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Wer zuletzt lacht: Philosophischer Kriminalroman
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eBook257 Seiten3 Stunden

Wer zuletzt lacht: Philosophischer Kriminalroman

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Über dieses E-Book

1. Zwei Menschen befinden sich in einem Raum.
2. Einer stirbt einen Tod, der verursacht worden sein musste.
3. Eine der beiden Personen kann sich nicht rühren.
Schluss: Also muss die zweite Person der Verursacher dieses Todes sein.
Doch nichts ist so, wie es scheint.
In der Psychiatrischen Klinik in Linz wird der bewegungsunfähige Katatoniker Anton Pointner ermordet, offensichtlich von seinem langfährigen Freund, dem berühmten Schauspeler Clemens Baumgartner. Denn außer diesen beiden war scheinbar niemand im Raum, als die Tat passierte. Ein Fall für Chefinspektor Buchinger, der komplizierte Fälle und schwierige Menschen mag. Und tatsächlich: Je tiefer Buchinger in den Fall eintaucht, desto mehr Fragen kommen hoch. Ein Krimi, der philosophischen Fragen nachspürt - vor allem dem Verhältnis zwischen Schein und Sein.

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum2. Okt. 2020
ISBN9783990741245
Wer zuletzt lacht: Philosophischer Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Wer zuletzt lacht - Roland Luft

    Kapitel 1

    Rätsel

    Er betrat die Psychiatrische Klinik und alles war wie erwartet: die Ziersträucher, der Geruch nach schalem Kaffee, beruhigend-freundliche Bilder an den weißen Wänden, alles schrie förmlich nach Alltäglichem, nach Normalität, nach Unbeschwertheit. Man gab sich große Mühe, den Anschein von Unauffälligkeit und Unbedenklichkeit zu erwecken. Nur dass kein Schwein auf diese Lüge reinfiel. Auch wenn das Krankenhaus seit einiger Zeit einen komplizierten und modernen Namen trug, für die Linzer würde es immer Niedernhart, das Wagner-Jauregg-Krankenhaus, die Irrenanstalt bleiben.

    Sogar kleine Kinder schreien schon, wenn sie die abgestandene Frische der unlängst gewischten Fußböden riechen – Vorsicht Rutschgefahr! - und wenn sie in Gesichter schauen, die sich nicht entscheiden können zwischen Hektik, Überheblichkeit und aufgesetzter Höflichkeit.

    Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, schnell, mit elastischem Schritt. Falls ihn jemand erkennen sollte, dann sollte niemand glauben, er sei wegen einer Krankheit hier. War eh nicht sehr wahrscheinlich, dass sich von den hier gestrandeten Existenzen auch nur eine Person ins Theater oder in die kleinen Programmkinos verirren würde. Eher unwahrscheinlich.

    Clemens Baumgartner war hier in Linz alles andere als ein Unbekannter. Schauspieler im hiesigen Landestheater, erfolgreicher und umjubelter Darsteller von Nebenrollen in heimischen Low-Budget-Filmen, Verfasser einer Autobiografie, extravagant in Erscheinung und Auftreten. Heute: rote Hose, schwarze Schuhe mit weißen Galoschen, ein schwarz-weiß gestreiftes Hemd, darüber ein graues Gilet, ein Panamahut. Vor allem, am auffälligsten: ein Schnurrbart, ästhetisch irgendwo zwischen Clark Gable und Freddie Mercury. Dieser Oberlippenbart stand für vielerlei: für eine Unabhängigkeit von Zeitgeist und Mode, für eine Verliebtheit in die Vergangenheit, für Individualität und Unverwechselbarkeit. Mit einem Wort: Baumgartner war eine Größe, wenn auch nur 1,70 m klein. Ihn treffen, vielleicht sogar grüßen zu dürfen, wäre eine Ehre. Er wusste das. Und er zeigte das auch. Seine tänzelnden Schritte markierten eine Leichtigkeit, ja beinahe Abgehobenheit gegenüber den Angelegenheiten der Durchschnittsmenschen. Kein Wunder also, dass er jederzeit damit rechnete, ja rechnen musste, erkannt zu werden.

