft wiedergefunden. Er ist jedoch hart geblieben, sodass er ausgesagt hat, dass er nichts davon wüsste. Auch andere haben gesagt, dass sie nichts wissen, denn die anderen haben es auch nicht gewusst. Hasan Biber wurde im Prozess, der im Juli 1949 abgehalten wurde, zum Tode verurteilt und wurde im Oktober erschossen. Im Rahmen dieser Prozesse kam es zu einer massiven Verhaftungswelle in ganz Bosnien. Die Verhaftungen haben mit einer Razzia in der Organisation in Mostar im Januar 1949 begonnen. Es wurden geheime Listen und Niederschriften entdeckt. Es würde darauf die Verhaftung einer großen Gruppe unserer Studenten in Zagreb folgen und es würde zu einer Reihe von Prozessen kommen, wovon der in Sarajevo im Juli/August 1949 der größte und tragischste war. In Sarajevo wurde etwas später auch mein guter Freund und Arbeitskamerad Ešref Čampara verhaftet, ein Professor, der immer noch lebt, und der zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Das war Ešrefs zweiter Gefängnisaufenthalt, denn das erste Mal wurde er mit mir im Prozess von 1946 verurteilt.

    Wenn man alle Urteile aus allen Prozessen dieser Jahre zusammenrechnet, denke ich, dass die „Jungen Muslime" zu einigen tausend Jahren Haft verurteilt wurden. Mit den Prozessen, die 1949-1951 abgehalten wurden, wurde die Organisation vollkommen zerstört. Alle Hauptpersonen befanden sich im Gefängnis, alle anderen haben sich zerstreut und sind untergetaucht, sodass die Organisation praktisch nicht mehr bestand. Es gab nur mehr einzelne Mitglieder, die diese Idee weiter in sich getragen haben. Man sah einander zwar, und das sehr vorsichtig und zurückhaltend, aber das war keine organisierte Arbeit mehr.

    ***

    Die Kommunisten fanden sich in der Staatsorganisation und dem alltäglichen Leben der Menschen nur schwer zurecht. Sie waren zu sehr mit politischen Gegnern beschäftigt. Das lag in der Natur des Systems von China bis Jugoslawien. Als ich 1949 aus dem Gefängnis kam – es war aber vier Jahre nach dem Krieg – fand ich Sarajevo in einem erbärmlichen Zustand vor. So war es im ganzen Land. Ich erinnere mich gut an die erste Konfrontation mit der Stadt und an meine Erschrockenheit.

    Vor der Entlassung aus dem Lager an der ungarischen Grenze bat mich ein Häftling, ein Politischer genauso wie ich, der einst Straßenbahnkonduktor war, seiner Frau einen Brief von ihm mitzunehmen. Er erklärte mir, dass seine Frau in einem Gemüseladen, in der Straße zwischen Kaiserbrücke und Baščaršija arbeitet. Ich fand sie in einem Geschäft vor und während sie den Brief las, habe ich mir den Laden angesehen. In ihm gab es nichts außer fünf, sechs Kisten weißer Rüben. Es war kalt, die Frau und der Kaufmann waren in Decken gehüllt, da es im Geschäft keine Spur von einer Heizung gab. Ich fragte „Was verkauften Sie hier? „Das, was Sie hier sehen, antworteten sie und ergänzten, dass sie manchmal etwas Kartoffeln bekommen, aber dann bilden sich sofort Schlangen. Unter Gleichen waren jedoch einige „gleicher. Für das gemeine Volk, d. h. für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, gab es etwas Mehl, Zucker und Öl gegen Bons und Textilien für Punkte. Für die Begünstigten gab es sog. ministerielle Magazine. Es gab drei Kategorien dieser Magazine. Die Schwester meiner Frau arbeitete in einem von ihnen für die dritte Kategorie der Begünstigten, das den Namen „Nummer 3 trug. In jenen unter „Nummer 1 wurde die militärische und politische Spitze versorgt und das unbegrenzt. In diesen Magazinen gab es alles Mögliche, von pasteurisierter amerikanischer Milch bis zu Schokolade diverser Art. Diese besondere Sorge um die herrschende Kaste haben die Jugoslawen von den Russen kopiert. In den Ländern des sog. Realsozialismus (UdSSR und Satellitenstaaten) gab es ein Parteikadermonopol, das durch das System der sog. Nomenklatur verwirklicht wurde. Die Nomenklatur ist die Liste der wichtigsten Posten in Politik, Wirtschaft, Kultur, auf die man nur mit Genehmigung des Parteikomitees kommt oder es verlässt. Die Nomenklatur besteht in Wirklichkeit aus zwei Listen – eine Liste der in Übereinstimmung mit dem verantwortlichen Parteiorgan verfügbaren Plätze und eine Liste der Individuen, die für diese Plätze ausgewählt werden können. Beide Listen werden nur intern publiziert. An die Nomenklatur sind Privilegien geknüpft, die einen Kastencharakter haben (hohe Gehälter, Geschenke, spezielle Wagone, besondere Schulen für Kinder, Zugang zu medizinischen Einrichtungen geschlossenen Typus, besondere Versorgungsmagazine usw.) und die nach Rang verteilt werden, absteigend nach Qualität, Auswahl und Umfang, von der Spitze nach unten. Eva Berković beschrieb im Buch Socijalne nejednakosti u Jugoslaviji [Soziale Ungleichheit in Jugoslawien] ähnliche Privilegien auch bei uns (Gehälter, Villen, Wohnungen, Automobile, günstige Urlaubsanlagen usw.), die vom föderalen aufs republikanische und Gemeindeniveau ausgebreitet wurden. „Jede öffentliche, ja selbst parteiinterne Diskussion über Privilegien, wurde als antisozialistisch und staatsfeindlich blockiert, schreibt E. Berković. Es ist überflüssig zu erklären, dass das Bestehen der Nomenklatur jegliche Wahlen sinnlos machte und aus ihnen eine Farce fürs naive Volk machte. Die Geschäfte in Sarajevo waren leer, dafür waren aber die Gefängnisse voll, hauptsächlich mit Informationsbürolern, Jungen Muslimen und von Leuten mit etwas spitzerer Zunge. Als sie alle Gefängnisse, die vom alten Jugoslawien und den Ustascha übriggeblieben sind, vollhatten, formierten sie ein zusätzliches Lager in der Čengić-Villa – man nannte es „Lager 505, in dem einige tausend Menschen waren. Die Lage änderte sich nicht bis 1952. Das war diese „linke soziale und politische Gerechtigkeit. Bis 1966, d. h. 21 Jahre, herrschte in Jugoslawien als Oberpolizist Aleksandar Ranković. Etwas Wohlstand und sehr beschränkte Freiheit spürte man hingegen erst 1975-1978, d. h. nach mehr als dreißig Jahren kommunistischer Herrschaft, und selbst das für den Preis der Unfreiheit des öffentlichen Wortes und für 20 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden.

