Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Verfolgung: Roman
Verfolgung: Roman
Verfolgung: Roman
eBook218 Seiten2 Stunden

Verfolgung: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Als Kind quält Abby Nacht für Nacht ein immer wiederkehrender Traum, in dem sie über ein Feld, übersät von Schädeln und Knochen, wandelt. Später, als Erwachsene ist sich Abby sicher, diesen Traum hinter sich gelassen zu haben. Bis zum Abend vor ihrer Hochzeit, an dem der schreckliche Traum zurückkehrt und sie mit den dunklen Geheimnissen konfrontiert, die sie bislang vor Willem, ihrem künftigen Ehemann, verborgen hat. Am folgenden Tag – Abby ist weniger als 24 Stunden verheiratet – tritt sie auf die Straße und wird von einem Bus erfasst. Während seine Frau halb im Koma, halb im Wachzustand im Krankenhaus liegt, versucht Willem herauszufinden, ob der Unfall ein bloßes Missgeschick oder eine absichtliche Tat war, und stößt dabei auf rätselhafte Hinweise, auf das, was seine Frau möglicherweise verbirgt. Warum zum Beispiel hat sie einen ausschlagähnlichen roten Abdruck um ihr Handgelenk? Was wühlt sie in ihren Träumen derart auf, dass sie durch ihre eigenen Schreie erwacht? Allmählich öffnet sich Abby ihrem Ehemann und erzählt ihm, was sie bislang noch niemandem anvertraut hat. In Verfolgung lassen uns Gedankenfragmente von einer Erzählebene zur anderen, von einem Kapitel zum nächsten springen, sie spiegeln die Zerrissenheit der Protagonistin in Gegenwart, Vergangenheit und Traum wider. Realität und Albtraum sind kaum voneinander zu trennen, treiben die Handlung atemberaubend bis zum Finale.
SpracheDeutsch
HerausgeberOsburg Verlag
Erscheinungsdatum24. Feb. 2020
ISBN9783955102210
Verfolgung: Roman

Ähnlich wie Verfolgung

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Verfolgung

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Verfolgung - Joyce Carol Oates

    Shaheen

    I

    Der junge Ehemann

    Was ging dir durch den Kopf, als es passierte. Du musst dich erinnern.

    Ich glaube, du weißt es. Ich glaube, du musst es mir erzählen. Für uns beide. Du musst dich erinnern, und du musst die Wahrheit sagen.

    Jener Moment. Der Moment, bevor es passierte.

    Wir müssen zu jenem Moment zurückkehren.

    Als du aus dem Bus ausstiegst. Als du auf dem Bordstein standest.

    Als du vom Bordstein heruntertratest.

    Ob du es unabsichtlich tatest oder – absichtlich.

    Wir müssen das verfolgen. Wir müssen es wissen.

    Deine Lunge ist durchlöchert. Dein Schlüsselbein und fünf Rippen sind gebrochen.

    Dein Schädel hat ein halbes Dutzend Haarrisse. Dein Gehirn wurde gequetscht, aufgerissen. Die Gefahr sind Blutgerinnsel im Herzen.

    Du schienst »eine Entscheidung zu treffen« – sagte der Busfahrer.

    Wir müssen zu jenem Moment zurückkehren. Wir müssen wissen, warum.

    Warum du getan hast, was du getan hast, was dir durch den Kopf ging, als es passierte. Als du von Bordstein heruntertratest.

    Am Morgen nach unserem Hochzeitstag.

    Tanz der Skelette

    Ske-e-lett. Sie presst ihr Gesicht ins Kissen und flüstert das (schreckliche) Wort (kaum) hörbar.

    Unsicher, was Skelett genau bedeutet. Obwohl sie (vielleicht) weiß, was es bedeutet.

    Ske-e-lett. Ske-lett. Skelett.

    Ein furchtbares (Erwachsenen-)Wort, das man nicht laut sagt. Ein Wort, das ein Kind nicht kennt und das ein Kind sicher auch nicht aussprechen würde. Ein Wort, das immer furchtbarer wird – je häufiger man es ausspricht. Ein Wort, das verführt, das dir wie ein giftiger Dampf die Nase hochkriecht und das du, obwohl du weißt, dass du es nicht einatmen solltest – tief einatmest.

