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Die Gierigen Dinge Des Jahrhunderts: Besten Science Fiction
Die Gierigen Dinge Des Jahrhunderts: Besten Science Fiction
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eBook248 Seiten3 Stunden

Die Gierigen Dinge Des Jahrhunderts: Besten Science Fiction

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Über dieses E-Book

Die gierigen Dinge des Jahrhunderts verkörpern eine fiktive Welt des Konsumdenkens, in der Genußsucht herrscht, die Kultur durch Surrogate, echte Gefühle durch Illusionen ersetzt werden. Der Mensch hört dort auf, Mensch zu sein, wenn sich nicht Kräfte finden, die solcher Entwicklung entgegenwirken.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Juni 2023
Die Gierigen Dinge Des Jahrhunderts: Besten Science Fiction

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    Buchvorschau

    Die Gierigen Dinge Des Jahrhunderts - Arkadi Strugatzki

    Arkadi Strugatzki, Boris Strugatzki

    Die Gierigen Dinge Des Jahrhunderts

    Besten Science Fiction

    Die Gierigen Dinge Des Jahrhunderts

    Arkadi und Boris Strugatzki

    Es gibt nur ein Problem in der Welt,

    ein einziges – den Menschen

    geistigen Inhalt wiederzugeben, geistige Sorgen.

    Antoine de Saint-Exupéry

    1

    Der Zöllner hatte ein glattes, rundes Gesicht, das Herzenswärme und Güte ausstrahlte. Er war ehrerbietig freundlich und voller Wohlwollen.

    »Herzlich willkommen«, sagte er halblaut. »Wie gefällt Ihnen unsere Sonne?« Er schaute auf den Pass in meiner Hand. »Ein schöner Morgen, nicht wahr?«

    Ich reichte ihm den Pass und stellte den Koffer auf die weiße Absperrung. Mit langen, vorsichtigen Fingern blätterte der Zöllner rasch die Seiten durch. Seine weiße Uniform hatte silberne Knöpfe, an den Schultern hingen Silberschnüre. Er legte den Pass hin und tippte auf den Koffer.

    »Sonderbar«, sagte er. »Der Überzug ist noch nicht trocken. Kaum zu glauben, dass irgendwo schlechtes Wetter ist.«

    »Ja, bei uns ist schon Herbst«, sagte ich seufzend, während ich den Koffer öffnete.

    Der Zöllner lächelte mitfühlend und blickte zerstreut in den Koffer.

    »Unter unserer Sonne kann man sich den Herbst gar nicht vorstellen«, sagte er. »Danke, das genügt … Regen, nasse Dächer, Wind …«

    »Und wenn nun unter der Wäsche etwas versteckt wäre?«, fragte ich. »Ich kann Gespräche über das Wetter nicht ausstehen.«

    Er lachte herzlich. »Floskeln«, sagte er. »Tradition. Ein bedingter Reflex aller Zöllner, wenn Sie so wollen.« Er reichte mir ein Blatt festes Papier. »Und hier noch ein bedingter Reflex: Lesen Sie, das ist recht ungewöhnlich, und dann bitte unterschreiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

    Ich las. Es war das Einwanderungsgesetz, viersprachig in feinem Kursiv gedruckt. Einwanderung war kategorisch verboten.

    Der Zöllner sah mich an. »Interessant, nicht?«

    »Jedenfalls macht es neugierig«, antwortete ich, während ich den Füller zückte. »Wo soll ich unterschreiben?«

    »Wo und wie es Ihnen beliebt«, sagte der Zöllner. »Meinetwegen quer darüber.«

    Ich unterschrieb den russischen Text quer über der Zeile: »Das Einwanderungsgesetz habe ich zur Kenntnis genommen«.

