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Die Häßlichen Schwäne: Die beste Science-Fiction der Welt
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eBook320 Seiten4 Stunden

Die Häßlichen Schwäne: Die beste Science-Fiction der Welt

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Über dieses E-Book

Der schriftsteller [ victor banev ] lebt in verbannung in einer provinzstadt. in derselben gegend trat einige zeit zuvor eine krankheit, genannt "brillenkrankheit" auf, deren opfer in einem leposorium leben. diese kranken, "näßlinge" genannt, haben aber dennoch freien zugang zur stadt. schon bald treten merkwürdige veränderungen in der stadt auf. die katzen verschwinden, das wetter besteht nur noch aus regen und nebel. die näßlinge werden von der stadtbevölkerung mehr und mehr angefeindet, es kommt zu gewalttätigen übergriffen.
als die näßlinge die kinder der stadt zu sich holen, wollen die stadtbewohner das leposorium stürmen und die näßlinge umbringen. das militär, unter dessen schutz die kranken stehen, kann dies verhindern. banev erfährt von einem näßling, mit dem er bekannt ist, daß die brillenkrankheit keine erkrankung, sondern ein evolutionärer schritt in der menschlichen entwicklung ist. die näßlinge wollen zusammen mit den kindern eine neue welt aufbauen. die stadt wird evakuiert, die näßlinge beginnen ihr vorhaben.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juni 2023
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    Buchvorschau

    Die Häßlichen Schwäne - Arkadi Strugatzki

    Arkadi Strugatzki, Boris Strugatzki

    Die Häßlichen Schwäne

    Die beste Science-Fiction der Welt

    Die Häßlichen Schwäne

    by Arkadi und Boris Strugatzki

    Kapitel 1

    Als Irma sorgsam die Tür hinter sich geschlossen hatte, steckte sich Viktor bedächtig eine Zigarette an. Mager war sie, langbeinig, ein höfliches Erwachsenenlächeln auf dem großen Mund und die Lippen grellrot geschminkt wie die ihrer Mutter. Sie ist kein Kind mehr, dachte er erschüttert. Kinder sprechen anders. Und sie war auch nicht grob, sondern grausam, ja schlimmer noch: Es war ihr einfach egal. Als ginge es darum, uns einen Lehrsatz zu beweisen, hatte sie alles durchgerechnet und analysiert, uns anschließend nüchtern das Ergebnis mitgeteilt und sich dann seelenruhig, mit wippenden Zöpfen, entfernt. Viktor bezwang sein Unbehagen und sah zu Lola hinüber. Ihr Gesicht war hektisch gerötet, und die grellroten Lippen zuckten, als wollte sie jeden Augenblick losweinen, aber sie dachte gar nicht daran – sie schnaubte vor Wut.

    »Hast du das gesehen?«, sagte sie schrill. »Eine Rotznase, eine Göre – und schon so ein Biest! Nichts ist ihr heilig, jedes Wort eine Beleidigung, als wäre ich nicht ihre Mutter, sondern ein Scheuerlappen, an dem man sich die Füße abtritt. Man schämt sich vor den Nachbarn! So ein Aas, so ein Miststück …«

    Und mit dieser Frau war ich verheiratet, dachte Viktor. Ich bin mit ihr in den Bergen gewandert, habe ihr Baudelaire vorgelesen und bin bei der Berührung mit ihr zusammengezuckt, ihr Geruch war mir so vertraut, ja, ich glaube, ihretwegen habe ich mich sogar einmal geprügelt. Ich weiß bis heute nicht, was sie dachte, wenn ich ihr Baudelaire vorlas. Erstaunlich, dass ich von ihr losgekommen bin. Ein Wunder, dass sie mich hat gehen lassen. Wahrscheinlich war mit mir auch nicht gut Kirschen essen. Ist es sicher heute noch nicht, aber damals habe ich noch mehr getrunken als heute und mich obendrein für einen großen Dichter gehalten.