    Dieser Traum verfolgt sie, während sie heranwächst. Nachdem ihre Eltern verschwunden sind. Nachdem Verwandte sie aufgenommen haben.

    Skelette. Im Gras.

    Immer wieder dieser eine Traum. Nahezu jede Nacht. Überall, wohin sie auch gebracht wird. Ihre Habseligkeiten zusammengestopft in einem einzigen Beutel.

    Zitternd, sodass ihre Zähne klappern wie Kastagnetten.

    Ja, und manchmal macht sie ins Bett in der neuen Umgebung, sie hat solche Angst. Die gemurmelten Worte macht ins Bett beschämen und quälen sie, begleiten ihr Leben.

    Sie kann nicht begreifen, wer oder was sie dazu zwingt, diesen zugewachsenen Pfad zu gehen. Dazu zwingt, durch das hohe Gras zu stolpern, das ihre Hände aufreißt, ihr Gesicht. Sie zwingt zu sehen.

    Hast du geglaubt, du könntest uns vergessen? Hast du geglaubt, wir könnten dich vergessen?

    Das ist lange vorbei. Wenn es eine Straße gäbe vom Jetzt zum Damals, dann wäre da ein Riss in der Straße, eine Kluft, sodass man, um auf die andere Seite zu gelangen, in den Straßenspalt hinein- und auf der anderen Seite wieder herausklettern müsste. So weit weg war das.

    So lange her, der furchtbare Skelett-Traum.

    Wie oft hatte sie diesen Traum gehabt. Er ließ ihren schmalen Körper beben wie elektrischer Strom und jäh aufschrecken.

    Zitternd vor Kälte. Zu wenig Luft, um zu schreien.

    Gut zu erkennen – die Schädel.

    (Menschliche) Schädel. Nicht von Tieren.

    Im hohen Gras. Unten am Bach.

    Nicht nah dran. Nein.

    Aber – doch gesehen. Augen zu spät zugemacht.

    Gesehen, dass ein Schädel größer war als der andere, das war der Daddy-Schädel. Der kleinere Schädel war der Mommy-Schädel.

    Im hohen Gras lagen die Knochen so nah beieinander, dass es (fast) aussah, als tanzten sie zusammen. Liegengeblieben, wo sie hingefallen waren, vor langer Zeit.

    Hochzeitsmorgen

    Hast du geglaubt, du könntest uns vergessen? Hast du geglaubt, wir würden dich vergessen?

    Frühmorgens an ihrem Hochzeitstag. Noch vor Morgengrauen wird sie von jenem Traum geweckt, jäh aufgeschreckt. Der Skelett-Traum, den sie hinter sich gelassen zu haben schien, lebhaft vor ihren schreckerfüllten Augen.

    Schweißnass in ihrem weißen Baumwollnachthemd. Das letzte Mal wird sie dieses (ausgediente, geliebte) Nachthemd mit der Spitzenkante tragen, denn es ist das letzte Mal, dass sie allein schlafen wird.

    Ja, sie ist (noch) Jungfrau. Zumindest das steht fest.

    Erschöpft und erschreckt auf dem Rücken liegend an einem Ort, der aufgewühlt scheint, zerfurcht wie Erde, der aber ihr Bett ist. Ihre Haut ist wund, so als ob messerscharfe Grashalme sie aufgerissen hätten. Im Traum ist sie gerannt, verzweifelt und nach Luft schnappend, auch wenn ihr der Verstand sagt, dass es sinnlos ist zu rennen.

    Hast du geglaubt, du könntest uns entrinnen?

    Nicht wissend zunächst, wo sie ist oder welche Zeit es ist, denn in dem furchtbaren Traum ist sie sehr jung und an einem Ort, der nicht dieser Ort ist, in einer Zeit, die lange vorbei ist.

    Ihr heutiges Ich hat sie sich sorgfältig aufgebaut, als Erwachsene in der Erwachsenenwelt – dieses Ich existiert noch nicht in jenem Traum. Im Traum gibt es nur das Kind-Ich, ihr wahrhaftigstes Ich, schutzlos, so wie ein neugeborenes Rehkitz schutzlos ist, das noch nicht einmal einen eigenen Geruch hat.

    Ein schutzloses Kind, von der Mutter verlassen.

