Fö: Zernezer Feuer. Eine Familiensaga
Von Selma Mahlknecht und Anja Streit
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Über dieses E-Book
•kurzer, spannender Generationenroman
•gekonnte Verknüpfung von Familien- und Tourismusgeschichte
•ein Bergdorf zwischen Ein- und Abwanderung
•Schauplatz romanische Schweiz
Selma Mahlknecht
Geboren 1979 in Meran. Studium Drehbuch und Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Lebt als Schriftstellerin, Dramatikerin, Regisseurin in der Schweiz. „Berg and Breakfast – Ein Panorama der touristischen Sehnsüchte und Ernüchterungen“ (2021). „Das Weihnachtskänguru“ (2017). „Luba und andere Kleinigkeiten. Roman“ (2016). „Auf der Lebkuchenstraße. Heiter bis wolkig durch die Weihnachtszeit“ (2013). „Helena. Roman“ (2010) ausgezeichnet mit dem Sir-Walter-Scott-Preis. „Es ist nichts geschehen. Roman“ (2009), übersetzt ins Schwedische. „Im Kokon. Erzählung“ (2007). „rosa leben. Prosa“ (2004) und „Ausgebrochen. Erzählungen“ (2003).
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Buchvorschau
Fö - Selma Mahlknecht
Prolog
IL PRÜM FÖ
Wir wissen nicht, was die ersten Menschen empfanden, die das Gebiet betraten, auf dem heute Zernez liegt. An der Kreuzung zweier Hochalpentäler, dort, wo zwei Ströme zusammenfließen, von dichten Wäldern umgegeben und von Winden gepeitscht, wo die Winter lang und hart sind und die Sommer kurz und trügerisch – hier lockte kein einfaches Leben. Sich hier niederzulassen, bedeutete, den Kampf aufzunehmen: mit den rauen Elementen, der unberechenbaren Natur, den wilden Tieren. Es war kein romantisches oder idyllisches Dasein, der Alltag war hart, die Arbeit in den Wäldern und auf den Feldern anstrengend und gefährlich. Das war den Menschen bewusst, sie kannten es nicht anders. Und doch dürfen wir uns die Menschen der Vergangenheit nicht als traumlos und verhärtet vorstellen. Sie waren bodenständig, aber gemütvoll. Sie waren leidenschaftlich und phantasiebegabt, sie schmiedeten Pläne und sangen Lieder, sie tanzten und lachten und erzählten einander die tollsten Geschichten.
Schon die allerersten Menschen, die ihr Lager im Wald errichteten, setzten sich am Abend gemeinsam um das Feuer, das sie gegen die Dunkelheit, die Kälte und gegen die Bären und Wölfe entfacht hatten. Sie wärmten sich an den Flammen und vergaßen die Anstrengungen des Tages.
Sie errichteten Häuser aus Holz und Stein, bauten Brunnen und befestigten Straßen. Sie bestellten das Land und hielten Tiere, sie fällten Bäume und trieben Handel. Immer begleitete sie das Feuer, das ihnen Licht spendete, mit dem sie ihr Essen zubereiteten und dem Winter trotzten. Mit dem Feuer erschufen sie ihre Welt: die reale Welt um sie herum und die erdachte Welt in ihren Köpfen, und die eine Welt konnte ohne die andere nicht entstehen. Es war ein Spiel mit dem Feuer, ein stetiges Abstecken und Verschieben der Grenzen. Und wie oft sich die Menschen auch die Finger verbrannten, sie wagten immer wieder Neues. Was gelang, veränderte die Welt. Was scheiterte, wurde Teil der Geschichten, die zu erzählen waren. Nichts ging verloren, aber alles verwandelte sich.
Heute ist Zernez nicht mehr das Dorf, das es vor 150 Jahren war, als der große Brand es verwüstete. Es ist größer geworden, stattlicher. Das Feuer schreckt uns nicht mehr, wir haben es gezähmt – endgültig, möchten wir glauben. Doch in jeder Flamme, die am Zündholz tanzt, mit jedem flackernden Kerzenlicht, aus jeder Feuerstelle, ja aus jedem springenden Funken wispert uns eine Stimme zu, die aus Jahrtausenden kommt. Das Feuer ist ein großer Erzähler. Es begleitet unser Leben von Anfang an und es umspannt die gesamte Menschheitsgeschichte. Es weiß von uns, es kennt unsere Träume und unsere Schwächen. Es hat unseren Untergang gesehen und unsere Wiedergeburt, und es wird selbst immer aufs Neue wiedergeboren. Mehr als in jedem anderen Element erblicken wir im Feuer uns selbst. Es verrät uns, wer wir sind – und wer wir immer schon waren, seit jenem ersten Feuer, das in der Nacht loderte.
LA LINTERNA
Es gibt ein lautes Weinen und ein leises Weinen.
