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Aus heiterem Himmel ...: überfällt mich die Angst und bleibt! Der Rest ist Geschichte
Aus heiterem Himmel ...: überfällt mich die Angst und bleibt! Der Rest ist Geschichte
Aus heiterem Himmel ...: überfällt mich die Angst und bleibt! Der Rest ist Geschichte
eBook217 Seiten2 Stunden

Aus heiterem Himmel ...: überfällt mich die Angst und bleibt! Der Rest ist Geschichte

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Über dieses E-Book

Als eines von vielen Kindern 1964 geboren, spüre ich früh eine undefinierbare Schwere, einen dunklen Schatten, der über unserer Familie liegt. Erst 25 Jahre später gibt sich dieser Schatten hemmungslos zu erkennen. Er offenbart sich als Todesangst und bleibt. Ab diesem Zeitpunkt verheimliche und bekämpfe ich die Angst mit allen Mitteln.
Beim Besuch eines Vortrags über »Kriegskinder« steht plötzlich fest: »Meine Angst hat einen Grund!«
Und dieser Grund liegt in der Vergangenheit. Und zwar weit vor meiner eigenen. Mein Vater und ich fahren zurück in Richtung Osten, in das Jahr 1945. Hier fängt mein Vater an zu erzählen. Aus seiner Angst vor dem Sterben wurde meine Angst vor dem Leben. Das Geschrei der Todesangst war der Hilferuf, dem Leben nachzugehen, um jetzt eine leise Stimme zu werden, die mir behutsam mitteilt, was für mich wichtig ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Mai 2023
ISBN9783757870584
Aus heiterem Himmel ...: überfällt mich die Angst und bleibt! Der Rest ist Geschichte
Autor

Martin Heller

Martin Heller, Jahrgang 1964 leitete bis zum 1. April 2022 als selbstständiger Architekt sein Büro in der Nähe von Bremen. Er engagiert sich ehrenamtlich in der Viktor und Martin Heller Stiftung. Martin Heller schreibt autobiografisch und stellt seine mitunter unbeschreiblichen und sehr persönlichen Erlebnisse mit einfachen Worten für seine Leser dar.

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    Buchvorschau

    Aus heiterem Himmel ... - Martin Heller

    1. Kapitel: Klare Frage – klare Antwort

    Es geschah am 22. Oktober 1991. Es regnete leicht gegen 4:00 Uhr auf der A2. Ich fuhr allein in meinem Führerhaus durch diese kalte dunkle Nacht. Bryan Adams leistete mir kurz mit seinem aktuellen Hit »Everything I Do I Do It for You« Gesellschaft. Die anschließende Wettervorhersage stellte für diesen heranbrechenden Tag keine einzige Sonnenstunde in Aussicht. Die riesigen Scheibenwischer gaben in regelmäßigen Abständen für einen kurzen Augenblick die ungetrübte Sicht auf die beleuchteten Straßenzüge Hannovers frei. In wenigen Häusern brannte bereits Licht. Der überwiegende Teil der Menschen schien allerdings noch tief und fest zu schlafen. Ich stellte mir glückliche Familien in ihren Wohnungen vor. Sehnte mich nach so einem behüteten Zuhause. Und auch nach jemandem, der alles für mich tun würde. Jemand, der für mich da war. Doch meine Sehnsucht nach Geborgenheit war seit über einem Jahr nicht mehr erfüllt worden – ganz im Gegenteil.

    Denn in meiner Seele wütete seit Monaten ein unaufhörlicher Krieg. Eine unvorstellbare Todesangst hatte mich plötzlich überfallen, Besitz von mir ergriffen und mich gelähmt. Pausenlos schossen mir schreckliche Gedanken in den Kopf. Ich konnte seitdem keine Freude mehr empfinden. Ständig schrien mich die immer gleichen Fragen an, auf die ich keine Antwort fand.

