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Die Hatz: Roman
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eBook492 Seiten6 Stunden

Die Hatz: Roman

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Über dieses E-Book

Das Thema Stalking soll ihnen zu all der Aufmerksamkeit verhelfen, die sie sich nur wünschen können. Aber können sie sie auch verkraften? Ein ausgeklügeltes Marketingkonzept entpuppt sich als Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden, und das Spiel mit Realität und Fiktion verwischt die Grenzen zwischen Freund und Feind. Glauben Sie niemandem - und vertrauen Sie nur auf Ihr eigenes Urteil.
Eine Zusammenfassung Liebeswahn und kriminelle Energie verbinden sich zu einer unheiligen Allianz und liefern die Basis für ein Spiel mit alten und neuen Ängsten. Eine unbekannte Autorin schreibt einen Roman über ihre ganz persönliche Obsession mit einem Seriendarsteller. Wenn es sich auch bei diesem Roman um reine Fiktion handelt, so nutzen doch beide gemeinsam das Thema der Obsession, um damit ihre jeweiligen Karrieren im Rahmen einer cleveren Marketingaktion zu fördern. Dies an sich hätte wohl eine ziemlich gute Idee sein können, wäre nicht das Thema selbst dazu angetan, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verwischen und schließlich aufzulösen. Mit tragischer Unabwendbarkeit entwickelt die Geschichte den besonderen Charme eines spitzen Nagels, der über eine Schiefertafel fährt. Eine Bedrohung, die sich sowohl dem Protagonisten als auch dem Leser immer wieder entzieht und hinter einem Nebel von Verdächtigungen und Vermutungen verschwindet, zerschlägt Hoffnungen, vergiftet Beziehungen, tötet.
Ein Kommentar Rainer Popp, ehemaliger Korrespondent der Nachrichtenagentur Deutsch-er Depeschen Dienst (ddp) in Bonn und - in Doppelfunktion - Chefredakteur von RTL Radio und RTL Fernsehen sowie Programmdirektor von Radio Luxemburg, zugleich Chef des Frühstücksfernsehens von RTL äußerte sich über „Die Hatz“ wie folgt. Zu „Die Hatz“. Ein subtil geschriebenes Buch, das aufzeigt, welche Lasten damit verbunden sind, wenn öffentliche Prominenz zu einem Verfolgungswahn führt. Spannend, einfühlsam und dynamisch in der Handlungsführung - Wertmaßstäbe, die für dieses Buch gelten. Obwohl im Seitenumfang eine „dicke Schwarte“, liest sich „Die Hatz“ so zügig, daß man kaum spürt, wie die Zeit vergeht. Mir hat es sehr gefallen.
SpracheDeutsch
Herausgeber175er Verlag
Erscheinungsdatum12. Mai 2023
ISBN9783932429026
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    Buchvorschau

    Die Hatz - Christiane Feit

    Tag 1, Samstag

    Endlich war es soweit. Die kühle, fast schläfrige Eleganz der Lobby des renommierten Greywood Hotels wurde garniert mit Kabeln und Strahlern, Absperrungen und Kameras. Schrille Stimmen und nervöses Gelächter legten sich wie ein feiner, alles durchdringender Nieselregen über schwere Ledercouchen und zierliche Caféhausstühle, setzten sich fest in Nischen und Ecken der weitläufigen Anlage.

    Hoch oben, getragen von gläsernen Aufzügen und aufwendigen Wasserspielen, lehnten zwei Gestalten an einem Geländer und betrachteten mit fasziniertem Kopfschütteln das Szenario zu ihren Füßen. Die beiden, ein Mann und eine Frau, waren so ungleich, so gegensätzlich, wie es Mutter Natur nur einfallen konnte: er fast ein Riese, sie nicht viel mehr als ein Zwerg, er ein muskelbepackter Schlachtkreuzer, sie eher ein gemütliches Ausflugsboot. Beiden gemeinsam war, neben ihrer gegenwärtigen Position und Körperhaltung, ein breites Grinsen verursacht durch das Geschehen zwei Stockwerke unter ihnen.

    Das hoteleigene Servicepersonal in klassischem schwarz-weiß mit langen Schürzen legte letzte Hand an großzügig versprenkelte Stehtische, rückte langbeinige Hocker noch ein letztes Mal zurecht und warf prüfende Blicke auf den Faltenwurf der feinen Stoffservietten. Schlangenlinien aus gelben Rosenblättern und nicht näher erkennbarem Blattwerk räkelten sich um Rechauds und Tabletts auf einer im Hintergrund arrangierten Tafel, die in naher Zukunft offenbar ein kalt-warmes Büffet beherbergen sollte. Mehrere Flachbildschirme am Rande dieser feingemachten Arena bemühten sich vergeblich, sich nahtlos in die Dekoration einzufügen.