    Auf Station B1 kannte man ihn natürlich, klar, er kam ja einmal in der Woche, hatte Schwester Linda bereits zwei Mal auf den Po gegriffen. Schwester Rita hatte daraufhin »Me too, me too!« gerufen, er hatte Fotos von sich mit Autogramm verteilt und Tickets für eine Herbstaufführung von Ibsens Nora. Erst bei genauem Hinsehen bemerkte man, dass es sich um die billigsten, nämlich Stehplatzkarten handelte. Er schaute kurz bei den Schwestern rein, sagte: »Schwester Linda nicht da?«

    »Die hat Frühdienst, kommt erst morgen wieder.«

    »Na, wie wär’s mit uns beiden, Rita?«, war seine Antwort, die wirklich niemanden überraschte. Und tänzelte seines Weges in Richtung Zimmer 123.

    Mit Schwung öffnete er die Tür zum Krankenzimmer, schloss sie sachte und postierte sich vor dem Patienten von 123 wie vor dem Premierenpublikum des Linzer Landestheaters. Verbeugte sich kurz, legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Zimmerdecke, wo rein gar nichts zu sehen war, breitete seine Arme aus wie die Christusstatue von Rio, als ob er den Segen Gottes erwartete, und sprach mit Enthusiasmus.

    »Sei gegrüßt, mein Freund! Ich besuche dich heute zum letzten Mal!«

    Wie sehr er doch mit dieser Aussage Recht behalten sollte! Denn einer von den beiden würde in den nächsten Minuten sterben. Und es gehört nun mal zum Wesen des Schicksals, dass man nie weiß, wem der Tod seine Aufwartung machen wird und wann.

    »Hier trennen sich unsere Wege. Mit der Freundschaft, der lebenslangen Freundschaft ist es vorbei. Du sollst hier verrotten. Seit heute weiß ich alles. Du kannst von mir aus hier versauern und vor dich hin stinken, du sollst hier verwesen und elendiglich zugrunde gehen. Allein. Kein Mensch wird dich besuchen kommen. Du schweigst? Deine Methode, ich weiß. Buddhistisch wahrscheinlich. Oder taoistisch. Gewähren lassen. Steter Tropfen höhlt den Stein. Purer esoterischer Blödsinn! Ich fall nicht drauf rein. Jetzt hör mir mal gut zu!«

    Im nächsten Augenblick war Baumgartners Gesicht eine Handbreit vor dem des Patienten, der unbeweglich und unbewegt in seinem Rollstuhl hockte, den Oberkörper vornübergebeugt. Ob er wohl die Kräuterzuckerl Baumgartners roch?

    Der Patient von Zimmer 123 war in sich versunken, aber ob er die fröhliche Entspanntheit Buddhas erlangt hatte, war unklar. Das Kinn auf der Brust hing er verkrampft in dem Sessel, den Gott für ihn vorgesehen hatte. Oder das Pflegepersonal. Oder die mit der Krankenhausausstattung beauftragte Firma.

    Da attackierte doch tatsächlich ein kerngesunder und erfolgreicher Mensch einen leidenden Kranken! Der Patient von Zimmer 123 sank ein wenig tiefer in seinen Stuhl – offenbar eine optische Täuschung oder eine Umdeutung der physikalischen Gegebenheiten, laut Definition des Lehrbuchs der Psychiatrie. In Wahrheit konnte sich der etwa 45-jährige Mann schon seit geraumer Zeit nicht mehr bewegen, es sei denn, die Schwerkraft bekam ungehinderten Zugriff auf seinen Körper.

    »Hör mir gut zu, du erbärmlicher Wicht: Ich erzähl dir jetzt meine Geschichte, das Finale einer Freundschaft. Du wirst mir zuhören, während du in deinem Sessel verfaulst, und dann kannst du Ewigkeiten lang den Krankenschwestern auf den Arsch starren und nichts mehr damit anfangen.«

    Baumgartner wurde lauter. »Wenn ich hier rausgehe, dann komme ich nie wieder, und du wirst wissen, warum alles so kommen musste wie es kam!« All dies im allerschönsten Präteritum, einer Zeitform, die man in der gesprochenen Sprache in Oberösterreich nicht wirklich oft zu hören bekommt. »Da wird kein Zweifel bleiben. Ich werd’s hier herinnen mit einer Frau treiben, mit irgendeiner Schwester, nach allen Regeln der Kunst, und du schaust zu, bis du dir wünschst, dass du tot wärst. Oder, noch besser: nie geboren. Bis sie die Augen verdreht und sich nach der friedlich schweigenden Häkelrunde der Freundinnen ihrer Mutter sehnt.« Seine Stimme wurde wieder leiser. »Eine tolle Formulierung – muss ich mir mer­ken.«