    »Dich kümmert das natürlich nicht«, schnaubte Lola. »Du lebst in der Hauptstadt und amüsierst dich mit Tänzerinnen und Schauspielerinnen. Ich weiß alles. Bilde dir bloß nicht ein, dass wir hier nichts davon wissen: von dem vielen Geld, deinen Weibergeschichten und den endlosen Skandalen. Wenn’s dich interessiert, mir ist das alles völlig egal, ich hab dir nie Steine in den Weg gelegt, und du kannst tun und lassen, was du willst …«

    Lola verliert dadurch, dass sie zu viel redet. Als junges Mädchen wirkte sie still, schweigsam und geheimnisvoll. Es gibt Mädchen, die von Natur aus wissen, wie sie sich verhalten sollen. Und Lola war so ein Mädchen. Auch jetzt ist sie reizvoll, wenn sie so still auf der Couch sitzt und man ihre Knie sieht, wenn sie plötzlich die Arme hinter den Kopf legt und sich räkelt. Auf einen Provinzadvokaten muss das enorm wirken … Viktor malte sich einen gemütlichen Abend aus: das Tischchen vor die Couch gerückt, darauf eine Flasche, daneben perlender Sekt in Gläsern, eine Tafel Schokolade mit Schleifchen und der Advokat mit gestärktem Hemd und einer Fliege. Alles, wie es sich gehört, und plötzlich kommt Irma herein … Schrecklich, dachte Viktor. Lola ist nicht zu beneiden.

    »Dir dürfte einleuchten«, begann Lola, »dass es nicht ums Geld geht. Geld ist jetzt nicht das Entscheidende.« Sie hatte sich schon wieder etwas beruhigt, und die Röte war aus ihrem Gesicht gewichen. »Ich weiß, dass du auf deine Art ein anständiger Kerl bist, unberechenbar, ja, und ohne Halt, aber im Grunde anständig. Du hast uns immer geholfen, und ich habe dir dahingehend nichts vorzuwerfen. Was ich jetzt brauche, ist eine andere Art von Hilfe. Ich kann zwar nicht von mir behaupten, dass ich glücklich bin, aber du hast mich auch nicht unglücklich gemacht. Du hast dein Leben, und ich habe meins. Ich bin auch noch keine alte Frau und habe noch was vor mir …«

    Ich werde das Mädchen mitnehmen müssen, dachte Viktor. Lola hat, wie es scheint, schon alles entschieden. Wenn Irma hierbleibt, macht sie ihr das Leben zur Hölle. Gut, und was fange ich mit ihr an? Mal ehrlich. Ganz ehrlich. Das hier ist kein Spiel … Viktor dachte an sein Leben in der Hauptstadt. Nein, dachte er, das geht nicht. Natürlich könnte ich mir eine Haushälterin nehmen, dann müsste ich mir auf Dauer eine Wohnung mieten … Aber eine Lösung wäre das auch nicht, ich kann das Mädchen ja nicht der Haushälterin überlassen, sie sollte bei mir sein. Man sagt, Kinder, die vom Vater erzogen wurden, seien die besten Kinder. Außerdem gefällt mir Irma – trotz ihrer merkwürdigen Art. Und überhaupt ist es meine Pflicht. Als Mensch und als Vater. Ich habe da einiges wiedergutzumachen. Aber das tut hier nichts zur Sache. Mal ganz ehrlich: Ich habe Angst. Weil sie dann mit ihrem Erwachsenenlächeln und dem großen Mund vor mir stehen wird. Und was sage ich ihr dann? Lies so viel wie möglich, lies jeden Tag, mehr brauchst du nicht zu tun, Hauptsache, du liest. Aber das weiß sie auch ohne mich, und sonst habe ich ihr nichts zu sagen. Deshalb habe ich Angst. Aber auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Ich habe keine Lust – das ist es. Ich bin ans Alleinsein gewöhnt. Ich bin am liebsten allein. Anders will ich gar nicht leben. So sieht’s aus, wenn ich ehrlich bin. Die Wahrheit ist immer scheußlich. Zynisch, egoistisch und gemein. So ist das mit der Ehrlichkeit.

    »Warum sagst du nichts?«, fragte Lola. »Fällt dir denn gar nichts dazu ein?«

    »Doch, doch, ich höre dir zu«, erwiderte Viktor hastig.

