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Die Präsenz: Nach dem Tod ist vor dem Leben
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Die Präsenz: Nach dem Tod ist vor dem Leben
eBook342 Seiten4 Stunden

Die Präsenz: Nach dem Tod ist vor dem Leben

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Über dieses E-Book

Wie soll man in jungen Jahren den Tod der Leukämie-kranken Schwester unter die Füße bekommen? Karly Laubinger (21) begegnet am Totenbett von Anna (18) Gott unerwartet real und lässt sich auf seine Präsenz ein. Dabei erlebt die Theologiestudentin Hilfe, Herausforderung und Abenteuer, während der innere Frieden wächst. Ihr Leben gleicht sich Seinem weltumfassenden Denken an und Karly kommt dem Sinn ihres Lebens näher. Praktisch ist es aber oft hochgradig ungemütlich, denn die Präsenz macht einfach, was die Präsenz eben will!
Buch I einer wahren Geschichte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Juni 2021
ISBN9783347343382
Die Präsenz: Nach dem Tod ist vor dem Leben
Autor

Birgit Hämmerle

Birgit Hämmerle, Jg. 1962, weiß, wovon sie schreibt. Sie lebte in verschiedenen Ländern – zuletzt in Alexandria, Ägypten. In Ägypten arbeitete sie im sozialen Bereich, wozu auch Einsätze unter syrischen Flüchtlingen in Jordanien gehörten. Im Sommer 2014 kehrte sie in ihre Heimat Deutschland zurück.

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    Buchvorschau

    Die Präsenz - Birgit Hämmerle

    Wie ist die Präsenz?

    Eine Badewanne, leer. Lange Zeit leer. Lange. Blank, weiß, wartend. Der Emaille schimmert, wo Licht vom Fenster draufscheint. Stille. Nichts. Warten. Lange Zeit warten. Nichts und immer noch nichts.

    Ein Hebel bewegt sich. Wasser schießt, gurgelt, rauscht in das Weiß. Viel Rauschen, viel Gurgeln. Wasser, noch mehr Wasser, viel Wasser. Reinheit. Eine andere Dimension. Alles geschenkt. Ein Duft von Yasmin und Rosen. Mehr Wasser. Fülle. Tief Atemholen, Luft und Duft, Rauschen, Yasmin und Rosen.

    Das Weiß ist voll.

    Wasser umschließt Dich, Du hörst es. Du fühlst es. Du weißt es. Wärme. Überall ist es um Dich, streichelt, wärmt, wirkt. Demütig ist es, das Wasser. Alles ist offen, alles ist sichtbar, alles ist weich. Du bist auch demütig. Du willst es um Dich, das Wasser, denn Du weißt, es will Dir wohl.

    Die Präsenz ist wie Wasser, umschließt Dich, wärmt Dich, will Dir wohl.

    Ohne Präsenz kein Wohl, kein Leben ohne Präsenz. Ohne Präsenz der Schmutz, die Kälte, die Gleichgültigkeit – blinkendes Emaille, aber kein Leben, keine Wärme.

    Erst das Wasser ist Leben und Wohlsein und Liebe.

    Die Präsenz ist im Wachsen vom Gras, im Fliegen vom Vogel, im Nähren von Milch.

    Wer hat das Lachen erfunden?

    Wer weiß, wo die Wolken hinziehen?

    Wer lässt die Babys wachsen?

    Alle Farben im Weiß, alle Kraft im Magnet, alle Grünkraft im Kompost.

    Die Adern im Kiesel, die Farbe von Stroh, das Konzert im Teich.

    Geheimnis von Mann und Frau,

    Blitz und Donner,

    Lüge gegen Wahrheit,

    Räuber gegen Schandi.

    Licht ohne Sterne im All, Zeit ohne Ende auf Erden, Ende ohne Zeit im Himmel.

    Null und Eins und Plus und Minus.

    Oliver und Stan.

    Hund und Katz'.

    Löwenzahn-Schirmchen und Schneeflocke.

    Sprache, Ideen und Musik.

    Ärztin, Pfleger und Managerin.

    Exekutive, Legislative und Judikative.

    Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.