    Er zückte sein Handy und notierte den letzten Satz. Dass ein Widerspruch bestand zwischen der Ankündigung, nie wieder hierher zu kommen, und der Drohung, es hier, vor Pointners Augen, mit einer Schwester zu treiben, strafweise sozusagen, notierte er nicht. Der Widerspruch musste ihm entgangen sein. Vernebelung des Verstandes durch imaginierte Begierde sozusagen. Oder übte er sich ironischerweise in der Kunst, Widersprüche zuzulassen?

    Es ist ja nicht so, dass man jemals wüsste, was in anderen Menschen wirklich vorgeht. Aber ganz ahnungslos sind wir nicht, denn immerhin funktioniert ja die menschliche Kommunikation im Großen und Ganzen reibungslos. Wenn jemand sagt, dass er Zahnschmerzen habe, glauben wir zu wissen, dass er Schmerzen hat, die den unsrigen gleichen. Wenn Gestik und Mimik zur Aussage passen, nehmen wir an, dass wir nicht belogen wurden. Es ist also nicht so, dass wir genau wüssten, was in anderen Menschen wirklich vorgeht, wenn diese ungefähr so sind wie wir. Wie mag das mit einem Menschen sein, der sich ganz offensichtlich außerhalb der Norm verhält und der zur Reglosigkeit verdammt ist? Der gar keine Reaktion zeigt? In Wahrheit ist es ja so, dass wir uns nicht einmal in die primitive Psyche einer Kuh oder Fledermaus einfühlen können. Wenn es schon schwierig war, sich in die Psyche einer Fledermaus einzufühlen, wie unmöglich musste es erst sein, sich in die komplizierte Psyche eines seelisch kranken Menschen einzufühlen?

    Das Gegenüber Baumgartners jedenfalls zuckte nicht mit der Wimper und ballte nicht die Faust. Sein Blick blieb starr auf die Tasse Tee auf dem Tischchen schräg vor ihm gerichtet. Wäre er zornig geworden während der Rede Baumgartners, man hätte es nicht bemerkt. Die Unerschütterlichkeit seiner Seele strahlte beinahe schon etwas Feierliches aus, etwas Erhabenes.

    Seine Kleidung hingegen könnte keinen größeren Kontrast zu dieser Erhabenheit bieten: ein Morgenmantel mit grün-blauen Längsstreifen, weiße Socken. Chronische Leiden machen aus dem edelsten und stolzesten Menschen ein Bündel Elend.

    »Sei herzlich willkommen hier im Reich der Finsternis, der untersten Hölle für die Sünder des Verrats! Wer hier eintritt: Lasst alle Hoffnung fahren!« Baumgartner hatte theatralisch seine Stimme erhoben – Berufskrankheit quasi.

    Schwester Rita kam ins Zimmer. »Alles in Ordnung hier? Was schreien Sie so, Herr Baumgartner?«

    »Alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen! Das ist eine Privatsache, gehen Sie wieder!«

    Schwester Rita machte einen schnellen Rundgang durchs Krankenzimmer, schüttelte völlig unmotiviert den Polster im Bett auf und sagte: »Alles in Ordnung, Herr Pointner?«

    Sie ging wieder, schloss sachte die Tür und rannte auf leisen Sohlen zur Schwesternstation. Dort wurde getuschelt und gezischelt und heftig, wenn auch im Flüsterton, diskutiert. Da­raufhin rannten zwei Schwestern – Rita und Susanne – zurück zu Zimmer 123. Sie kamen gerade rechtzeitig, um einen lauten Hilfeschrei aus dem Zimmer zu vernehmen, gefolgt von einem Poltern und Scheppern. Als die beiden die Tür aufrissen und ins Innere des Raumes stürmten, sahen sie einen umgestürzten Rollstuhl, eine zerbrochene Teetasse und den Patienten von 123 am Boden liegend. Allerdings war er streng genommen kein Patient mehr, sondern tot. Baumgartner, ein hochgelobter Schauspieler des hiesigen Theaters, stand da, als wäre er von den Ereignissen völlig überrascht: die Schultern hochgezogen, der Mund geöffnet, die Handflächen leicht nach oben gedreht.