    »Warum habe ich so eine Angst?«

    »Warum bin ich so allein?«

    »Warum muss ich das hier ertragen?«

    »Was passiert mit mir, wenn ich sterben muss?«

    Mich quälte die Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Leben, Angst vor dem Tod, Angst vor der Hölle. Ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Ich war körperlich und seelisch vollkommen erschöpft durch die nicht enden wollenden Panikattacken und das aussichtslose Ankämpfen gegen dieses Leiden. Ich tappte völlig im Dunkeln, was dieses furchtbare Dilemma in mir überhaupt ausgelöst hatte. Ich spürte keinen Halt mehr. Ich war erst siebenundzwanzig Jahre alt und am Ende meiner Lebenskraft.

    Wieder und wieder tauchten jetzt vor meinem geistigen Auge auch noch erschreckende Bilder auf. Ich musste fortwährend mitansehen, wie ein Reifen meiner Zugmaschine platzte, der gesamte 40-Tonnen-Sattelzug die Leitplanken durchbrach und mit mir die Böschung in einen dunklen Abgrund hinunterstürzte.

    Ich hatte panische Angst, heute ganz allein hier an diesem Ort sterben zu müssen. Es war nicht einmal ein Ort. Es war nur ein trostloser Weg. Eine Strecke, die unzählige Menschen irgendwohin, im besten Fall auch wieder in ihr behütetes Zuhause führte. Ich aber hatte kein solches Zuhause. Ich war hoffnungslos eingeklemmt zwischen der Angst vor dem Leben und der Furcht vor dem Sterben.

    Immer wieder diese bedrohlichen Bilder eines bevorstehenden Unfalls, immer wieder diese düsteren unaufhaltsamen Gedanken. Ich war zu traurig, um zu weinen, hatte nach diesen vielen trostlosen Monaten keine Hoffnung mehr, dass mein zerrissener Seelenzustand jemals wieder heilen könnte. Wäre es besser, hier und an diesem Tag zu sterben – ohne eine einzige Sonnenstunde?

    Was würde mit mir geschehen, wenn jetzt diese todbringenden Bilder Wirklichkeit würden? Fände ich dann endlich meinen Frieden? Oder käme etwas noch Schlimmeres auf mich zu? Ich war verzweifelt.

    »Lieber Gott, was passiert mit mir, wenn jetzt der Reifen platzt?«

    Ein lauter Knall. Ein Vorderreifen explodiert. Der Lkw bricht sofort mit hoher Geschwindigkeit nach rechts weg. Ich trete mit voller Kraft auf die Bremse. Alle Reifen blockieren. Der Lkw zieht noch stärker in Richtung Leitplanken. Ich kann das zitternde Lenkrad nur noch verbissen festhalten, aber nicht mehr steuern. Der zerfetzte Reifen schlägt mit ungeheurer Wucht im Radkasten umher. Die Leitplanke kommt immer näher. Ich kann nur noch hoffen. Warte mit aufgerissenen Augen auf den Einschlag. Kann nicht mehr denken, nicht mehr atmen.

    Ich schließe die Augen. Der Sattelzug wird langsamer. Das ohrenbetäubende metallische Scheppern im Radkasten wird leiser. Es dauert eine Ewigkeit. Aber dann steht der 40-Tonnen schwere Lkw. Direkt neben der Leitplanke. Es ist still. Totenstill.

    Ich zittere vor Entkräftung. Es riecht nach verbranntem Gummi. Mein Herz fängt an, wie wild zu schlagen. Ich lebe. Ich bin nicht allein. Ich habe plötzlich eine klare Antwort auf meine brennende Frage. Sie lautet:

    »Leb einfach, ich entscheide, was passiert!«

    In diesem Moment fühlte ich mich wie der glücklichste Mensch auf der Erde. Ich war seit langer Zeit endlich wieder froh, dass ich lebe und meine Eltern mich geboren haben ...

    2. Kapitel: Geboren 1964 – Einer von vielen

    »Viktor, schnell, schnell, es geht los!«

    Es ist mitten in der Nacht. Mein Vater ist sofort wach und springt aus seinem Bett. »Esther, geht’s dir gut, hast du Schmerzen?«

    »Nein, nein, hol den Wagen, schnell!«

    Mein Vater reißt sich hastig seine Sachen über, rennt aus dem Schlafzimmer zur Garderobe, packt seinen Mantel, Autoschlüssel und verlässt das Haus in Richtung Stall. Doch er kann die beiden großen Garagentore nicht öffnen.