    EINS

    Nach dem Tod ist vor dem Leben

    Vor zwei Stunden war sie gestorben, endlich, jetzt schneite es heftig und begann früh dunkel zu werden. Bevor die Läden schlossen, sollte sie noch schnell was fürs Abendessen besorgen, hatten sie gesagt und Karly in die Stadt Einkaufen geschickt. Die Schneeflocken schmeckten so metallisch wie immer, aber sie hörte ihre Schritte nicht. Der Schnee dämpfte Geräusche, Wichtigkeiten und Empfindungen. Zwei Dinge waren geschehen und sie konnte sich nicht entscheiden, welches davon wohl bedeutsamer war: Anna war gestorben – und die Präsenz war spürbar gewesen. Von Fern spritzte jetzt kurz das Rot einer Ampel auf, dann Gelb, schließlich pflügten und zischten die Vehikel scharf durch den grün leuchtenden Schneematsch, bis es wieder still war. Das Leben geht weiter, immer weiter, haben sie gesagt. Aber hier, in der Seitenstraße: unwirkliche Taubheit. Stimmen, aber gedämpft, müde, unverständlich. Dann noch mehr Stille. Die Welt blieb stehen. Jetzt hört sie aber doch ihre Schritte knirschen. Sieht die von Anderen wie Abdrücke von heißen Bügeleisen, eingebrannt auf weißen Laken. Was gerade geschieht, brennt auch so einen Abdruck in ihr ein, für immer, unauslöschlich. Aber dann sind die Spuren zugeschneit. Nichts mehr zu sehen, kein Schmutz, alles verwischt und frisch überzogen, jung und verträumt, wie der Anfang von einem Film.

    Aber es war das Ende eines Films heute. Anna, die jüngere Schwester, war auch jung, in drei Wochen wäre sie Achtzehn geworden. Da hätten sie sie in der Klasse hochleben lassen und gefeiert, hätten laut überlegt, wann sie den Führerschein nachholen würde. Und überhaupt Karneval! Stefan und Sven hätten bestimmt getestet, wie trinkfest sie wäre und ob sie das Schießen schon verlernt hat. Unbeschwert hätten sie gelacht, gefeiert, laut, fröhlich. Keiner von Annas Freunden hätte an das Morgen gedacht, sie hätten die Zukunft rosa angepinselt, das haben sie ja oft gemacht, um sie aufzumuntern während der Chemo. Helau und Prost! Abi, Uni, Mann, Kind, Haus, aus. Das Leben sucht sich doch seinen Weg, unbändig, nicht zu stoppen, wie ein Bach im Berg. Aber Annas Leben? Wo ist sie überhaupt jetzt? Und ich? Eine Zumutung das – ich bin ja selber keine 21. Im Juni, an meinem Geburtstag, wird alles wieder sprießen und grünen und der Jasmin im Garten wird uns alle mit Duft betören.

    Annas „Erde-zu-Erde, Staub-zu-Staub-Kleid" liegt 600 m weit dort hinter dem Flockenvorhang und hinter drei Türen. Sie ist jetzt aufgebahrt auf ihrem Krankenhausbett, von dem man den Triangel abgebaut hat, irgendein Ritual spult sich jetzt runter, dabei hat sie heute Morgen noch geatmet, im Koma zwar, aber sie hat geatmet. Wer genau im Raum war? Vergessen. Aber alle wussten es: der Tod kommt. Alle waren ja irgendwie vorbereitet auf den Tag, aber trotzdem war es eben unfassbar, unwirklich, unreal! Eine andere Realität war einfach unangemeldet ins Zimmer getreten und hat majestätisch, selbstbewusst das Steuerruder übernommen. Krass! Jeder von uns konnte es spüren und wir grüßten sie mit Ehrfurcht und Schweigen.

    Es war, als ob wer Bleibänder unten an unsere Kleider angehängt hatte: alles fühlte sich so schwer an, irrsinnig schwer, es war so ein Gewicht in der Luft, unser Geist konnte es spüren, jeder spürte Ihn.