    10 Anm. d. Übers.: Ein im Bosnischen unter Muslimen übliches osmanisches Attribut vor oder nach der Nennung von Verstorbenen, das wörtlich „erbarmt bedeutet und der Bedeutung und Funktion nach in etwa dem Deutschen „Gott sei seiner selig entspricht.

    11 Anm. d. Übers.: Arabisch für „Rumpfbeugung", die Teil der Bewegungsabläufe des islamischen rituellen Gebets ist. Damit werden gemeinhin aber auch die Einheiten selbst bezeichnet, aus denen sich jedes islamische rituelle Gebet zusammensetzt.

    12 Anm. d. Hrsg.: ar-Rahman (Der Allergnädigste) ist ein Attribut Gottes und zugleich der Name der 55. Sure des Korans. Siehe: Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran - Übersetzung und Kommentar, Patmos Verlag, 2009, S. 1014.

    13 Anm. d. Übers.: Arabisch für „Wissender", womit regelmäßig islamische Gelehrte bezeichnet werden.

    14 Anm. d. Übers.: Ein in Bosnien nicht einmal unter bosnischen Serben (zumindest vor dem Krieg) verbreiteter Dialekt, der in Serbien hingegen Standard war.

    15 Anm. d. Übers.: Im Original: „Mladi Muslimani".

    16 Anm. d. Übers.: Abkürzung für „Uprava državne bezbijednosti, übersetzt „Abteilung der Staatspolizei, bei der es sich um die jugoslawische Geheimpolizei handelte.

    17 Anm. d. Übers.: Arabisch für „Ehe". Gemeinhin war damit entweder eine islamische Eheschließung bzw. die Ehe selbst nach islamischem Recht gemeint.

    Kapitel II

    Sarajevoer Prozess

    Islamische Deklaration. Jahr 68. Islam zwischen Ost und West. Gedanken über ruhmvolle Verluste. Verhaftung am 23. März 1983. Anklage und Verteidigung. Zeugen ziehen Aussagen zurück. Verurteilt zu 14 Jahren Gefängnis. Verbales Delikt. Petitionen Belgrader Intelektueller. Gefängnis, Foča. Ins Zimmer mit Mördern. Albaner im Gefängnis von Foča.

    Schlussendlich habe ich mich 1954 zu den Rechtswissenschaften umgemeldet. Ich habe im November 1956 diplomiert. So habe ich mir meinen Jugendtraum erfüllt.