    »Das darf nicht wahr sein, nicht jetzt, bitte nicht jetzt!«

    Die Tore scheppern immer wieder gegen die Dachrinne. Genau für diesen Ernstfall hat er gestern extra die Regenrinne repariert und offensichtlich viel zu tief wieder angebaut. Er greift nach einem langen Brett, drückt die Dachrinne hoch und reißt zugleich mit aller Kraft nacheinander die Tore auf. Er springt in seinen dunkelblauen VW Käfer, startet den Motor und fährt aus dem Stall.

    Mama wartet schon ungeduldig vor dem Haus, als endlich die grellen Scheinwerfer den Hof ausleuchten. Mit beiden Händen umfasst sie ihren Bauch, während ihr Gesichtsausdruck verrät, dass es keine Zeit mehr zu verlieren gilt. Hektisch und vorsichtig zugleich hilft mein Vater ihr beim Einsteigen in den Wagen. Sie rasen los, nach Hoya ins drei Kilometer entfernte Krankenhaus.

    Am Ortseingang in Höhe »Reifen-Günther« hätte ich hier in dieser dunklen Oktobernacht schon fast das Licht der Welt erblickt. Wir schaffen es gerade noch vor das Krankenhaus. Die Nachtschwester Frau Obermeyer – nicht zu verwechseln mit Uschi Obermaier – besorgt sofort eine Trage. Mama kann sich endlich hinlegen und wird geradewegs in den Kreißsaal gebracht.

    Wenige Minuten später, um 2:35 Uhr, am 13. Oktober, einem Dienstag, werde ich als eines von insgesamt 1.357.304 Kindern in Deutschland im Jahr 1964 geboren.

    Schenkt man den Zusammenhängen von Raum und Zeit Glauben, ist mir in diesem Moment mit dem Sternzeichen Waage und dem Aszendenten Jungfrau nicht nur mein einzigartiges Leben, sondern auch eine wunderbare Gabe verliehen worden. Den Kindern, die unter diesen Zeichen geboren werden, wird die Eigenschaft zugesprochen, allen Anforderungen des Lebens gut gewachsen zu sein und geistig fit und jung zu bleiben. Ich war mir in dieser ersten Nacht auf Erden schon sicher, dass mir mit diesen gesegneten Besonderheiten alles in meinem zukünftigen Leben einfach so zufallen würde. In diesem Urvertrauen lehnte ich mich gemütlich zurück. Ich sollte erst nach einigen Jahren schmerzhaft erfahren, dass ich mich heute Nacht gewaltig geirrt hatte.

    Von alledem ahnte mein Vater natürlich nichts. Er war zum Zeitpunkt meiner Geburt schon wieder auf dem Weg nach Hause. Meine beiden Brüder mit ihren sieben und vier Jahren sollten nicht zu lange allein bleiben. Er war erleichtert, weil er Mama jetzt in guten Händen wusste, aber noch nicht ganz gelöst, da immer etwas Unvorhergesehenes passieren konnte.

    Auf seinem Heimweg schaute mein Vater auf die beleuchtete Reklame der Reifenfirma und für ihn stand plötzlich fest: »Wird es ein Junge, nennen wir ihn Günther

    3. Kapitel: Namen sind mehr als Schall und Rauch

    Ja, es ist ein Junge. Für diesen Fall hatten sich meine Eltern schon lange vor der Geburt einen schönen Vornamen für mich ausgedacht.

    Mama hätte mich gerne Urs genannt. Es gibt bestimmt liebenswerte Menschen in der Schweiz, die Urs heißen, aber ich wollte auf gar keinen Fall Urs gerufen werden. Denke ich an einen Urs, dann sehe ich einen molligen Jungen in einer Breitcordhose vor mir, der ausschließlich mit seinem Bernhardiner spielt, weil er keine Freunde hat.

    Mein Vater, ich hatte es schon erwähnt, wollte mich Günther nennen. Nichts gegen Günther, aber denke ich an Günther, sehe ich ein heruntergekommenes landwirtschaftliches Gehöft vor meinem geistigen Auge, auf dem die verwitwete Mutter mit ihrem einzigen und unverheirateten Sohn Günther wohnt.