    Karly erinnerte sich, wie in Watte gepackt: ich konnte mich dem nicht entziehen, es nahm mich völlig ein. Ja, der Schmerz war da. Aber da war eben auch eine Tür offen, sie sah plötzlich durch zu etwas ganz Anderen, etwas Neuem, Parallelem. Wie wenn Du zwei Filme übereinanderlegst und gleichzeitig abspielst. Auf der Zunge ein Geschmack von frischem Quellwasser. Krass! Also, wenn Du nicht weißt – wenn Du überhaupt gar nicht entscheidest – wie lange Du auf unserer Seite vom Jordan bist, dann musst Du unbedingt klarkriegen, was danach kommt und wie Du damit umgehen willst! Du musst! Sie beschloss feierlich, ab jetzt jemand zu sein, der die Leute, ja, besonders ihre Freunde, die Jungen, warnt und sie aufweckt aus ihrem Dornröschenschlaf. Mensch, sie mussten doch unbedingt klarkriegen, was es mit dem Tod auf sich hat! Die konnten doch nicht volles Rohr in ihren Untergang rennen! Sie spürte am ganzen Körper: Davon, wie du das beantwortest, hängt doch dann voll ab, was Du im Leben machst. Aber überlegen musst du schon selber. Und am besten bald. Und, noch wichtiger: wie Du dann im Leben stehst, welche Qualität das dann hat. Ja, du kannst leben wie eine Fliege auf der Stachelbeermarmelade – bevor die Klatsche sie erwischt! Sie spürte auch: das würde schwer werden, weil die sich doch alle voll ablenkten.

    Der Rhythmus war einfach unterbrochen worden, also, Annas Art zu atmen. Karly war so erschrocken, weil es doch echt nichts Normaleres gibt, als dass nach dem Einatmen das Ausatmen kommt. Rhythmisch: ein und aus, ein und aus, Tag ein, Tag aus. Und dann hatte sie also nochmal eingeatmet, leise, fast unmerklich, der Oberkörper war eine Spur mitgegangen. Aber das Aushauchen kam nicht mehr. Es kam einfach nicht mehr! Sie schluckte. Es war kalt, die Sonne war weg. Erst später, viel später, erklärte Karly sich das dann alles mit dem Verstand: klar hat sie noch ausgeatmet, aber es war eben das letzte Mal gewesen, ich weiß auch nicht wieso grad dann, aber wir haben es halt nicht mehr gehört, ja, es war einfach nicht mehr zu hören gewesen, das Atmen. Also: ich konnte es nicht mehr hören. Wie wenn der Atem eine Person ist. Jemand, der einfach weggeht und sich dann woanders eine Wohnung nimmt. Wo wohnt Annas Atem jetzt?

    Draußen auf der Sitzbank zum Schuhe-anziehen in der kalten Diele saß sie elend lange. Sie hatte keinen Überblick, wo die Anderen alle waren. Sie wollte für sich sein. Schaute aus dem Fenster, rieb mit der Hand den anderen Unterarm, kaute gierig an den Fingernägeln, wippte leicht von vorn nach hinten. Draußen war es schon trüb, obwohl es doch erst etwa drei Uhr sein konnte. Waren das Flocken? Einzelne. Die Tür ging auf, ein warmer Luftzug wehte auf die Diele heraus, als er die Tür sanft hinter sich zuzog: Vater. Einen Kopf kleiner als seine erstgeborene Tochter, war er ihr krasses Gegenteil: Hausschuhe, in denen man keinem Menschen ernsthaft gegenübertreten wollte, Stoffhose von der Arbeit, rundliche Figur, nichtssagende Strickjacke, allerweltsgrau, über einem karierten Flanellhemd, Haare im Mecki-Stil kurz und früh weiß geworden.

    Hatte er sie gesucht? Echt jetzt? Vati kam und stellte sich wortlos einfach vor Karly hin, die Arme leicht geöffnet. Sie verstand. Ließ den Kopf an seinen Bauch fallen, ruhte, weinte, entspannte. Er umarmte sie einfach, hielt sie fest, streichelte sie sanft. Die Zeit blieb stehen, auch wenn man im Flur die alte Standuhr ticken hörte. Das war ja noch nie, dass Vati mich so umarmt hat! dachte sie sich verschwommen und hörte ihr Blut am Hals pochen. Und noch nie so lange! Die Welt hörte auf, sich zu drehen. Vakuum, Leere, die Hölle in der Stille. Aber da war eben auch was Zartes, das sagte: „Du bist nicht allein jetzt!" Es war in diesen Händen, die ungelenk streichelten, drin, das Etwas. Last, Schwere, wanderte von ihr in diesen Bauch rein und es ging ihr besser.