    Links, auf einer großzügig angelegten Empore vor Panoramafenstern mit geradezu erschreckenden Ausdehnungen, hatte man eine Sitzgruppe gleichzeitig publikumsfreundlich aber auch mit einem Hauch von Intimität arrangiert. Tiefe Sessel standen in einem weichen Halbkreis – ihnen nicht ganz gegenüber, nicht ganz zur Seite ein passender, halbhoher Stehsessel. Geschickte Beleuchtungseffekte schufen die Illusion eines in sich geschlossenen Raumes, Amphoren mit gelben Rosen markierten gedachte Grenzen. Die verantwortlichen Techniker hielten diskret Abstand. Jedenfalls würden sie es tun, sobald sie fertig und alles in Position war. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt mochte man allerdings annehmen, die angestrebte Deadline von plus 18 Minuten sei nichts weiter als ein frommer Wunsch.

    Das Paar auf der Galerie spielte derweil Statler & Waldorf und übte sich in der hohen Kunst des beißenden Spottes.

    „Schau sie dir nur an! Eine Theatertruppe in den panischen Minuten, bevor der Vorhang hochgeht. Kaum zu glauben, daß die jeden Tag soviel Adrenalin vergeuden!"

    „Das ist alles Taktik: je mehr Wirbel sie machen, desto wichtiger sehen sie aus. Liegt das am Licht, oder weint der Oberkellner da hinter dem Farn tatsächlich?"

    „Keine Ahnung. Aber wenn ich er wäre, würde ich es tun."

    Die Bälle flogen zwischen den beiden hin und her und fast hätte man meinen können, sie wären ein bißchen bösartig. Tatsächlich aber waren sie Teil dieser panischen Theatertruppe und auf ihre Art genauso fiebrig. Die Frau war nervös. Der Mann war es nicht. Sie hatte keine wirkliche Ahnung, was da gerade auf sie zukam. Er kannte das alles zur Genüge. Gut, die getroffenen Vorkehrungen waren durchaus ungewöhnlich. Aber eine Bühne blieb eine Bühne und Kreativität war ihrer aller Geschäft. Und vor allem kannte er sie inzwischen recht gut. Gut genug, um sie mit Ihrem frechen Mundwerk gewähren zu lassen. Sie meinte es nicht böse. Manche stellten sich ihren Boß nackt vor. Sie überschüttete alles und jeden mit Sarkasmus.

    „Und da betritt auch schon unser geschätzter Herr und Meister die Szene. Mr. Jones ist nicht nur schlicht Mr. Jones. Weit gefehlt! Mr. Jones ist der archetypische Papierverwalter in diesem Theaterstück. Sein Anzug ist grau. Sein Haar auch. Alles an ihm ist perfekt: die Bügelfalten, die Frisur, die Brille, der Aktenkoffer. Seine Fassade ist gleichermaßen Aushängeschild und Zinne, sein Lächeln wahlweise die einladende Drehtür zu einem Kaufhaus oder aber das dräuende Portal seiner Geschäftsburg – inklusive Fallgatter und Zugbrücke. Da beides auf den ersten Blick leider nicht zu unterscheiden ist weiß man nie, ob man die wundervolle Welt des Konsums betritt oder aber im Burggraben landet. Schade aber auch."

    Die Wortskizzen der Frau waren durchaus zutreffend. Der von ihr beschriebene Mann war die Inkarnation des geschäftsmäßigen Entscheidungsträgers mit jovialer Ausstrahlung und untrüglichem Gespür für Profit. Das hier und heute in seinen öffentlichen Geburtswehen liegende Projekt war sein Baby. In seinen fähigen Händen ruhte das Wohl und Wehe derer, die sich ihm per Vertrag überantwortet hatten. Allerdings entsprach seine äußere Erscheinung aber eben auch dem weltbekannten Cliché des mit den modernen Insignien der Macht bewehrten Machers und so war es kein Wunder, daß in Mr. Richard Jones’ direktem Umfeld einige Kopien seiner selbst herumzuirren schienen.

    „Der Typ rechts neben ihm ist auch Mr. Jones. Er heißt nicht so, keine Ahnung, wie sein Name ist. Er ist einfach auch ein Mr. Jones, bloß dünner. Oder der, der gerade mit dem Kellner kollidiert. Das ist ein Mr. Jones mit Glatze."

    Nach und nach wurde die Stimme der Frau immer angespannter. Der Mann zwinkerte ihr beruhigend zu, grinste über ihre frechen Kommentare und ließ sie ansonsten einfach weiter plappern. Beide wußten, daß er sich gönnerhaft benahm. Eigentlich hoffte er sogar, daß sie sich mehr über ihn aufregte, als über das, was da noch kommen sollte. Es funktionierte nicht. Sie zwinkerte nur zurück und pickte sich mit Adleraugen eine besonders unscheinbare und offenbar besonders hingerissene Frau aus dem Kreis der Techniker für ihre nächsten Beobachtungen heraus. Etwas übergewichtig mit mausbraunem Haar und mausbraunem T-Shirt über einem Körper, dem sie selbst grundsätzlich deutlich mehr Aufmerksamkeit zollen könnte, fiel an ihr besonders ihre Ungeschicklichkeit auf.