    Thomas und Sabine waren 1964 in der Bundesrepublik die beliebtesten Vornamen, gefolgt von Michael und Susanne. Ganz einfache, normale und unkomplizierte Vornamen. Zehntausende Jungen und Mädchen trugen diese unauffälligen Namen.

    Entgegen dieser Selbstverständlichkeit wollte mich Mama Urs und mein Vater aus unerklärlichen Gründen Günther nennen. Jeder andere Vorname wäre für mich geeigneter gewesen. Selbst Sabine hätte besser zu mir gepasst als Urs oder Günther.

    Meine Eltern hätten mir sicher keinen Namen geben wollen, mit dem ich mich ein ganzes Leben lang absolut unwohl fühle – sie wussten es einfach nicht besser oder hatten einen völlig anderen Geschmack als ich.

    Ich weiß nicht, welche höhere Instanz sich doch noch eingeschaltet und meiner erbarmt hat, um mich vor diesen sonderbaren Vornamen zu bewahren. Doch meine Eltern haben sich besonnen und sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt. Sie tauften mich auf den Namen »Martin«. Jetzt konnte eine unbeschwerte Kindheit starten.

    4. Kapitel: Erste unbeschwerte Jahre

    Ich bin aufgewachsen in Altenbücken, einem kleinen Nest mitten in Niedersachsen. Wir bewohnten ein altes Bauernhaus mit angrenzender Mühle, die von meinem Onkel zur Herstellung von Futtermitteln an einigen Tagen in der Woche bewirtschaftet wurde.

    Mein Vater verließ früh morgens unser Haus und arbeitete als Bauingenieur beim Staatshochbauamt in Verden. Meine Mama blieb zu Hause und kümmerte sich um mich und meine beiden älteren Brüder.

    Ich erinnere mich besonders gern an die gemeinsamen Einkaufstouren mit meiner Mama. Wir sind täglich mit dem Fahrrad ins Dorf gefahren. Mein Kindersitz war direkt hinter dem Fahrradlenker befestigt und damit hatte ich das Gefühl, das Steuer ebenfalls fest in der Hand zu halten, durfte von hier die Klingel bedienen und sah immer die Hände und Arme meiner Mutter. Mit Blick in Fahrtrichtung wehte mir der frische Wind ins Gesicht und Mama konnte mir alles, was uns begegnete, sofort erklären.

    Unsere tägliche Tour führte uns oft zu Schlachter Thies. Hier musste ich unbedingt mit in das Geschäft, weil Thies’ Elisabeth – die Verwendung des Genitivs bei Eigennamen war bei uns für besonders nahestehende Menschen der normale Sprachgebrauch – mir immer eine aufgerollte Scheibe Wurst liebevoll über den gläsernen Tresen reichte.

    Anschließend schauten wir bei Dohrmanns Tante rein, die direkt neben Schlachter Thies wohnte. Dohrmanns Tante bewohnte ein großes schönes Wohnhaus und die Fenster ihres Wohnzimmers gaben den Blick auf die Hauptstraße frei. Gegenüber den Fenstern stand ein grünes Sofa mit einer hohen geschwungenen Rückenlehne. Dohrmanns Tante war kräftig, hatte graue Haare, einen Dutt und trug eine braune Hornbrille mit dickem Rahmen. Meistens hatte sie ein kurzärmeliges graues Kleid an. Immer wenn wir sie besuchten, nahm sie mich zur Begrüßung herzlich in ihre Arme. Ich spürte den rauen Stoff ihres Kleides und die sanfte Haut ihrer dicken Oberarme. Bei ihr fühlte ich mich immer willkommen. Für Mama gab es eine Tasse Kaffee und für mich eine Süßigkeit, was eine echte Ausnahme in diesen Zeiten bedeutete.

    Wenn wir auf unserer Einkaufsfahrt nicht Dohrmanns Tante besuchten, schauten wir kurz bei Frau Jungjohann oder bei Frau Gehbauer rein. Das Haus von Frau Jungjohann zwängte sich genau zwischen dem Marktplatz und einer schmalen Straße ein. Mitten im Haus gab es komischerweise zwei hohe Stufen. Frau Jungjohann hatte weiße gewellte Haare, die mit einem Haarnetz am Kopf gehalten wurden. Sie war sehr schmal und ging ein wenig gebeugt. Hier sollte ich immer ruhig auf meinem zugewiesenen Platz sitzen bleiben, bis wir wieder losfuhren. Früher war sie Krankenschwester gewesen. Ein Bild auf ihrer Anrichte zeigte sie in einer hellblauen Schwesterntracht mit einer weißen Haube auf dem Kopf.