    Da ist irgendwie diese Wand, da kommen wir Menschen so einfach nicht durch, und wir wissen nicht, wie es auf der anderen Seite aussieht. Ist es dort heiß oder kalt? Sonne oder Nacht? Hörst Du Vögel zwitschern? Kannst Du auf der Zunge spüren, wie Limo schmeckt? Wie beim Schneetreiben heute, nachmittags am 5. Februar um Viertel nach Vier: Du ahnst, da ist was auf der Drüben-Seite der Straße, Lichter, Lärm, Leute, Land, Liebe vielleicht, oder Leere, aber irgendwas ist da. Etwas muss da sein, oder? Aber die Sicht ist vernebelt, verdunkelt, wie jetzt, und man hört alles verzerrt, undeutlich, wie durch 40 Bettlaken, die an unendlich vielen Wäscheleinen dazwischen aufgehängt sind, die im Wind knattern und flattern. Anna wohnt jetzt auf der anderen Seite der weißen Laken. Oder ist sie in ein großes Nichts gegangen, ist sie komplett nicht mehr da? Vielleicht ist ja wirklich nur ihr Körper da, den man nächstens abholen und in einen großen Kühlschrank stecken wird? Aber, wenn der noch da ist, wieso soll dann die Seele, die Anna, nicht mehr da sein? Aus allem wird doch immer was, aus dem Schnee da wird ja auch Nebel, Dampf oder sowas. Der Glaube sagt da was, ich weiß, aber, Scheiße, Du siehst einfach nichts in diesem bescheuerten Schneetreiben!

    Oder ist es vielleicht wie mit dem Boden auf dem ich grad gehe? grübelte sie weiter. Ich setze meine Füße ja auch immer wieder einen vor den Anderen, weil ich voll glaube, dass dort vorn unter dem Schnee immer noch Boden da ist, auch, wenn ich ihn nicht sehen kann. Da könnte ja auch ein Loch sein, in das ich falle. Was ist denn jetzt bitte wahr? Gibt es sowas wirklich: Leben über den Tod hinaus? Mutter glaubt das nicht, denk ich. Was soll ich denn glauben? Und wie kann man denn wissen, was trägt? Was jedenfalls absolut real ist, ist der Tod!

    Da ist ja dann aber auch noch das Schöne, das mal da war und da ist. Was ist denn damit? Wieso ist das dann überhaupt da? Und kann es nicht bitte jetzt auch kommen? Wie Schnee, der einfach kommt, wenn er will und alles verwischt, verzaubert, radikal ändert – der mit der Sonne zusammen alles mit Myriaden Diamanten übergießt. Die Leukämie war einfach so grausam gewesen, so böse. Ein schlauer, überlegener Gegner, erbarmungslos. Wie ein Alligator, der ein Gazellen-Junges überlistet hat und es auffrisst. Aber es ist groß, er schafft es nicht, das Kitz auf einmal herunterzuwürgen, nein, der Rumpf, die Beine hängen grotesk aus dem Riesenmaul heraus. Es dauert. Es dauert so lange. Dann schließlich ist es doch aufgefressen und der Jäger ruht. Stille. Verdauen. Schnee, schenkst Du mir jetzt bitte auch so eine Stille? Eine echte Stille. Ist Anna aufgefressen? Von einem Schicksal, vom Krebs, von der Vergänglichkeit des Menschen, die sie halt früher als die meisten Menschen gefressen hat? Es stach im Herzen, daran zu denken, aber sie konnte die Gedanken nicht einfach ausknipsen wie ihre Taschenlampe: Schnee, lieber Schnee, kannst Du nicht bitte, bitte in meine Gedanken schneien und alles zudecken, kannst du nicht so eine Stille machen?