    Von wem der Hilferuf stammte, konnte mit den Aussagen der Schwestern nie restlos geklärt werden, weil sie sich widersprachen. Jede von ihnen war ganz sicher, jeweils eine der beiden im Raum befindlichen Personen gehört zu haben.

    Kapitel 2

    Linzer

    Die beiden Krankenschwestern und herbeigeeilte kräftige Krankenpfleger der Psychiatrischen hielten Baumgartner fest, der lautstark und überzeugend den Überraschten spielte. Chef­inspektor Prüller, Kripo Linz, ließ sich auf keine Diskussionen ein.

    »Ich bin Clemens Baumgartner, DER Schauspieler des Landestheaters. Völlig absurd, mich eines Mordes an diesem Wurm zu beschuldigen!«

    »Ich geh nicht ins Theater, hab in meiner täglichen Arbeit mehr als genug.«

    Baumgartner wurde in Handschellen abgeführt.

    »Hat irgendjemand irgendwas in diesem Zimmer angerührt, irgendwas verändert?« Niemand antwortete, alle waren zu verdattert für eine vernünftige Konversation. Etliche Krankenschwestern, ein Oberarzt und der Primar hatten sich in Zimmer 123 versammelt. »Warten Sie im Besucherzimmer auf mich, ich komme gleich. Hier stören Sie nur. Und bieten Sie mir keinen Kaffee an!«

    Schwester Ritas Augen funkelten: »So einem Grantscherben würd ich sowieso keinen Kaffee bringen! Und du, Susanne?«

    »Höchstens mit Knoblauch und Laxantien!«

    »Und du?« Ritas Frage richtete sich an Oberarzt Körner.

    »Vergiss es, er ist Arzt. Und ein Mann. Er bringt niemandem einen Kaffee!«, meinte Susanne.

    Prüller blieb mit zwei seiner Kolleginnen im Krankenzimmer 123, ab und zu sah man Blitzlicht aufleuchten. Wie in echten Krimiserien! Wahrscheinlich zeichneten sie mit Kreide die Kontur des Opfers nach und pinselten über die Teetasse auf der Suche nach Fingerabdrücken. Durch die Zimmertür waren gedämpft präzise und kurze Befehle zu hören. Irgendwie beruhigend und gleichzeitig erschreckend, wie die Routine die Oberhand über das Grauen zurückgewann. Letztlich löst sich der Tod in einen Algorithmus zu erledigender Handlungen auf.

    Der Leichnam wurde zugedeckt und durch den Gang nach draußen geschoben. Ein Funkgerät meldete sich. Komisch in Zeiten von Diensthandys.

    Als Prüller das Besucherzimmer betrat, nippten die beiden Schwestern an ihren Kaffeetassen. Oberarzt Körner hatte sie gebracht. Susanne meinte lachend, dass man sich heute nicht einmal mehr auf die ewig gültigen Vorurteile verlassen könne. Rita sah die Angelegenheit weniger entspannt: »Abgesehen davon, dass wir nur Vornamen haben und die Ärzte Familiennamen – und Berufsbezeichnung!«

    »In welcher Beziehung stand Baumgartner zu Pointner?«, wollte Prüller wissen.

    »Keine Ahnung, wir haben immer angenommen sie wären Freunde«, antwortete Rita.

    »Warum sagen Sie WIR, haben Sie in dieser Frage bereits miteinander gesprochen?«

    »Nein, haben wir nicht, aber es stimmt, auch ich dachte, sie wären Freunde«, sprang Susanne ein.

    »Woran litt Pointner?«

    »Ich hol die Akte.« Oberarzt Körner verließ den Raum.

    »Katatonie«, antwortete Schwester Rita. »Das ist eine Krank­heit, bei der sich der Patient nicht bewegen kann. Er spricht auch nicht, manchmal wiederholt er aber wie mechanisch Sätze oder Satzteile, manchmal explodiert er richtiggehend und wirft sich auf den Boden. Pointner war so ein lieber Kerl!«

    Schwester Rita heulte auf, eine weitere Schwester weinte ebenfalls. Wahrscheinlich Susanne.