    Ein schutzloses Kind, aus Mitleid von einer Tante aufgenommen, nachdem es von seinen Eltern verlassen wurde.

    Im Schlaf spürte sie, dass er ganz nah war, der Skelett-Traum. Zuerst hat man eine Vorahnung dieses Traums, wenn die Glieder wie gelähmt sind und der Körper taub wird, wenn man etwas ahnt, etwas ganz Furchtbares, was man nicht anschauen sollte, doch was man im Traum anschauen muss, denn man hat keine Wahl.

    Aber warum gerade am Abend vor ihrem Hochzeitstag? Warum dieser alte, entsetzliche Traum ihrer Kindheit …

    Sie ist mitten im hohen Gras, am seichten Bach. Abfälle wurden nach Sturzregen, Überflutung flussabwärts gespült. Schutt, abgebrochene Äste, mumifizierte Körper kleiner Tiere. Überreste verrotteter Rucksäcke. Und zwischen all diesen Dingen, im Gras verstreut, die Skelette.

    Wie konnte man wissen, dass das menschliche Knochen waren? – Konnte man nicht.

    Sie weiß es nicht. Nein!

    Nur die Schädel. Ganz nah, versteckt im Gras, nah beieinander. Warteten auf sie.

    Der größere Schädel mit den klaffenden Augenhöhlen, Nase. Grinsende, abgebrochene Zähne in einem ausgehängten Kiefer, der geschrien hatte.

    Der kleinere Schädel mit kleineren Augenhöhlen, Nase. Das ist der ruhige Schädel, der wachsame und vorsichtige Schädel.

    Vielsagend, oder ist es purer Zufall, dass beide Schädel zuletzt mit dem Gesicht nach oben liegen blieben.

    Wer auch immer sie ist in jenem Traum, das ist nicht sie. Nicht mehr.

    Viel älter jetzt. Zwanzig jetzt.

    In Sicherheit! Erwachsen.

    Doch: Wenn man den Bachlauf beobachtet, das glitzernde Wasser. Wenn man genau hinhört, dann kann man sie hören. Stimmen, gerade eben zu vernehmen. Mier-mi! Mier-mi!

    Verstreute Felsbrocken, Geröll. Einige sind von der Sonne ausgeblichen, knochenweiß. Einige sind mattgrau, bleifarben. Einige sind mit seltsam knotigen Gewächsen überzogen, wie Geschwülste. Einige Knochen sind im Bachbett gelandet, wurden ein Stück flussabwärts getragen, haben sich in den Steinen festgekeilt, haben versucht, sich zu befreien und schafften es nicht.

    Wie lange ist es her, dass das lebendige Fleisch abstarb, ranzig wurde, sich auflöste und von den Knochen abfiel …

    Clavicula. Humerus. Femur. Tibia. Handwurzel. Rippen. Sternum … Wie kommt es, dass sie die Namen dieser Knochen kennt? Sie hat nie einen Biologiekurs besucht. Sie hat gar keine Begabung für Naturwissenschaften.

    Ihr Verlobter würde die Namen der Knochen kennen. Immerhin schon im Vorsemester Medizin an der staatlichen Uni. Obwohl ihm der mörderische Konkurrenzkampf den Mut genommen hat und er sich im hinteren Teil des Kurses wiederfindet, aber nicht schummeln will, selbst wenn er mithilfe des Wissens und der Großtuerei anderer Studenten schummeln könnte. Vielleicht möchte ich einfach gar nicht so unbedingt Arzt werden. Macht’s dir was aus, Abby? Keine Arztfrau zu sein?

    Sie hatte gelacht und ihn geküsst. So dankbar ihrem Verlobten gegenüber, weil er sie liebte, ohne zu wissen, was an ihrem Herzen nagte, sie würde ihm alles verzeihen.

    Die Braut

    Ein blendend-greller Aprilmorgen eines verlorenen Jahres. Ist sie erst einen Tag verheiratet?

    Genau genommen ist sie zu dieser Zeit (elf Minuten nach acht) gerade einmal einundzwanzig Stunden verheiratet.

    Diese Erkenntnis raubt ihr den Atem. Ein Schock.

    Nein, ist das wirklich mir passiert? Verheiratet.