    Die Diakonieschwester, Annamaria, war in den letzten Tagen oft dagewesen. Hat Mutter unterstützt. Auch Dr. Wegener, der sonst überhaupt keine Hausbesuche macht, hat immer wieder nach dem Rechten geschaut. War er Mutter schon schuldig, die ja lange Jahre in seiner Praxis gearbeitet hat. Alle haben geduldig mitgeholfen, Oma Friederike, Vater, Kira, die Jüngste – alle flüsterten und es gab Tuscheln im Flur oder verhaltenes Gespräch im mittleren Zimmer: Mutter, die mit dem Doc wieder mal das weitere Vorgehen klarmachte. Mutti, die Kompetente, die MTA¹, die der Akuten Myeloischen Leukämie persönlich den Kampf angesagt und ihn fast drei Jahre lang zäh gekämpft hatte, eine Glucke, schützend aufgeplustert über ihrem Kind. Vater, der Umsetzer ihrer Anweisungen: wie oft ist er nach Ulm gefahren, um Anna in der Uniklinik zu besuchen? Um Dieses zu bringen und Jenes wieder mitzunehmen? Der Sprit, den er verfuhr, ist nicht in Hektolitern zu messen! Und klar, da waren – da sind! – die vielen Freunde, Unterstützer, Beter.

    Die Ärzte, die Mutter alle ausgefragt hat, ja, die vielen Leute bis hin zu der Verkäuferin hier im Tengelmann, die Karly aus purem Mitgefühl selber die Sachen in die Tüte packt, als sie von ihrem fahlen Gesicht erschrocken ist. Ja, alle sind wirklich total zartfühlend, sind echt so hilfsbereit gewesen, voll der Wahn. Aber, was hat es genützt, was hat es denn gebracht – also, unterm Strich? Da kann jetzt auch der Schnee drauf fallen. Ja, alles zudecken, hat ja alles nichts gebracht. Morgen ist das dann für die Leute ja auch wieder Schnee von gestern, sie gehen zurück in ihr Leben, der Markt verläuft sich und die Karawane zieht weiter. Kann man nicht alles auf null stellen, bitte, kann man nicht den ganzen Film reparieren, kleben und nochmal von vorn laufen lassen, so dass er nicht an dieser Stelle steckenbleibt – kein Filmriss?

    Nein, kann man nicht! Manches bleibt genauso stehen, wie es gelebt wurde, haargenau so, du kannst da nicht raus, Du bist festgeschnallt wie im Wagen der Achterbahn. Und der Zug rast. Wahrscheinlich kannst du echt bloß überlegen, in welchen Zug Du einsteigst. Ja, sie spürte es tief im Darm: sie musste Leute aus dem falschen Zug holen, machen, dass sie genauer lasen, wo der wirklich hinfährt. Ja, und sie musste selber genauer studieren, welcher Zug wohin fährt. Mann, sie würde vorsichtig sein, wo sie selber einstieg! Zurück geht sonst irgendwann nicht mehr, das merkt auch der Fahrer von dem zu-gepuderten Peugeot da drüben, der grad aus der Parklücke wieder raus will: über den hohen Wulst aus schmutziger Schneesulze mit Rollsplit, die der Pflug eben vor die geparkten PKWs geschoben hat, kommt er nicht drüber, obwohl er die Karre hin- und herpendeln lässt. Die Räder drehen immer wieder durch, der Motor jault, aber der Typ bleibt eben trotzdem stecken.

    Anna war auch so fragil, sie war nur für den Sommer gemacht. Das ist gemein, das ist einfach ungerecht, sie mit Sommerreifen in den eisigen Februar des Daseins zu schicken! Gott, was soll das? Am 23. Februar hätte sie den heiß ersehnten Achtzehnten gefeiert, drei Wochen hätte es einfach noch gebraucht, aber nein, es hat nicht sollen sein! Sie hätte im Sommer Geburtstag haben sollen, verdammt noch mal! Sie hat was geahnt – oder gewusst vielleicht.

    Einmal hatte Karla bei ihr Wache geschoben, geschaut, dass ihre Schwester alles hatte. Anna deutete auf einmal schwach mit dem Kinn auf den Mittleren von den Einbau-Wandschränken ihr gegenüber.