    »Du und zuhören! Ich warte schon seit einer halben Stunde, dass du mich einer Antwort würdigst. Schließlich ist Irma auch dein Kind …«

    Muss ich ihr gegenüber auch ehrlich sein? Eigentlich möchte ich das nicht. Anscheinend bildet sie sich ein, dass man so eine Frage auf der Stelle, zwischen zwei Zigaretten entscheiden kann.

    »Ich verlange ja nicht, dass du sie zu dir nimmst«, erklärte Lola. »Dass du das nicht tust, weiß ich. Gott sei Dank, kann ich nur sagen, denn zum Erzieher taugst du wirklich nicht. Aber du hast doch Beziehungen, du kennst eine Menge Leute, immerhin bist du ein ziemlich bekannter Mann – hilf mir, sie irgendwo unterzubringen! Es gibt doch privilegierte Lehranstalten, Internate, Spezialschulen. Irma ist eine gute Schülerin, sie hat eine Begabung für Sprachen, für Mathematik und Musik …«

    »Ein Internat«, überlegte Viktor. »Ja, natürlich – ein Internat, ein Waisenhaus … Nein, nein, das war nur ein Scherz. Darüber sollte man nachdenken.«

    »Was gibt es da groß nachzudenken? Jeder wäre froh, wenn er sein Kind in einem guten Internat oder an einer Spezialschule unterbringen könnte. Die Frau unseres Direktors …«

    »Hör zu, Lola«, sagte Viktor. »Das ist eine gute Idee, ich werde meine Fühler ausstrecken, wenn’s auch nicht so einfach ist, wie du dir das vorstellst. Aber ich werde einen Brief schreiben.«

    »Einen Brief! Das ist typisch für dich. So was bespricht man persönlich, da muss man schon an ein paar Türen klopfen! Du hast doch hier sowieso nichts zu tun, säufst und hurst nur rum. Kannst du wirklich nicht mal für die eigene Tochter …«

    Verdammt, dachte Viktor. Wie soll ich ihr das nur erklären? Er steckte sich noch eine Zigarette an, stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Draußen wurde es dunkel, und nach wie vor rauschte eintönig der Regen, ganz ohne Eile, er dachte gar nicht daran aufzuhören.

    »Mein Gott, hab ich dich satt!«, zischte Lola unerwartet feindselig. »Wenn du wüsstest, wie satt ich dich hab …«

    Es wird Zeit, dass ich gehe, dachte Viktor. Jetzt kommt sie mir mit ihrem heiligen Mutterzorn, mit dem Groll der Verlassenen … Heute klären wir das ohnehin nicht mehr. Und versprechen werde ich ihr auch nichts.

    »Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen«, fuhr sie fort. »Weder als Ehemann noch als Vater. Ein Modeschriftsteller, sonst nichts! Nicht mal die eigene Tochter kannst du erziehen. Jeder Bauer hat mehr Menschenkenntnis als du! Was soll ich bloß machen? Du bist wirklich gar keine Hilfe. Allein kann ich nichts ausrichten. Für Irma bin ich eine Null, jeder ›Nässling‹ ist ihr hundertmal wichtiger als ich. Du wirst dich noch wundern! Wenn du ihr nichts beibringst, bringen sie’s ihr bei! Du wirst noch erleben, dass sie dir ins Gesicht spuckt, genauso wie mir …«

    »Hör auf, Lola.« Viktor zog eine Grimasse. »Weißt du, du bist irgendwie … Ich bin der Vater, das ist richtig, aber du bist doch die Mutter. Bei dir sind immer die anderen schuld …«

    »Verschwinde!«

    »Hör zu, ich habe nicht die Absicht, mit dir zu streiten. Eine Ad-hoc-Entscheidung will ich auch nicht treffen. Ich werde darüber nachdenken. Du aber …«

    Hochaufgerichtet stand sie vor ihm und zitterte; sie wartete nur auf seine Vorwürfe, um dann genüsslich einen Streit vom Zaun zu brechen.