    Im Raritan-Avenue-Bus, der sie ins Stadtzentrum von Hammond bringt, hoffte sie inständig, ganz allein in der hintersten Reihe sitzen zu können. Dem wundersamen Gefühl, verheiratet Ehefrau … zu sein, ohne Störung nachzusinnen.

    Doch mit zwanzig hat sie ein süßes, unschuldiges, sommersprossig-leuchtendes Gesicht, das bei Fremden den Wunsch auslöst, sie anzusprechen. Sie anzulächeln. Hal-lo! Verdammt kalt heute Morgen, was? – und sie ist zu höflich, um sich abzuwenden, zu schüchtern, nicht zu antworten, und schon ist es passiert: ihr großes Bedürfnis, im Bus allein zu bleiben, verwehrt.

    Der erste Morgen als verheiratete Frau, so wertvoll. Furcht vor Eindringlingen.

    Fahren Sie oft mit diesem Bus, Miss? Ich glaube, ich habe Sie schon mal gesehen …

    Nein. Nein.

    Vielleicht im Kino? Gehen Sie manchmal ins Kino? Letzten Freitag – waren Sie da im Kino? Ich könnte schwören, ich hätte Sie gesehen … Also wirklich: Sie sehen aus, als ob Sie Schauspielerin wären, wie die … wie heißt sie noch …

    Nein. Sicher nicht.

    Aber Sie sehen besser aus als die. Jünger.

    Wie der glimmende Faden in einer Glühbirne – sie glüht. Innerlich. Ihre Glückseligkeit, mit einem guten, anständigen Mann verheiratet zu sein, den sie liebt, der sie verehrt.

    Aber das ist ihr privates Glück. Sie möchte es mit beiden Händen umschließen. Eine Flamme vor dem Wind schützen.

    Ist das ein Ehering? Hey – Sie sind eine verheiratete Frau?

    Entschuldigen Sie, wenn ich neugierig bin – aber – Sie sehen viel zu jung aus, um verheiratet zu sein … Oder?

    Sehen doch nicht älter aus als – ja, sagen wir – sechzehn?

    Nervöses Lächeln. Immer höflich. Augenkontakt vermeiden. Unbewusste Gewohnheit, ihr linkes Handgelenk zu reiben.

    Um ihr linkes Handgelenk herum zieht sich ein roter, ausschlagähnlicher Ring. So als ob ihr Handgelenk festgebunden gewesen wäre, ganz fest. Als ob ein Seil oder ein Band ihre empfindliche Haut dort gerieben hätte, wundgerieben an einigen Stellen.

    (Als junges Mädchen lernt man, Fremde nicht durch strikte Zurückweisung zu kränken. Vor allem nicht Männer. Fremde nicht, aber auch Vorgesetzte nicht. Als sie noch Schülerin war, scheinbar unendlich lange her, auch Lehrer nicht. Lächeln, freundlich wirken, man ist ja ein hübsches, nettes Mädchen, nur wenn man etwas Falsches sagt, nicht so strahlend lächelt wie erwartet, dann kann ein Mann ganz schön unangenehm werden. Sehr schnell.)

    Na dann – einen schönen Tag noch, mein Mädchen! Hier muss ich raus.

    Zwei freie Plätze in der hinteren Reihe, sodass sie sich, klug wie sie ist, auf den äußeren Platz setzt und den inneren, direkt am Fenster, frei lässt. So ist es unbequem für jemanden, über ihre Füße hinwegzusteigen, um zu dem freien Fensterplatz zu gelangen. Wenn also jemand neben ihr sitzen möchte, muss er sie bitten, hinüberzurutschen, was sie (natürlich) machen wird, jedoch mit einem zerstreuten Gesichtsausdruck, der zeigt, dass sie mit den Gedanken ganz woanders ist.

    Noch ungeübt im Verheiratetsein, denn noch ist kein ganzer Tag vergangen, dass sie Mrs. Willem Zengler ist, doch geübt darin, Augenkontakt mit Fremden in der Öffentlichkeit zu meiden. Selbst mit freundlich wirkenden Frauen.

    Entschuldigen Sie Miss – ist der Platz da besetzt?

    Muss sagen: Nein. Nicht besetzt.