    „Ich soll den Schrank aufmachen, Anna?" Nicken. Ok, sie öffnet also die Pressholztür, die quietschend zur Seite schwingt und schaut Anna fragend wieder an.

    „Brauchst Du ein frisches Hemd oder sowas?" Aber sie schüttelt den Kopf, fast unmerklich, Augen geschlossen. Dann öffnet sie sie halb und sagt, die Stimme schon belegt:

    „Da, das ist für Dich!" Karly versteht nicht. Schaut in die Fächer des Schrankes. Was will sie denn jetzt bloß? Ihr Blick sucht zwischen Stapeln von Pullovern, Hosen und anderen Kleidungsstücken herum, von oben nach unten. Da. Meint sie das vielleicht?

    „Geht's um die Schokolade da, Anna?" Die nickt. Ja, da rechts ist eine Seite des Schrankes für die vielen Bonbonnieren, Pralinenschachteln und liebevoll verzierten Schokogrüße reserviert, die die Besucher Anna im Lauf der Zeit mitgebracht haben. Sie konnte aber wegen der Chemo nichts davon essen bzw. bei sich behalten. Also hat man es hier mal alles gesammelt und aufgehoben. Für später. Für später, wenn sie dann gesund sein würde und die coolen Sachen genießen könnte. Annas Augen sind jetzt wieder geschlossen, es ist alles so anstrengend für sie. Karly schluckte, erschrak.

    Konnte es sein, dass Anna ihr gerade vererbte, was Andere ihr selber als Genüsse schenken wollten? Ja, so war es: Karla sollte haben, was Anna niemals mehr würde genießen können. O Gott, mir brechen alle Knochen!

    Wir haben sie zu retten versucht, echt! In ihrem Kopf schießen die Gedanken hin und her. Alle haben es versucht, haben gekämpft! Die Kompetenten und Berufenen, die immer genau wussten, wie alles geht genauso wie wir depperten Anderen, die immer ungelenk und ratlos herumstanden. Bis wer von den Kompetenten uns einen Job gab, den wir dann eifrig ausführten. Einmal aber hat Anna diese Mauer der Kompetenz übersprungen, mit Karly zusammen – oder wie soll man das sonst beschreiben? Es lag vielleicht vier Wochen zurück. Anna war kurz zuvor entlassen worden, sie sollte daheim sterben dürfen, da, wo alles vertraut war. Mutti hatte sie aus ihrem kleinen Zimmer unten neben dem schwarzgekachelten Bad geschmissen und quartierte Anna dort ein, das war zum Pflegen praktischer als oben, Wasser gleich nebendran und so.

    Anna lag da noch auf der Fensterseite, um das Tageslicht besser zu nutzen. Später stand ihr Bett in der Mitte, so dass man gut von allen Seiten drankam, also, die Profis von der Hauspflege vor allem. Karly hatte grad Dienst, na ja, alle haben sich halt 24/7 abgewechselt an ihrem Bett, damit wer auch noch zwischendrin den Haushalt schmeißen konnte. Es fing so an, dass die krebskranke, jüngere Schwester auf einmal ganz komisch zu röcheln anfing und ihre Augen müde aber dringend Karly suchten. Sie, der ungelenke Tollpatsch, überlegte, wen kann ich jetzt herholen, da zu helfen? Aber in dem Moment war einfach niemand Kompetenter im Haus. Anna bekam aber immer weniger Luft, ihr Oberkörper hob sich jetzt gequält an! Mensch, was mach' ich denn jetzt bloß?