    »Danke«, sagte der Zöllner und verstaute das Blatt im Schreibtisch. »Praktisch kennen Sie nun alle unsere Gesetze. Und während Ihres Aufenthaltes … Wie lange wollen Sie bleiben?«

    Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist im Augenblick schwer zu sagen. Es hängt davon ab, wie die Arbeit vorangeht.«

    »Einen Monat vielleicht?«

    »Ja, wahrscheinlich. Meinetwegen einen Monat.«

    »Und während dieses Monats …« Er beugte sich vor, vermerkte etwas in meinem Pass. »Während dieses Monats brauchen Sie ansonsten keine Gesetze mehr.« Er reichte mir den Pass. »Selbstverständlich können Sie Ihren Aufenthalt bei uns um jedwede Frist verlängern, wenn sich diese in einem vernünftigen Rahmen bewegt. Einstweilen also dreißig Tage. Wenn Sie länger bleiben möchten, gehen Sie am sechzehnten Mai zur Polizei, zahlen einen Dollar … Sie haben doch Dollars?«

    »Ja.«

    »Schön. Wobei es nicht unbedingt ein Dollar sein muss. Wir nehmen jede Währung an. Rubel, Pfund, Cruzeiro …«

    »Cruzeiros habe ich nicht«, sagte ich. »Nur Dollars, Rubel und ein paar englische Pfund. Ist Ihnen damit gedient?«

    »Durchaus. Apropos, damit ich es nicht vergesse: Bitte zahlen Sie neunzig Dollar, zweiundsiebzig Cent.«

    »Sehr gern«, sagte ich. »Und wozu?«

    »Das ist so üblich. Um ein Minimum an Versorgung zu gewährleisten. Zu uns ist noch niemand gekommen, der nicht irgendwelche Bedürfnisse gehabt hätte.«

    Ich blätterte ihm einundneunzig Dollar hin, und er stellte, ohne sich zu setzen, eine Quittung aus. Durch die unbequeme Haltung lief sein Hals himbeerfarben an. Ich schaute mich um. Die weiße Absperrung zog sich quer durch den ganzen Pavillon. Dahinter standen Zöllner, die freundlich lächelten, lachten oder vertrauensvoll etwas erklärten. Davor trippelten ungeduldig die bunt zusammengewürfelten Ankömmlinge, ließen Kofferschlösser schnappen und äugten aufgeregt um sich. Auf der Reise hatten sie noch fieberhaft in Reklameprospekten geblättert, lauthals Pläne geschmiedet, still oder unverhohlen in Vorfreude geschwelgt, und nun brannten sie darauf, die weiße Schranke hinter sich zu lassen – schwärmerische Londoner Kontoristen mit sportlich aussehenden Bräuten, einfache Farmer aus Oklahoma in knalligen Hemden über breiten Shorts und mit Sandalen an den nackten Füßen, Turiner Arbeiter mit rotwangigen Ehefrauen und vielen Kindern, kleine Parteibosse aus Argentinien, finnische Holzfäller mit vorsorglich gelöschten Tabakspfeifen zwischen den Zähnen, italienische Basketballer, iranische Studenten, Gewerkschafter aus Sambia …

    Der Zöllner reichte mir die Quittung und achtundzwanzig Cent Wechselgeld.

    »Damit wären auch schon sämtliche Formalitäten erledigt. Hoffentlich habe ich Sie nicht über Gebühr beansprucht. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

    »Danke«, sagte ich und ergriff den Koffer.

    Der Zöllner sah mich lächelnd an, den Kopf leicht geneigt. »Durch dieses Drehkreuz, bitte. Auf Wiedersehen. Erlauben Sie, Ihnen nochmals alles Gute zu wünschen.«

    Hinter einem italienischen Paar mit vier Kindern und zwei automatischen Gepäckträgern trat ich auf den Platz.

    Die Sonne stand hoch über den graublauen Bergen. Auf dem Platz war alles glänzend, hell und bunt. Ein wenig zu hell und zu bunt, wie es für Kurorte typisch ist. Glänzende orangefarbene und rote Busse mit drängelnden Touristen davor. Das glänzende, künstlich wirkende Grün der Anlagen, und darauf weiße, blaue, gelbe und goldene Pavillons, Sonnendächer und Kioske. Spiegelflächen, vertikal, horizontal und geneigt, auf denen Sonnenreflexe blitzten. Unter den Füßen und Rädern glatte, stumpfe Sechsecke in Rot, Schwarz und Grau, die kaum merklich federten und die Schritte dämpften. Ich stellte den Koffer ab und setzte mir die Sonnenbrille auf die Nase.