    »Du aber«, sagte er ganz ruhig, »solltest versuchen, die Nerven zu behalten. Uns wird schon was einfallen. Ich rufe dich an.«

    Er ging in die Diele und zog den noch feuchten Regenmantel an. Dann warf er einen Blick in Irmas Zimmer, um sich von ihr zu verabschieden, aber sie war nicht da. Das Fenster stand sperrangelweit offen, und der Regen trommelte auf das Fensterbrett. An der Wand hing ein Transparent, auf dem in schönen großen Buchstaben stand: »Das Fenster bitte immer offen lassen«. Das Transparent war knittrig, fast zerfetzt und voller dunkler Flecke, als hätte man es wiederholt heruntergerissen und darauf herumgetrampelt. Viktor machte die Tür zu.

    »Auf Wiedersehen, Lola«, verabschiedete er sich. Lola antwortete nicht.

    Draußen war es schon dunkel. Der Regen tropfte ihm auf Schultern und Kapuze. Viktor zog den Kopf ein und schob die Hände tiefer in die Taschen. In dieser Grünanlage haben wir uns zum ersten Mal geküsst, erinnerte er sich. Das Haus da drüben stand da aber noch nicht; hier gab es nur eine freie Fläche und dahinter einen Schuttplatz, da haben wir mit Steinschleudern auf Katzen geschossen. Damals gab es in der Stadt Unmengen von Katzen, jetzt sieht man überhaupt keine mehr. Einen Teufel haben wir uns damals um Bücher geschert, bei Irma aber ist das ganze Zimmer vollgestopft damit. Wie waren zwölfjährige Mädchen zu meiner Zeit? Es waren sommersprossige, ewig kichernde Geschöpfe mit Schleifchen, Püppchen, Häschen- und Schneewittchenbildern, immer zu zweit oder zu dritt unterwegs. Sie tuschelten, kauten Sahnebonbons, hatten schlechte Zähne, einen Reinlichkeitsfimmel und die Angewohnheit zu petzen. Die Besten von ihnen waren wie wir: aufgeschürfte Knie, wilde Luchsaugen und ein Heidenspaß, anderen ein Bein zu stellen … Ob neue Zeiten angebrochen sind? Nein, dachte er. An den Zeiten liegt es nicht. Das heißt, an den Zeiten natürlich auch … Vielleicht ist meine Irma ein Wunderkind? So was gibt’s doch. Ich als Vater eines Wunderkindes. Eine Ehre, aber mühsam. Mühsamer als ehrenvoll, ja eigentlich überhaupt nicht ehrenvoll … Diese Gasse hier habe ich immer gemocht, weil sie schmaler ist als alle anderen. Aha, da gibt es auch schon eine Schlägerei. Natürlich, ohne Schlägereien geht’s bei uns nicht, wir können nicht anders. Das war schon immer so. Und immer zwei gegen einen …

    An der Ecke stand eine Laterne. Am Rand des Lichtkegels sah Viktor ein Auto mit Verdeck, auf das der Regen prasselte, und daneben versuchten zwei Männer in glänzenden Regenmänteln einen völlig durchnässten, schwarz gekleideten Burschen zu Boden zu drücken. Die drei stampften angestrengt und schwerfällig auf dem Kopfsteinpflaster umher. Viktor blieb zuerst stehen, trat dann aber näher. Es war nicht auszumachen, was da eigentlich vor sich ging. Nach einer Schlägerei sah das Ganze nicht aus: Keiner verpasste dem anderen Schläge. Und an eine Rauferei aus jugendlichem Übermut erinnerte es schon gar nicht – man hörte weder anfeuernde Rufe noch lautes Gelächter. Der schwarz gekleidete Mann riss sich plötzlich los und fiel auf den Rücken. Sofort stürzten sich die beiden in den Regenmänteln auf ihn. Da merkte Viktor, dass die Wagentüren offen standen, und sagte sich, dass sie den Mann entweder gerade aus dem Auto gezerrt hatten oder ihn hinein verfrachten wollten.

    Er trat nun dicht heran und brüllte: »Aufhören!«

    Die beiden Männer in den Regenmänteln drehten sich mit einem Ruck um und starrten Viktor an. Die Kapuzen verdeckten ihre Gesichter, und so sah Viktor nur, dass sie jung waren und ihnen vor Anstrengung der Mund offen stand. Sogleich sprangen sie blitzschnell in den Wagen und schlugen die Türen zu, der Motor heulte auf, dann verschwand der Wagen in der Dunkelheit. Der schwarz gekleidete Mann stand langsam auf; bei seinem Anblick wich Viktor einen Schritt zurück. Es war ein Kranker aus dem Leprosorium – ein »Nässling« oder eine »Brillenschlange«, wie man sie der gelben Ringe um die Augen wegen nannte. Eine schwarze Binde verdeckte seine untere Gesichtshälfte. Er keuchte angestrengt und zog vor Schmerz die Reste seiner Augenbrauen zusammen. Das Wasser rann ihm über den kahlen Schädel.