    Weil Anna oft blutete, auch aus der Nase – die blöden Medikamente! – hatte Wegener, der Doc, beide Nasenflügel auf einmal tamponiert. Nein, sie konnte durch die Nase keine Luft ansaugen! Die Baumwollpads waren außerdem voll angetrocknet und verkrustet. Was sollte sie tun? Anna jedenfalls kannte ihren Feind besser als sie. Mit ihrem Blick lenkte sie sie zum Beistelltisch, auf dem eine Nierenschale stand; in dem spiegelnden Chrom lagen verschiedene Untersuchungsinstrumente für den Doktor bereit. Sie blickte hinein, versuchte die Bedeutung der Spiegel, Pinzetten und Greifer zu ermessen. Anna würgte es, sie deutete auf ihren Hals, öffnete den Mund weit, um nach Luft zu schnappen, bäumte sich trotz aller Schwäche auf, weil sie fast nicht atmen konnte. In Karly begann es zu sieden, dann zu brodeln, die Kopfhaut prickelte. Sie blickte Anna scheu in den geöffneten Mund. Die war so blass wie der Wintertag. Wieder folgte sie Annas Augen, die zum Tisch hinüberkletterten: was soll ich? Plötzlich dämmerte es: Sie konnte etwas Gruseliges, Rotes hinten in Annas Rachen sehen – das also versperrte der Luft den Weg!

    Das muss weg! Und zwar dalli! Karly schnappt sich also den größten Greifer, aber dann läuft es ihr wie ein Eiswürfel den Rücken hinunter: Hilfe, der ist ja total spitz! Lieber nicht mit so einem Teil in dem sensiblen, engen Rachen herumgreifen, da kann ich Dich ja verletzen!

    Das Weiße in Annas Augen leuchtet, wieder bäumt sie sich auf, fleht sie an, ihre Hand um Karlas Unterarm eine Rohrzange. Also gut, dann halt doch! Mund auf! Anna röchelt, versucht, Luft zu ziehen, das gelingt aber fast nicht. Rein mit der Pinzette, sie spürt das gemeine Ding, aber sie kriegt es nicht zu packen. Immer wieder haut es ab, wie wenn du einen Aal mit der Hand greifen willst! Anna, halt' durch! Scheiße nochmal, das muss doch gehen, irgendwie! Anna, bleib da, lass den Mund offen, lass ihn of-fen! Karla muss sich im Bruchteil einer Sekunde entscheiden: das kann jetzt fürchterlich schiefgehen! Wenn sie nicht total fest zupackt, dann erwischt sie das Ding da nicht, dann stirbt Anna, weil sie keine Luft kriegt! Wenn sie aber mit den Metall-Spitzen ihren Hals, den Rachen von innen aufschlitzt, dann hat sie sie durch die Blutung getötet, denn die Nase funktioniert ja nicht mehr. Gott, hilf!

    Also wühlt sie tief hinten, da, wo die Mandeln sind, nein, weiter hinten noch! Anna stößt nur noch gutturale Laute aus wie ein Tier oder wie wenn sie Mundwasser gurgelt, ihr Oberkörper windet, verdreht sich grotesk. Karly schlüpft als ganze Person in ihre Hand, beschließt: „Ich krieg dich, Du blödes Teil! Es dauert, dauert, wieder nicht geschnappt. Wellen von Panik, pausenlosem Pochen rollen über sie, Schweiß, den sie nicht merkt. „Ich krieg dich raus, Du Scheiß-Ding!, schreit sie überlaut und ein Passant vor dem Fenster schaut sich unsicher nach der Herkunft des Schreis um. Karla rührt, schnappt, greift, so fest sie kann. Tränen setzen den Blick unter Wasser. Es will nicht. Egal. Sie lässt nicht locker. Da, jetzt: Ich spüre es, ich hab‘ was! Der Greifer zwickt nicht leer zu wie zuvor. „Anna, gleich! Ich hab's, halt durch! Karla hält atemlos die große Pinzette aus Stahl mit zwei Händen fest zu – Annas Würgen und Wälzen stört total. Sie zieht an, ein bisschen. „Jetzt nicht wieder auswitschen! Bleib da! Hau nicht ab! Sie zieht weiter, vorsichtig, der Widerstand ist größer, als sie gedacht hat. Ihre Kiefer mahlen, knirschen, es donnert im Kopf. Das Teil ist so groß wie ein Apfel, sowas ist Karla noch nie jemals im Leben begegnet! Weiter, weiter!