    Von allen sonnigen Städten, die ich bisher kennengelernt hatte, war diese die sonnigste. Und das völlig umsonst … Es wäre mir leichter gefallen, wenn sie düster, schmutzig und voller Schlamm gewesen wäre, der Pavillon grau, mit Wänden aus Zement, und jemand hätte in die noch feuchten Wände eine Zote geritzt, etwas Trostloses und Sinnloses – aus bloßer Langeweile. Dann hätte ich mich sicher sofort in die Arbeit stürzen wollen. Bestimmt sogar, weil einen so etwas ärgert und zu Taten herausfordert … Obwohl es schwer ist, sich daran zu gewöhnen, dass das Elend auch reich sein kann … Daher spürte ich nicht den üblichen Elan und hatte keine Lust, unverzüglich loszulegen; lieber wäre ich in einen der Busse gestiegen, in den rot-blauen zum Beispiel, um an den Strand zu fahren, mit dem Tauchgerät unter Wasser zu schwimmen, in der Sonne zu liegen und mit anderen Ball zu spielen. Oder ich hätte Pek ausfindig gemacht, mich neben ihn in einem kühlen Zimmer auf den Fußboden gelegt und an schöne Momente zurückgedacht. Er hätte mich nach Bykow gefragt, dem Transpluto, neuen Raumschiffen (mit denen ich mich jetzt selber schlecht auskannte, aber dennoch besser als er). Dann hätte er sich an den Aufruhr erinnert und mit seinen Narben und seiner guten Stellung angeben. Es wäre gut, wenn Pek hier einen hohen Posten hätte, zum Beispiel Bürgermeister …

    Ein braungebrannter dicker Mann kam langsam auf mich zu; er war weiß angezogen, trug eine runde weiße Mütze, die er schief aufgesetzt hatte, und wischte sich mit einem Taschentuch über die Lippen. Die Mütze hatte einen durchsichtigen grünen Schirm und ein grünes Band mit der Aufschrift: »Herzlich willkommen«. Am rechten Ohrläppchen blinkte ein Ring – ein Empfänger.

    »Gratuliere zur Ankunft«, sagte der Mann.

    »Guten Tag«, erwiderte ich.

    »Herzlich willkommen. Ich heiße Amad.«

    »Und ich Iwan. Erfreut, Sie kennenzulernen.«

    Wir nickten einander zu und beobachteten dann, wie sich die Touristen auf die Busse verteilten. Sie schwatzten fröhlich, und der warme Wind trieb Zigarettenstummel und zerknülltes Bonbonpapier vor ihnen her über den Platz. Amads Gesicht war von dem Schirm grün beschattet.

    »Badegäste«, erklärte er. »Laut und unbekümmert. Man karrt sie jetzt zu den Hotels, und dann rennen sie gleich zum Strand.«

    »Mit Freuden würde ich Wasserski laufen«, bemerkte ich.

    »Tatsächlich? Also, das hätte ich nicht gedacht. Wie ein Badegast sehen Sie am allerwenigsten aus.«

    »Das ist gut«, sagte ich. »Ich bin nämlich zum Arbeiten hier.«

    »Zum Arbeiten? Nun, warum nicht, auch dazu kommt man her. Vor zwei Jahren war Jonathan Krice hier und hat ein Bild gemalt.« Er lachte. »In Rom machte dann der päpstliche Nuntius, den Namen habe ich vergessen, Kleinholz aus ihm.«

    »Des Bildes wegen?«

    »Kaum. Er ist ja nie fertig geworden, hat Tag und Nacht im Kasino gehockt. Kommen Sie, wir trinken etwas.«

    »Gern«, sagte ich. »Und Sie werden mich beraten.«

    »Es ist mir eine angenehme Pflicht, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen«, sagte Amad.