    »Was ist passiert?«, fragte Viktor.

    Die Brillenschlange sah mit weit aufgerissenen Augen an ihm vorbei, und als Viktor sich umdrehen wollte, spürte er einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Als er wieder zu sich kam, lag er mit dem Gesicht unter einer Regenrinne. Das Wasser, das ihm in den Mund rann, war lauwarm und schmeckte nach Rost. Spuckend und hustend rückte er zur Seite, setzte sich auf und lehnte den Rücken an eine Ziegelwand. Das Wasser, das sich in seiner Kapuze angesammelt hatte, floss ihm hinter den Kragen und lief den Rücken hinunter. Sein Kopf dröhnte, er hörte Glocken, Trompeten und Trommelwirbel. Und durch all den Lärm hindurch sah er ein schmales, dunkles Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Das hab ich doch schon mal irgendwo gesehen, grübelte er, und zwar vor dem Hieb ins Gesicht. Er bewegte die Zunge im Mund und klappte den Unterkiefer auf und zu. Den Zähnen war nichts passiert. Der Junge hielt die Hand unter die Regenrinne und spritzte ihm Wasser in die Augen.

    »Danke, mein Lieber«, sagte Viktor. »Es reicht.«

    »Ich dachte, Sie wären noch nicht ganz bei sich«, erklärte der Junge ernst.

    Viktor langte vorsichtig in die Kapuze und befühlte seinen Nacken. Er spürte eine Beule – aber nichts Schlimmes, keine zertrümmerten Knochen, ja nicht einmal Blut.

    »Wer war das?«, fragte er nachdenklich. »Doch hoffentlich nicht du?«

    »Können Sie alleine gehen, Herr Banew?«, erkundigte sich der Junge. »Oder soll ich Hilfe holen? Für mich sind Sie nämlich zu schwer.«

    Jetzt wusste Viktor wieder, wer der Junge war.

    »Dich kenne ich doch«, sagte er. »Du bist Bol-Kunaz, ein Freund meiner Tochter.«

    »Ja«.

    »Na, das ist doch gut. Du brauchst keine Hilfe zu holen und auch keinem etwas davon zu erzählen. Lass uns lieber noch ein bisschen hier sitzen, bis wir wieder in Ordnung sind.«

    Jetzt sah er, dass auch Bol-Kunaz etwas abbekommen hatte. Auf seiner Backe prangte eine frische Schramme, und seine Oberlippe war geschwollen und blutete.

    »Ich werde doch lieber Hilfe holen«, schlug Bol-Kunaz vor.

    »Muss das sein?«

    »Sehen Sie, Herr Banew, es gefällt mir nicht, dass Ihr Gesicht so zuckt.«

    »Tut es das?« Viktor befühlte sein Gesicht. Da zuckte überhaupt nichts. »Das kommt dir nur so vor. Also, jetzt stehen wir auf. Was muss man dazu tun? Man muss erst die Beine anziehen.« Er zog die Beine an und hatte das Gefühl, dass sie ihm nicht gehörten. »Dann muss man sich sacht von der Wand abstoßen und den Schwerpunkt ein wenig verlagern …« Das aber wollte und wollte ihm nicht gelingen – irgendetwas hinderte ihn daran. Was haben sie mir nur über den Schädel gehauen?, fragte er sich. Noch dazu so gekonnt …

    »Sie stehen auf Ihrem Mantel«, sagte der Junge. Aber Viktor hatte seine Arme und Beine, den Regenmantel und das Orchester unter seiner Schädeldecke schon sortiert und stand auf. Anfangs musste er sich noch gegen die Wand lehnen, nach einer Weile aber ging es besser.