    Frau Gehbauer wohnte ebenfalls am Marktplatz, im Dachgeschoss eines etwas in die Jahre gekommenen Hauses. Wir betraten zunächst einen dunklen Flur, stiegen eine breite Treppe hinauf in das Dachgeschoss und mussten dann noch eine weitere schmale Stiege überwinden, um endlich in einer dunklen Küche Frau Gehbauer anzutreffen. Frau Gehbauer tat mir leid, weil sie immer einen sehr traurigen Eindruck machte. Sie war mit ihren achtzig Jahren kaum größer als ich mit meinen drei Jahren.

    Unser nächstes Ziel war der Edeka-Markt von Onkel Fahrenholz. Die Regale waren vollgestopft mit Waren aller Art und es roch beim Betreten des Geschäfts immer nach Waschmittel. Onkel Fahrenholz sollte später noch eine gewichtige Rolle in meiner Kindheit spielen.

    Unsere letzte Anlaufstation war Bäcker Kramer, um frisches Brot zu kaufen, bevor wir dann nach Hause fuhren und Mama sich um die Zubereitung des Mittagessens kümmerte.

    In den folgenden Jahren war ich mit meiner Mutter dann weniger unterwegs und entdeckte dafür mit meinen Brüdern und den Kindern aus unserer Nachbarschaft gemeinsam die Umgebung. Gemeinsam auch deshalb, weil wir wirklich viele waren. In jedem unserer Nachbarhäuser, die übrigens tagsüber nie verschlossen waren, gab es mehrere Kinder. Wir spielten eigentlich immer draußen in der Natur. Stromerten durch den Wald oder bauten uns aus leeren Pflanzenschutzmittel-Kanistern und Brettern Boote, um auf einem nahe gelegenen Bach Strom abwärts zu schippern. Wir Kinder waren frei und probierten alles selbst aus. Kleinere Verletzungen gehörten zum Alltagsgeschehen dazu und waren nicht weiter erwähnenswert. Niemand, auch nicht unsere Eltern, wusste, wo wir uns während des ganzen Tages aufhielten. Trotzdem fühlten wir uns behütet. Wichtig war, dass wir zum Essen und wenn es dunkel wurde, wieder zu Hause auftauchten. Das Besondere an uns war, dass wir selbst nichts Besonderes waren. Wir vielen Kinder gehörten zum Leben einfach dazu. Wir trugen alle ähnliche Kleidung. Ich als Jüngster hatte meine zukünftigen Sachen schon eine ganze Weile an meinen beiden Brüdern sehen müssen. Niemand von uns oder unseren Spielkameraden hatte einen richtigen Haarschnitt. Die Haare wurden uns von meinem Vater abgeschnitten, um eine freie Sicht zu gewährleisten. Für Mode, einen besonderen Schick oder sonst einem derartigen Firlefanz gab es keinen Sinn und erst recht kein Geld.

    Wie so viele im Jahr 1964 Geborenen lebten auch wir in einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen. Uns fehlte es an nichts, es gab aber auch nichts extra, was uns irgendwie alle gleich machte. Wir spielten mit den gleichen Sachen, wie den Siku- oder Matchbox-Autos, die wir über Jahre behielten. In jedem Haushalt konnten wir TRI-TOP-Sirup aus der sich zylindrisch verjüngenden Flasche mit dem großen Schraubverschluss trinken. Selbst die wenigen Highlights ähnelten sich. Gab es sonntags nach dem Mittagessen mal ein Fürst-Pückler-Eis, rannte ich anschließend rüber zu einem unserer Nachbarn und fragte aufgeregt, ob es das dort ausnahmsweise auch gegeben hatte, was hin und wieder tatsächlich der Fall war.

    Eine echte internationale Sternstunde durfte ich dann 1969 in unserem kleinen Dorf miterleben. Die erste bemannte Mondlandung der Apollo 11

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