    Plötzlich gibt etwas nach, wie wenn eine festgerostete Schraubenmutter sich auf einmal doch drehen lässt. Das „Ding" hat sich tatsächlich aus der Verankerung gelöst und kommt jetzt. Vorsichtig, ganz vorsichtig! Es gelingt ihr, den „Apfel" aus blutigem Schleim vollends und im Ganzen aus dem Mund zu locken, zu lösen, zu ziehen, wow!

    Anna reißt ein Luftpaket in sich hinein wie der Wolf, der das Lämmchen verschlingt, fällt nach hinten weg. Nochmal, und – nochmal. Karly hat es geschafft, das gruselige Koagulat in die Nierenschale zu verladen und schlottert am ganzen Körper. Tränen, Schweiß: alles mischt sich. Sie merkt es nicht. Alles bebt wie der Vesuv. Blicke auf Anna, Fragezeichen? Langsam atmet die ruhiger, Augen geschlossen, Mund weit offen, Brustkorb hebt und senkt sich, hebt und senkt sich. Alles gut? Alles gut. Karly atmet, stöhnt, hat immer noch die Pinzette mit den blutigen Spitzen in der rechten Hand, nimmt sie sich mit der Anderen ab und wirft sie zu dem Apfel in die Schale. Ein Stuhl? Da, ein Stuhl.

    Nach 200 Jahren öffnet sich leise die Tür, Mutter erscheint. „Wie läuft es hier? Mutti kommt herein, schließt sachte die Tür, will Anna nicht wecken. Schaut ihr ins Gesicht, zieht die Augenbrauen zusammen, sieht den blutigen Apfel – es reißt sie zu Karly herum. „Was…? Sie stoppt, Karly sagt gar nichts, nichts, wippt nur leicht auf dem Stuhl hin und her, noch zitternd, reibt ihren Unterarm. Mutters Hände falten sich über ihrer Nase und dem Mund wie eine Maske. Sie blickt noch einmal im Schock zwischen Koagulat, Pinzette, Anna und Karla hin und her. Und plötzlich ist da ein Funken Respekt in den kompetenten Augen.

    Wie ein Schlafwandler auf dem Dachfirst hat Karla endlich den Einkauf erledigt, zieht sich mühsam die nassen Stiefel aus. Die werden weiße Ränder vom Schnee bekommen, das geht schwer wieder weg. Niemand ist mehr bei der Bank im Flur, Vati ist verdunstet. Karly findet ihn in der Küche, stellt die Tüten auf den Tisch. „Ich habe das Brot geholt. Frische Tomaten gab es keine mehr bei Tengelmann. Aber Käse. Der Gouda war im Sonderangebot, 99 Pfennig die 100 Gramm." Vater nickt schwach, auch er ist im Nebel.

    ¹ MTA = Medizinisch-technische Angestellte; Berufsbezeichnung für im Labor Tätige

    ZWEI

    Wie holt man sich den Tod?

    Annas Leukämie war wie ein Überfall! Was sollte man sich für einen Reim auf dieses fundamentale Geschehen von Annas Tod machen? Es war doch alles ganz normal gewesen – bis vor drei Jahren eben! Eine ganz normale Familie waren die Laubingers. Warum traf es gerade sie? Hatte irgendwer vielleicht was falsch gemacht – in der Vergangenheit vielleicht?

    Großvater Wilhelm Laubinger hatte in der Wirtschaftswunderzeit das Anwesen in der Achalmstrasse in Herzogenaurach gekauft und nutzte die großzügigen Hallen am Haus als professionelles Lederlager, aus dem er Schuhfabriken überall in Deutschland belieferte. Der Krieg hatte ihn, Friederike, seine Frau, und die beiden Söhne gezeichnet. Alle waren froh, wieder Frieden und eine Perspektive zu haben und etwas aufbauen zu können. Wilhelm hatte als Auslandsagent der Schuhfabrik Friesenberg etwa ein Jahrzehnt in Portugal und dann noch länger in Wien gearbeitet und war als Lederhändler immer auf Tour gewesen. Eigentlich seltsam, dass sie Franken wählten, denn er und Friederike kamen aus Weinheim in Baden, wollten dort aber nicht wieder hin! Na ja, in Franken gab es einfach viele Schuhfabriken, also Kunden. Großkunde Adidas saß

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