    Wir bückten uns beide hinunter und langten nach dem Koffergriff.

    »Bemühen Sie sich nicht, ich kann selbst …«

    »Nein«, entgegnete Amad. »Sie sind der Gast. Gehen wir in die Bar dort drüben. Die ist jetzt leer.«

    Wir traten unter ein blaues Sonnendach. Amad ließ mich an einem Tischchen Platz nehmen, stellte den Koffer auf einen Stuhl und ging zur Theke. Hier war es angenehm frisch. Von der Kühltheke her hörte man knackende Geräusche. Auf einem Tablett brachte Amad zwei hohe Gläser und zwei flache Tellerchen, auf denen ölig glänzende Scheibchen lagen.

    »Nichts Starkes«, sagte Amad. »Dafür aber kalt.«

    »Morgens mag ich auch nichts Starkes.«

    Ich nahm mir ein Glas und trank einen Schluck. Es schmeckte sehr gut.

    »Einen Schluck, dann ein Scheibchen«, empfahl Amad. »Einen Schluck – ein Scheibchen. So.«

    Die Scheibchen knirschten und zergingen im Mund. Doch meiner Meinung nach waren sie überflüssig. Eine Weile blickten wir schweigend auf den Platz. Leise brummend bogen die Busse einer nach dem anderen in die Parkalleen ein. Sie wirkten riesig, entbehrten jedoch nicht einer gewissen Eleganz.

    »Dort ist es ziemlich laut«, meinte Amad. »Herrliche Landhäuser gibt es da und Frauen für jeden Geschmack, das Meer ist vor der Tür, aber man hat keine Ruhe. Ich denke, das ist nichts für Sie.«

    »Ja«, stimmte ich zu. »Lärm würde mich stören. Auch ich mag keine Badegäste, Amad. Es ist mir ein Gräuel, wenn sich die Leute lautstark amüsieren.«

    Amad nickte und legte sich vorsichtig das nächste ölige Scheibchen in den Mund. Ich sah zu, wie er kaute. In seinen Kaubewegungen lag etwas Professionelles, Konzentriertes. Er schluckte und sagte: »Nein, ein synthetisches Produkt ist nie mit einem Naturprodukt zu vergleichen. Es hat einfach nicht diese Geschmacksfülle.« Er verzog die Lippen, schnalzte leise und fuhr fort: »Es gibt zwei vorzügliche Hotels im Stadtzentrum, aber meiner Ansicht nach …«

    »Ja, das ist auch nichts«, sagte ich. »Hotel verpflichtet. Und ich habe noch nie gehört, dass jemand im Hotel etwas Vernünftiges geschrieben hätte.«

    »Nun, ganz so ist es nicht«, entgegnete Amad. Kritisch betrachtete er das letzte Scheibchen. »Ich habe mal ein Buch gelesen, und darin stand, dass es in einem Hotel verfasst worden sei. Hotel ›Florida‹.«

    »Ja«, sagte ich. »Sie haben recht. Aber Ihre Stadt wird doch nicht von Kanonen beschossen.«

    »Von Kanonen? Selbstverständlich nicht. Jedenfalls nicht in der Regel.«

    »Das habe ich mir gedacht. Es heißt nämlich, dass sich Gutes nur in einem unter Beschuss stehenden Hotel schreiben lässt.«

    Amad nahm sich das letzte Scheibchen. »Das ist schwer einzurichten«, sagte er. »Wo soll man heutzutage eine Kanone auftreiben? Außerdem würde das eine Menge Geld kosten. Und das Hotel könnte seine Gäste verlieren.«

    »Auch das Hotel ›Florida‹ verlor seinerzeit die Gäste. Hemingway wohnte allein dort.«

    »Wer?«

    »Hemingway.«

    »Aha. Aber das ist doch unendlich lange her! Das war unter den Faschisten! Die Zeiten haben sich geändert, Iwan.«

    »Ja«, stimmte ich zu. »In unserer Zeit ist es daher sinnlos, in Hotels zu schreiben.«