    Muss rüberrutschen, ans Fenster. Steifes Lächeln, zum Fenster hindrehen, die linke Hand mit dem silbernen Ehering verstecken.

    Kalt heute Morgen, was? Verdammter Wind, wenn man auf den verdammten Bus wartet …

    So tun, als höre man das nicht. In der örtlichen Sozialbehörde trifft man immer mal wieder schwerhörige oder taube Menschen, auch Teenager, Kinder. Ist nichts Ungewöhnliches, hörgeschädigt zu sein.

    Sie hat auch schon mit blinden Menschen gearbeitet. Sehgeschädigt.

    Sie fragt sich, ob es noch weitere Kategorien gibt – seelengeschädigt.

    Noch immer spricht die Person neben ihr mit ihr, oder besser gesagt, redet auf sie ein. Der alte Elmer Fudd aus Bugs Bunny. Spricht mit sich selbst, klagt, doch mit Humor, in der Hoffnung, dass das hübsche sommersprossige Mädchen neben ihm irgendetwas Interessantes aufschnappt und mit einem Kichern reagiert, mit einem flirtenden Blick von der Seite.

    Sie hat gar nicht geschaut, wer er ist. Sie wird sich ihm auch nicht zuwenden, nicht einmal mit einem Seufzer der Verzweiflung, obwohl er (verdammter Kerl) angefangen hat sich auszubreiten, sein ganzes Gewicht, seine Masse in den harten Plastiksitz zu quetschen, und sich dann ganz unauffällig in ihren Sitz hinüberdrängt, so als ob er vorher die Luft angehalten hätte und sie jetzt rauslässt.

    Zu dumm, dass ihr großer, starker junger Ehemann heute Morgen nicht bei ihr ist. Nah bei ihr. Ihre Hand mit seiner umschließt. Willem würde sein Leben für sie geben. (Das wusste sie.)

    Niemand hätte sich neben sie setzen können, wenn Willem da gewesen wäre. Niemand hätte in ihr privates Glück eindringen können.

    Aber Willem hat einen anderen Bus genommen, fährt in einen anderen Teil der Stadt. Willem ist auf dem Weg zur Uni.

    Also jetzt, der erste Morgen als Mrs. Willem Zengler! Ihr neues Leben.

    Die Neuvermählten haben nicht genügend Geld für Flitterwochen oder Ähnliches, jetzt noch nicht. Sie müssen beide arbeiten und Willem hat auch noch seine Uni. Am frühen Samstagmorgen werden sie nach Norden fahren, zum Lake George, wo sie einen Caravan gemietet haben, von einem Freund von Willems Vater, und Sonntagabend wieder zurück. Falls es bald mal ein langes Wochenende gibt, vielleicht zu den Niagara-Fällen, die sind nur fünf Stunden entfernt.

    Und irgendwann werden sie eine richtige Hochzeitsreise machen, an einen romantischen Ort, so wie Miami Beach oder Paris. Willem hat es versprochen.

    Neben ihr drückt der Oberschenkel des schwergewichtigen Fremden gegen ihren. Selbst durch mehrere Schichten Kleidung und ihren Mantel darüber spürt sie seinen aufdringlichen Druck.

    Weicht zurück. Unauffällig.

    Möglich, dass der massige Mann sich unabsichtlich in ihren Sitz hinein ausbreitet. Er ist schließlich ein Schwergewicht. Und alt. Sie hört ihn laut atmen, ein asthmatisches Schnaufen.

    Vielleicht ist er gekränkt, weil sie so zurückhaltend ist. Das penetrante Reden hat aufgehört.

    Doch die Anspannung hat sie ängstlich gemacht. Sie ist extrem sensibel gegenüber der Stimmung Erwachsener, vor allem erwachsener Männer.

    Wie rasch eine Stimmung sich ändern kann. Im Nu kann sich die Stimmung ändern. Das erste Signal dazu ist ein steifer Kiefer. Die Sehnen im Nacken. Das Luftholen.

    Hör mal. Wo fährst du eigentlich hin?

    Hier. Genau hier. Sagte ich –

    (Aber warum diese aufwühlenden Gedanken? An diesem besonderen Morgen!)

    Sie wollte mit ihrem neugewonnenen Glück so gern allein sein. Der erste Morgen als verheiratete Frau. Der erste

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1