    »Aha«, überlegte er laut. »Du hast mich also von da drüben bis zur Regenrinne geschleift. Danke.«

    Die Laterne stand noch am rechten Platz, aber das Auto und der Nässling waren weg. Alle waren weg. Nur der kleine Bol-Kunaz tastete mit der nassen Hand vorsichtig über seine Schramme.

    »Wo sind sie alle hin?«, fragte Viktor.

    Der Junge antwortete nicht.

    »Hab ich ganz allein hier gelegen?«, wollte Viktor weiter wissen. »War sonst keiner in der Nähe?«

    »Ich werde Sie begleiten«, schlug Bol-Kunaz vor. »Wo wollen Sie hin? Nach Hause?«

    »Warte mal«, unterbrach ihn Viktor. »Hast du gesehen, wie sie die Brillenschlange entführen wollten?«

    »Ich habe nur gesehen, wie man Sie geschlagen hat«, antwortete Bol-Kunaz.

    »Und wer war das?«

    »Das konnte ich nicht erkennen. Der Mann hat mir den Rücken zugekehrt.«

    »Und wo warst du?«

    »Sehen Sie, ich lag da hinten, an der Ecke …«

    »Ich verstehe kein Wort«, sagte Viktor. »Entweder stimmt mit meinem Kopf was nicht … Wieso hast du da hinten gelegen? Wohnst du da?«

    »Also, ich habe da gelegen, weil ich schon vorher etwas abgekriegt hatte. Nicht von dem, der Sie geschlagen hat, sondern von einem anderen.«

    »Von der Brillenschlange?«

    Sie gingen nur langsam, und zwar immer auf der Fahrbahn, um nicht das Wasser aus den Dachtraufen abzubekommen.

    »Nein«, antwortete Bol-Kunaz nach kurzem Nachdenken. »Eine Brille hatte, glaube ich, keiner von denen.«

    »Herrje!« Viktor fuhr mit der Hand in die Kapuze und betastete seine Beule. »Ich spreche doch von dem Aussätzigen – die nennt man so. Du weißt schon, die aus dem Leprosorium … die Nässlinge.«

    »Keine Ahnung«, meinte Bol-Kunaz zurückhaltend. »Ich glaube, die waren alle ganz gesund.«

    »Soso!«, versetzte Viktor. Irgendetwas beunruhigte ihn, und er blieb stehen. »Willst du mir vielleicht weismachen, dass da gar kein Aussätziger war? Mit einer schwarzen Binde und auch ganz in Schwarz angezogen …«

    »Das ist ganz und gar kein Aussätziger!«, erwiderte Bol-Kunaz überraschend heftig. »Der ist gesünder als Sie …«

    Zum ersten Mal zeigte sich an dem Jungen ein kindlicher Zug, der jedoch sofort wieder verschwand.

    »Mir ist nicht ganz klar, wohin wir gehen«, bemerkte Bol-Kunaz nach einer kurzen Pause in seinem ernsten, fast gleichgültigen Ton. »Erst hatte ich den Eindruck, Sie wollten nach Hause, aber jetzt sehe ich, dass wir in die entgegengesetzte Richtung laufen.«

    Viktor stand noch immer reglos da und schaute auf den Jungen hinunter. Irma und er passen gut zusammen, dachte er. Er hat alles durchgerechnet und analysiert und dann nüchtern entschieden, mir das Ergebnis nicht mitzuteilen. Er will mir nicht erzählen, was hier los war. Und ich möchte mal wissen, warum nicht. Sollten das tatsächlich Kriminelle gewesen sein? Nein, das glaube ich nicht. Oder doch? Immerhin haben wir heute andere Zeiten. Nein, Unsinn, die Spitzbuben von heute kenne ich …

    »Es stimmt schon«, sagte er und ging weiter. »Wir laufen zum Hotel, ich wohne da.«

    Der Junge war durchnässt und ging aufrecht, ja fast unnahbar neben ihm her. Zögernd legte Viktor ihm die Hand auf die Schulter. Es geschah nichts – der Junge duldete es. Wahrscheinlich dachte er, dass seine Schulter gebraucht würde, als Stütze für den Verletzten.