    »Lassen wir es mit den Hotels gut sein«, schlug Amad vor. »Ich weiß, was Sie brauchen. Sie brauchen eine Pension.« Er holte ein Notizbuch hervor. »Nennen Sie mir Ihre Wünsche, und dann versuchen wir, etwas Passendes zu finden.«

    »Eine Pension?«, fragte ich. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, Amad. Verstehen Sie, ich möchte niemanden kennenlernen, an dessen Bekanntschaft mir nichts liegt. Das ist das eine. Und zum anderen: Wer wohnt in einer Privatpension? Badegäste, denen die Mittel für ein eigenes Ferienhaus fehlen. Auch sie amüsieren sich prächtig, veranstalten Picknicks, Partys und singen lauthals. Nachts spielen sie Banjo. Außerdem schnappen sie sich jeden greifbaren Menschen und zwingen ihn, an einem Wettbewerb für den längsten Kuss teilzunehmen. Und die Hauptsache: Es sind Fremde. Doch mich interessiert Ihr Land, Amad, Ihre Stadt. Ihre Bürger. Ich will Ihnen sagen, was ich brauche: Ich brauche ein behagliches Häuschen mit Garten. Nicht zu weit vom Zentrum entfernt. Eine nicht zu temperamentvolle Familie, eine ehrbare Wirtin zum Beispiel, sehr gerne mit einer jungen Tochter. Verstehen Sie, Amad?«

    Amad ging mit den leeren Gläsern zur Theke und kam mit zwei vollen zurück. Sie enthielten nun eine farblose Flüssigkeit, und auf den Tellerchen lagen mikroskopisch kleine, in mehreren Schichten belegte Brote.

    »So ein behagliches Häuschen kenne ich«, erklärte Amad. »Die Witwe ist fünfundvierzig, die Tochter zwanzig, der Sohn elf. Trinken wir aus und fahren hin. Ich denke, es wird Ihnen gefallen. Die Miete hält sich im Rahmen, obwohl sie natürlich höher als in einer Pension ist. Bleiben Sie lange?«

    »Einen Monat.«

    »Du lieber Himmel! Bloß?!«

    »Je nachdem, wie schnell ich vorankomme. Vielleicht muss ich länger bleiben.«

    »Bestimmt werden Sie länger bleiben«, versicherte Amad. »Offenbar haben Sie keine Vorstellung, wohin Sie gekommen sind. Sie ahnen nicht, wie lustig es bei uns ist und dass man hier über nichts nachzudenken braucht.«

    Wir tranken aus, erhoben uns und gingen in der heißen Sonne hinüber zum Parkplatz. Amad ging schnell und watschelte ein bisschen. Aus dem Zollpavillon quoll eine neue Portion Touristen.

    »Wollen Sie wirklich?«, fragte Amad plötzlich.

    »Ich will«, antwortete ich. Was hätte ich sonst sagen sollen? Vierzig Jahre war ich nun auf der Welt, hatte aber noch immer nicht gelernt, mich solch einer unangenehmen Frage höflich zu entziehen.

    »Sie werden hier keine Zeile schreiben«, warnte Amad. »Es ist schwer, bei uns zu schreiben.«

    »Schreiben ist immer schwer«, erwiderte ich. Gut, dass ich kein Schriftsteller war.

    »Das glaube ich gern. Aber bei uns ist es geradezu unmöglich. Zumindest für einen Fremden.«

    »Sie erschrecken mich.«

    »Haben Sie keine Angst. Sie werden einfach keine Lust haben, hier zu arbeiten. Es wird Sie nicht an der Schreibmaschine halten und Ihnen leidtun dort zu sitzen. Wissen Sie, was Lebensfreude ist?«

    »Hm …«

    »Sie wissen gar nichts, Iwan. Vorläufig wissen Sie noch gar nichts darüber. Ihnen steht bevor, die zwölf Kreise des Paradieses zu durchlaufen. Es ist sicher komisch, aber ich beneide Sie …«

    Wir blieben vor einem langen offenen Wagen stehen. Amad warf den Koffer auf den Rücksitz und machte mir die Tür auf.