    Jedoch habe ich viel von meinem Brot in Bauunternehmen verdient. Fast zehn Jahre habe ich in einer Baufirma gearbeitet, davon sieben in Montenegro, wo ich Chef einer Baustelle beim Bau des Wasserkraftwerks „Perućica" bei Nikšić war. Meine Firma baute einen großen, fast vier Kilometer langen Drucktunnel, das Eingangsgebäude der Zentrale, die Rohrleitungen, die zur Turbine des Wasserkraftwerks bei Glava Zete führt, die Zuflusskanäle und die Abdichtung enormer Absenkungen im Nikšić-Becken, damit das Wasser der Zeta Richtung Tunnel und Turbinen gelenkt würde.

    In dieser Zeit habe ich versucht, einige Artikel zum Islam zu schreiben. Die Mehrheit davon wurden nie veröffentlicht. 1969 habe ich einen Entwurf für den Text der Islamischen Deklaration verfasst, die ich 1979 final redigiert habe und in alle Welt schickte.

    Dieser nicht allzu lange Text (ca. 40 Seiten) hat erst nach dem Sarajevoer Prozess von 1983 Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er wurde mit gleicher Leidenschaft verteidigt wie angegriffen. Obwohl in Sarajevo verfasst, war die Deklaration an die islamische Welt gerichtet. Darüberhinaus wurde Jugoslawien darin nicht einmal erwähnt. Die Idee, welche in diesem Text dominierte lautete: nur der Islam kann die Vorstellungskraft der muslimischen Massen inspirieren und sie dazu befähigen, etwas für ihre eigene Geschichte zu tun. Mit dem Westen verknüpfte Ideen können das nicht. Die Botschaft wurde als fundamentalistisch angegriffen, was sie in einem speziellen Sinne auch war – sie rief zur Rückkehr zu den Quellen. Auch wenn sie autoritäre Regime verurteilte, die Erhöhung der Ausgaben für Bildung verlangte, sich für eine neue Stellung der Frau, Gewaltlosigkeit und Minderheitenrechte einsetzte, wurde der Deklaration im Westen primär mit großer Reservation begegnet. Ich denke, dass sie ihr nicht die Tatsache verzeihen konnten, dass sie den Islam in das Zentrum des Problems setzte.

    Unmittelbar davor wehte „1968" wie eine Art Fieber durch die Welt. Es wollte noch einmal etwas, das in diesem Augenblick der Geschichte nicht mehr verwirklichbar war – es versuchte, Ideale der Vergangenheit zurück ins Leben zu rufen. Alles, was später passierte – die konservative Bewegung im Westen und religiöse Erneuerung überall in der Welt – zeigen, dass die Ideale der 68er außerhalb der Zeit und des allgemeinen Geschichtsflusses standen. Was noch wichtiger ist, diese Ideale waren nicht mehr so unschuldig, wie sie es Anfang des 20. Jahrhunderts waren, da sie schon durch schwere Sündenfälle in ihrer Anwendung belastet waren. In diesem Jahr habe ich am Buch Islam zwischen Ost und West zu arbeiten begonnen. Man kann sagen, dass ich dieses Buch vor langer Zeit geschrieben habe, in jener Zeit unmittelbar vor der Haft 1946. Es befand sich mehr als zwanzig Jahre in Manuskriptform versteckt. Als ich 1946 verhaftet wurde, hat meine Schwester Azra (gestorben 1997) das Manuskript unter einem Balken auf dem Dachboden unseres Hauses versteckt. Als ich es fand, war das ein Bündel halbverfaulten Papiers. Den Text habe ich mit etwas neueren Fakten ergänzt, abgeschrieben und einem Freund in Kanada geschickt, um erst 1984 in einem amerikanischen Verlagshaus erst veröffentlicht zu werden, als ich bereits zum zweiten Mal, verurteilt zu vierzehn Jahren Haft, im Gefängnis war.

    Im Buch habe ich versucht herauszufinden, welchen Platz der Islam in der heutigen Welt der Ideen und Tatsachen hat. Es schien mir, dass er sich irgendwo zwischen östlichen und westlichen Ideen befindet, genau wie die geographische Position der muslimischen Welt, die den Raum zwischen Ost und West in der Welt umfasst. Ich habe versucht zu beweisen, dass einige Werte allen Menschen gemein sind. Der Inhalt des Buches ist im Wesentlichen folgender: Es gibt nur drei Weltanschauungen und mehr kann es nicht geben: die religiöse, die materialistische und die islamische. Alles ist in Paaren erschaffen (Koran). Der Mensch ist ein duales Wesen: Körper und Seele. Der Körper ist nur „Träger der Seele". Dieser Träger ist tatächlich evolviert, er hat daher eine Geschichte, die Seele hingegen nicht, diese hat Gott in seiner Berührung eingehaucht. Die erste Seite des Menschen ist Gegenstand der Wissenschaft, die zweite der Religion, Kunst, Ethik. Es gibt daher zwei Geschichten und zwei Wahrheiten vom Menschen. In der westlichen Welt werden diese von Darwin und

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