Das laute Weinen ist bohrend, schrill und dringt durch alle Wände. Säuglinge weinen so und Kleinkinder: verzweifelt, fordernd, wütend, gefangen in ihrer Sprachlosigkeit. Auch Erwachsene können so weinen, aber nicht aus kindischen Launen heraus. So weinen sie nur im Moment des größten Schmerzes, wenn sie das Liebste verlieren. Wie ein tierischer Schrei, ein rohes Gebrüll bricht es aus der Brust, unbeherrscht und unbeherrschbar, eine Naturgewalt. Schrecklich ist dieses Weinen, aber schrecklicher ist, was ihm folgt: die Stille danach. Wie Blei wiegt diese Stille, und noch schwerer auf schmalen Kinderschultern.
Braida trägt diese Stille mit geradem Rücken. Sie presst die Zähne zusammen. Keine Tränen. Schon gar nicht am Brunnen beim Wasserholen, wenn die anderen Mädchen sie fragend mustern. Gleichmütig schleppt sie die schweren Eimer mit ihren dünnen Armen, schleppt sie zurück zum Haus, das aus schmalen, schwarzen Fenstern kalt auf sie hinabstarrt. Dann geht sie noch ein bisschen gerader, macht sich noch ein bisschen größer, und sie reckt trotzig das Kinn nach vorn. Sie wird das Haus schon unterkriegen. Sie fürchtet sich nicht vor seiner hohen Stirn und sie schämt sich nicht für das flache Dach. Ein Schandfleck seien die neuen Häuser, murren die von Röven und Runatsch, die der Brand verschonte. Ihre Häuser sind warm und breit, Sonnen tanzen auf ihnen. Hier hält sich der alte Glanz des Dorfs. So müsste es sein. In Braidas Straße ist es nicht so. Aber Braida kennt es nicht anders. Ein Dach über dem Kopf ist ein Dach über dem Kopf, sagt der Vater. Und schon dieses hier hat ihn genug Wiesen gekostet.
Die nona kann den Gestank noch riechen. Die verkohlten Balken, Decken, Kissen, Vorhänge, Betten, Tische, Stühle, der kleine Hausrat eines bescheidenen Lebens, aufgezehrt von den Flammen. Braida weiß nichts davon. Sie kennt nur den Geruch der Kühe und Ziegen, den Geruch der Kartoffeln im Topf und den Geruch der nona, der sie so gern auf dem Schoß saß, als sie noch klein war. Aber eine Furcht vor dem Feuer ist ihr geblieben, eine Angst vor den springenden Funken, die pocht ihr im Blut. Und in ihren Ohren gellt noch der Schrei, der schreckliche Schrei, der ihr Leben zerriss in ein Davor und Danach. Doch sie lässt sich nicht beugen. Nicht von der Angst und nicht von der Stille. Stark ist sie, Braida, und stolz. La superbgia wird sie bald genannt, die Hochmütige, hinter ihrem Rücken tuscheln sie. Sollen sie. La superbgia zuckt nur mit den Schultern. Was kümmert sie das Geschwätz im Dorf.
Es gibt ein lautes Weinen und ein leises Weinen.
Das leise Weinen gräbt sich nach innen, ätzend wie Gift. Das leise Weinen verhärtet die Gesichtszüge und nimmt das Licht aus den Augen. Das leise Weinen macht einsam. Es ist so still in der Stube. Die Pendeluhr tickt. Die Mutter sitzt über ihr Flickwerk gebeugt. Der Vater stopft seine Pfeife. Die nona lässt das Spinnrad surren. Das Brüderchen liegt in der Wiege, ganz reglos, wie tot. Braida wirft die Zöpfe zurück und beugt ihr Ohr zu dem kleinen Gesichtchen. Atmet es noch?
„Braida!"
Der scharfe Ruf der Mutter lässt Braida zusammenzucken.
„Nimm Nadel und Faden, und hilf mir."
Sie sehnt den Winter herbei. Ganz will sie sich in seine Dunkelheit hüllen und in sein weiches Schweigen. Die Kühe stehen warm und dampfend im Stall, das Schwein grunzt hinter dem Gitter. Bald wird es geschlachtet. Es stirbt einen guten, gesunden Tod zur rechten Zeit. Es wird Würste geben. Der Vater hat schon den Metzger bestellt. Braida lächelt, schon hat sie den Geschmack der geräucherten liongias im Mund. Aber wenn sie dem Blick der Mutter begegnet, senkt sie beschämt die Augen. Ein Glück, dass der Schnee fällt und seine weißen Schleier zwischen sie wirft. Ganz einschneien lassen möchte sie sich, ganz kalt und starr und still werden, unsichtbar, und nichts mehr sehen von der Welt als den gnädigen Schnee.
Wenn