    »Ich muss schon sagen«, begann Viktor in vertraulichem Ton. »Irma und du, ihr habt eine merkwürdige Art euch auszudrücken. Wir haben als Kinder anders gesprochen.«

    »Wirklich?«, erkundigte sich Bol-Kunaz höflich. »Und wie haben Sie gesprochen?«

    »Na, deine Frage hätte sich bei uns beispielsweise so angehört: ›Hä?‹«

    Bol-Kunaz zuckte mit den Achseln. »Meinen Sie, dass das besser wäre?«

    »Um Gottes willen, nein! Ich meine nur, dass es natürlicher wäre.«

    »Aber gerade das Natürliche«, wandte Bol-Kunaz ein, »gehört sich für den Menschen am wenigsten.«

    Viktor spürte ein inneres Frösteln hochsteigen. Unruhe, ja Entsetzen packte ihn. Ihm war, als hätte ihm eine Katze ins Gesicht gelacht.

    »Das Natürliche ist immer primitiv«, fuhr Bol-Kunaz unterdessen fort. »Der Mensch aber ist ein kompliziertes Geschöpf, und Natürlichkeit steht ihm schlecht zu Gesicht. Wissen Sie, was ich meine, Herr Banew?«

    »Ja«, sagte Viktor. »Natürlich.«

    In der väterlichen Geste, mit der er dem Jungen, der gar kein Junge war, die Hand auf die Schulter gelegt hatte, lag etwas Unaufrichtiges. Ihm tat plötzlich sogar der Ellbogen weh. Vorsichtig zog er seine Hand zurück und steckte sie in die Tasche.

    »Wie alt bist du?«, fragte er.

    »Vierzehn«, erwiderte Bol-Kunaz zerstreut.

    »Aha …«

    Jeden anderen Jungen hätte dieses provokante »Aha« gereizt, Bol-Kunaz aber blieb ruhig. Auf Sticheleien reagierte er nicht. Ihn beschäftigte das Verhältnis von Natürlichem und Primitivem in Natur und Gesellschaft. Er bedauerte, an einen so unintelligenten Gesprächspartner geraten zu sein, der obendrein noch einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte.

    Sie erreichten die Präsidentenallee. Hier brannten mehr Laternen, und ab und zu eilten auch Passanten an ihnen vorüber – vom endlosen Regen niedergebeugte Männer und Frauen. Hier gab es erleuchtete Schaufenster und einen von Neonlicht erhellten Kinoeingang, in dessen Schutz sich gleichförmig gekleidete junge Leute in glänzenden, fersenlangen Regenmänteln drängten – ob Mädchen oder Jungs, war nicht zu erkennen. Und aus der Höhe leuchteten durch den Regen hindurch Beschwörungen in Gold und Blau: »Der Präsident – der Vater des Volkes«, »Der Freiheitslegionär – ein treuer Sohn des Präsidenten«, »Die Armee – unser Ruhm und Schutz« …

    Sie gingen noch immer auf der Fahrbahn, bis ein vorbeibrausendes Auto sie mit lautem Hupen auf den Gehsteig trieb und mit schmutzigem Wasser übergoss.

    »Ich hätte dich für achtzig gehalten«, sagte Viktor.

    »Hä?«, quiekte Bol-Kunaz mit widerlicher Stimme, und Viktor lachte erleichtert auf. Bol-Kunaz war eben doch ein richtiger Junge, ein ganz normales Wunderkind, das seinen Gabor, seinen Sursmansor und seinen Fromm gelesen hatte, ja womöglich sogar Spenglers Werke.

    »Als Kind hatte ich einen Freund«, erzählte Viktor. »Der kam auf die Idee, Hegel im Original zu lesen. Und das tat er. Aber er wurde darüber schizophren. In deinem Alter weiß man sicher schon, was Schizophrenie ist.«

    »Ja.«

    »Und, hast du keine Angst?«

    »Nein.«

    Als sie das Hotel erreichten, schlug Viktor vor: »Du könntest mit hineinkommen und deine Sachen trocknen.«

    »Vielen Dank. Darum wollte ich Sie auch gerade bitten. Erstens habe ich Ihnen noch etwas mitzuteilen, und zweitens müsste ich telefonieren. Sie haben doch nichts dagegen?«

    Viktor hatte nichts dagegen. Sie gingen durch

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