    »Machen Sie mir eine Kopie des Krankenberichts und geben Sie sie Inspektor Holzmair mit. Hätte Pointner seinen Freund attackieren können und dieser ihn in Notwehr erschlagen?«

    »Nein, das ist bei diesem Krankheitsbild nicht möglich«, erklärte der zurückgekehrte Oberarzt.

    »Gibt es irgendwelche Beobachtungen, die interessant sein könnten? Der Fall scheint allerdings ziemlich klar zu sein.«

    Niemand antwortete, Schwester Susanne blickte auf ihr Handy, der Primar betrachtete seine Fingernägel, die Empathie für den Kriminalisten schien erschöpft. Chefinspektor Prüller verließ den Raum, nicht ohne dem Primar eine Visitenkarte in die Hand gedrückt zu haben. »Wenn Ihnen oder jemandem aus dem Team noch etwas einfallen sollte, rufen Sie bitte an. Auch wenn es eine unbedeutende Kleinigkeit sein sollte.« Wie in einem echten Krimi!

    Prüller tat, was man in Situationen wie diesen tun musste: Erstens alle verfügbaren empirischen Daten am Tatort sicherstellen, zweitens Informationen zu den beteiligten Personen einholen und drittens mit dem sozialen Umfeld sprechen. Die Spurensicherung am Tatort war erfolgt – der leichteste Part. Ein Team von vier Leuten in Schutzanzügen war ausgerückt und nahm stundenlang alle erdenklichen Spuren auf – mit wenig Aussicht auf Erfolg in diesem Umfeld, wo zig Menschen ihre DNA hinterließen. Mit dem ärztlichen und Pflegepersonal hatte er gesprochen, jetzt waren die Familien von Täter und Opfer dran: Ein Motiv zu finden wäre nämlich keine schlechte Sache, also zweitens. Prüller telefonierte noch rasch mit seinem Büro: Man sollte Informationen zu Baumgartner und Pointner zusammentragen – eine Routinearbeit, das konnte sicher einer der Praktikanten mit Doktortitel erledigen, drittens quasi. Es geht doch nichts über eine gewisse Ordnung im Leben!

    Der erste rechtsmedizinische Befund war klar: Pointner war weder durch einen Schlag noch durch einen Stich getötet wurden. Alles sprach für Gift als Todesursache, ein natürliches Ableben war aufgrund der Datenlage auszuschließen. Die medizinischen Details waren ebenso eindeutig wie grauslich. Prüller ersparte sich die Einzelheiten zu Verfärbungen und Schwellungen und Entstellungen diverser Körperregionen. Er war lange genug bei der Polizei, um nicht sofort an eine Frau als Täterin zu denken. Die Krankenschwestern? Waren nach eigenen Angaben nicht im Zimmer. Auch Baumgartner hatte im ersten Verhör nichts davon erzählt. Eine Schwester hatte kurz das Zimmer betreten und die Polster zurechtgeschüttelt. Hatte sie dabei Pointner die tödliche Dosis verabreichen können? Durch Injektion oder oral? Wohl kaum. Baumgartner hätte es bemerkt und wohl kaum verschwiegen, um seine Haut zu retten. Und was sollte das Motiv sein?

    Zwei Stunden später hielt Prüller die Ergebnisse der schnellen Recherche im Haupthaus in Händen. Und pfiff leise durch die Zähne. Dann schnappte er sich seinen eleganten Staubmantel und verließ das Hauptquartier. Vom Auto aus rief er den Präsidenten an. Unter Freunden – seit Jahrzehnten! – war eine Genehmigung für eine Hausdurchsuchung eine Kleinigkeit. Auch wenn sie nicht am Wohnort des mutmaßlichen Täters, sondern des Opfers stattfinden sollte. Am nächsten Tarock­abend würde er sich mit einer Flasche Rot revanchieren, wenn nötig.

    Es würde nicht nötig sein.