    »Bitte«, sagte er.

    »Sie haben sie also schon durchlaufen?«, erkundigte ich mich, als ich einstieg.

    Er setzte sich ans Lenkrad und startete. »Was?«

    »Die zwölf Kreise des Paradieses.«

    »Ich habe mir längst meinen Lieblingskreis ausgesucht, Iwan«, sagte Amad. Geräuschlos rollte der Wagen über den Platz. »Die übrigen existieren nicht mehr für mich. Leider. Das ist wie das Alter. Mit all seinen Vor- und Nachteilen.«

    Das Auto sauste durch den Park und schoss dann eine schnurgerade schattige Straße entlang. Interessiert schaute ich mich um, doch ich erkannte nichts wieder. Es war dumm von mir zu hoffen, irgendetwas Bekanntes zu entdecken … Damals waren wir in der Nacht an Land gesetzt worden, im Regen; siebentausend erschöpfte Badegäste standen auf den Piers und starrten auf das ausbrennende Passagierschiff. Die Stadt sahen wir nicht; dort, wo sie sein musste, war nichts als nasse schwarze Leere, in der es rot aufblitzte. Es krachte, donnerte und knirschte ohrenbetäubend. »Bei dieser Dunkelheit knallen sie uns ab wie Kaninchen«, sagte Robert, und ich jagte ihn auf die Fähre zurück, um den Panzerspähwagen herunterzuholen. Das Fallreep brach, und der Panzerspähwagen fiel ins Wasser. Robert musste von Pek herausgezogen werden; blau vor Kälte kam er zu mir und zischte zähneklappernd: »Meine Rede, dass es zu dunkel ist …«

    Amad sagte plötzlich: »Als ich ein Junge war, wohnte ich am Hafen, und wir kamen her, um die Werkskinder zu verhauen. Von denen hatten viele Schlagringe, und mir schlugen sie damit die Nase ein. Mein halbes Leben lief ich mit einer schiefen Nase herum, bis man sie mir im vorigen Jahr richtete … Als Junge habe ich mich gern gerauft. Ich hatte ein Stück Bleirohr und musste einmal sechs Monate absitzen. Geholfen hat es nicht.« Er verstummte und grinste.

    Ich wartete eine Weile und sagte: »Ein gutes Bleirohr ist nicht mehr zu bekommen. Jetzt sind Gummiknüppel modern – die kauft man von Polizisten.«

    »Richtig«, sagte Amad. »Oder man besorgt sich Hanteln, sägt eine Kugel ab und benutzt die. Aber die Jugend von heute ist ganz anders. Auf so etwas steht jetzt Verbannung.«

    »Stimmt«, sagte ich. »Und wofür haben Sie sich als Junge noch interessiert?«

    »Und Sie?«

    »Ich wollte Sternenfahrer werden und habe Überlastung trainiert. Und dann haben wir noch ›Wer taucht tiefer‹ gespielt.«

    »Wir auch«, sagte Amad. »Auf zehn Meter nach Maschinenpistolen und Whisky. Dort hinter den Piers lagen sie kistenweise. Mir blutete vom Tauchen sogar die Nase. Als dann der Aufstand losging, fanden wir Leichen mit Eisenbahnschienen am Hals. Da hörten wir auf.«

    »Kein angenehmer Anblick, eine Unterwasserleiche«, sagte ich. »Besonders bei Strömung.«

    Amad schmunzelte. »Ich habe schon ganz anderes gesehen. Ich musste nämlich bei der Polizei arbeiten.«

    »Nach dem Aufstand?«

    »Nein, viel später. Als das Gesetz über die Gangster verabschiedet wurde.«

    »Hier nannte man sie ebenfalls Gangster?«

    »Wie denn sonst? Räuber? ›Räuber, bewaffnet mit Flammenwerfern und Tränengasbomben, belagerten die Stadtverwaltung‹«, deklamierte er. »Das klingt nicht gut, oder? Räuber – das ist Axt, Morgenstern, Schnurrbart bis an die Ohren, Säbel …«

    »Bleirohr«,

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