    Pointner hatte inzwischen allein gelebt. Seine Frau war vor etwa einem halben Jahr gestorben. Ein kleines Häuschen mitten in der Stadt, umgeben von sechsstöckigen Wohnhäusern. Unweit von hier der Südbahnhofmarkt, eine der sympathischsten Erscheinungen der Stadt: kleine gemauerte Stände, wo man Produkte direkt vom Erzeuger kaufen konnte. Kleine Beisln, wo man schon am Vormittag die Bodenhaftung verlieren konnte, weil man vor lauter Langeweile die Selbstachtung aus den Augen verloren hatte. Prüller schaute auf ein schnelles Achterl im Stehbeisl »Schlawiner« vorbei. Angeblich bekam man an Orten wie diesem Informationen über alles und jeden. Stimmte aber nicht. Nur das Achterl bekam er wirklich. Und ein paar oberflächliche Gesprächsfetzen mit Vertretern und Beamten in gehobenen Positionen und Pensionisten. Erstere von Letzteren nicht zu unterscheiden. Allesamt eifrigst damit beschäftigt, Sinn in ihre sich von Tag für Tag gleichende Monotonie zu saufen.

    Prüller und sein Kollege Holzmair bezogen schließlich doch Stellung vor dem Haus Pointners, Nummer 17. Man kann ja nicht ewig Achterl schlürfen in Stehbeisln. Holzmair läutete, eine junge Frau öffnete die Tür. Patschuli, Schlafzimmerblick, geflochtenes Haar, barfuß. Prüller gab sich einen Ruck.

    »Prüller, Kriminalpolizei. Entschuldigen Sie die Störung. Wir, mein Kollege und ich, sind wegen Anton Pointner hier. Mit wem haben wir die Ehre zu sprechen?«

    Klar, dass Holzmair sich wunderte, dass Rotwein am Vormittag derart imposante Auswirkungen auf das Sprachvermögen haben konnte. Eigentlich war er aber nur sauer, weil für ihn ein Einbruch unter dem Titel »Hausdurchsuchung« lustiger gewesen wäre. Und ein bisschen aufgekratzt war er auch, aber das wusste er noch nicht wirklich. Die Frau, sie war etwa in seinem Alter, hatte nämlich das viel zu weite Männerhemd nur sehr unvollständig zugeknöpft.

    »Ich bin seine Tochter, Emilia.«

    »An dieser Adresse ist eigentlich nur Anton Pointner gemeldet.«

    »Bin nur vorübergehend hierher gezogen. Streit mit meinem Freund. Ich brauche Abstand. Schreibe auch an meiner Diss und hier habe ich Ruhe.«

    »Gender Studies?«

    »Wenn Sie so wollen. Ich schreib in Biochemie, über stickstoffhaltige Pheromone.«

    Holzmair glaubte zu bemerken, dass Prüller kurz schluckte. Sein Glotzen machte ihm den Schulterschluss mit Pointners Tochter noch leichter. Wie er diese selbstgefälligen Graukopfgeier hasste! Keine Ahnung von nix, aber breitspurig reden und mit zwei Händen absahnen! Im Vergleich dazu: seine Generation, ohne Chancen auf Aufstieg, oft sogar ohne Aussicht auf einen Job. Dafür aber genoss er die Aussicht auf bzw. in die Bluse von Emilia Pointner. Und schämte sich dafür – ein wesentlicher Unterschied zu den Machos aus der Generation vor ihm!

    »Mein Vater braucht ja das Haus nicht mehr. Was gibt’s?«

    »Wir würden gern kurz reinkommen.«

    »Wenn’s sein muss.«

    Augenblicklich schlug ihnen eine Welle abgestandener Luft entgegen, wie das halt so ist, wenn monatelang niemand lüftet. Die Vorhänge waren allesamt zugezogen, die unerwartete Stille mitten in der Stadt ließ die Dunkelheit noch stärker wirken. Nur das geduldige Summen eines Kühlschranks war zu hören.

    »Ihr Vater ist vor wenigen Stunden verstorben. Es tut mir leid, Ihnen diese traurige Mitteilung machen zu müssen.«

    Emilia Pointner strich sich das Haar aus der Stirn, drehte sich um und verließ die beiden Männer. Erst als die Tür – zum Wohnzimmer? – laut ins Schloss fiel, wurde den beiden Beamten bewusst, dass sie knallhart stehengelassen worden waren.

    Holzmair schaute unruhig in einen anderen Raum, der von hier aus erreichbar war. Er öffnete zwei Fenster

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