    „Und siehst du die Kleine da drüben? Die, die sich fast mit dem Kabel stranguliert weil sie es nicht lassen kann, immer wieder hier zu uns hochzusehen. Ich glaube nicht, daß die zarte Röte ihrer Wangen meinem wallenden Haar gilt! Wird es dir nicht manchmal lästig, daß anscheinend jede Frau auf diesem Planeten in deiner Gegenwart anfängt zu sabbern?"

    Der Mann lachte schallend und warf der besagten Kleinen, die den Kampf mit dem Kabel um ihren Hals immer noch nicht gewonnen hatte, einen kurzen Gruß aus dem Handgelenk zu. Einige der Leute unten in der Lobby hielten inne und versuchten, über die Distanz hinweg einen Blick auf ihn zu ergattern. Man kannte ihn. Man hatte eine ungefähre Vorstellung von dem, was für den heutigen Tag zu erwarten war. Man wollte aber auch ein ganz kleines bißchen mehr wissen als das, was morgen darüber in der Zeitung stehen würde. Auch die Frau auf der Galerie wußte offenbar nicht alles, wenn man dem Fragezeichen auf ihrer Stirn Glauben schenken durfte.

    „Und wer mag dieses entzückende Wesen mit gestörtem Verhältnis zu heimtückischen Objekten wohl sein?"

    Er lehnte sich mit dem Rücken zur Lobby an die Brüstung der Galerie und machte eine knappe, wegwerfende Handbewegung.

    „Niemand. Sie gehört zur Stammcrew am Set in Kanada. Du weißt schon. Man kennt jemanden vom Vorbeilaufen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich sogar ihren Namen kennen müßte. Doris? Doreen? Dumbo?"

    Er zuckte mit den Achseln und drehte sich wieder zur Lobby. Die Frau schüttelte resigniert den Kopf.

    „Charmantes Kerlchen. Wen wundert’s da, daß dir die Damenwelt hilflos zu Füßen liegt?"

    Der Mann zog die Frau neben ihm für ihre Bemerkung am Ohr. Sie streckte ihm die Zunge raus. Bevor sie sich allerdings vollends kabbeln konnten wie zwei Grundschüler, räusperte sich direkt neben ihnen die winzige Gestalt der stets etwas sauertöpfischen Ms. Muyers. Ms. Muyers, eine strenge Dame undefinierbaren Alters mit dem natürlichen Charme eines Oberfeldwebels, war Mr. Jones rechte Hand. Sie war sein Gedächtnis, seine Stimme am Telephon und manch einer hätte sein letztes Hemd darauf verwettet, daß sie im Zweifelsfalle das Wort ‘Pflichtgefühl’ persönlich ins Lexikon eingetragen hat. In diesem Augenblick war es anscheinend ihre Pflicht, die Kinder vom Spielplatz abzuholen und zur Schulbank zu bringen. Mit den Worten

    „Wir sind dann soweit. Die Show kann beginnen, sobald ihr unten seid."

    schritt sie tatkräftig voran in Richtung Aufzug, um gemeinsam mit dem ungleichen Paar in der Lobby vor die Kameras und Mikrophone zu treten.

    *

    Zu diesem Zeitpunkt geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Zum einen wurde die Lobby – eben noch Schauplatz hektischen Gerangels zwischen Mensch und Material – wie von Zauberhand durch warmes Licht in eine festliche und doch fast intime Atmosphäre getaucht. Zum anderen wurden die Absperrungen beiseite geräumt, so daß Schaulustige die Galerien und geladene Gäste das Plafond der zentralen Halle mit Leben füllen konnten. Alle Augen, auch die der Kameras, richteten sich auf den Aufzug, der wie ein Schneewittchensarg langsam herab schwebte.

    „Ist auch viel gemütlicher, als so ‘ne olle Showtreppe."

    spöttelte die Frau, die ihr Lampenfieber mit einem selbstsicheren Lächeln zu kaschieren suchte. Die Meinung ihres Begleiters zu diesem Thema sollte ihr allerdings verborgen bleiben, denn in diesem Moment öffneten sich die Glastüren mit einem leisen Zischen und Ms. Muyers übergab ihre Schützlinge an Mr. Jones. Das normale Tohuwabohu, das mit dem Erscheinen medienwirksamer Personen in Reichweite von Journalisten üblicherweise einhergeht, blieb nahezu vollständig aus. Ein paar Übereifrige wollten sich zwar sofort auf ihre Opfer stürzen, wurden aber von Mr. Jones mit begütigenden Worten zur Geduld gemahnt.

    „Sie wissen doch: wir haben alle Zeit der Welt! Dies hier ist keine Pressekonferenz im eigentlichen Sinne. Wir werden alle gemeinsam miteinander reden, miteinander essen und miteinander feiern."

    Er lachte glucksend wie jemand, der noch eine ganz besondere Überraschung inpetto hat, und genau so war es auch.

    „Paula und David laufen Ihnen heute abend ganz bestimmt nicht weg und ich verspreche Ihnen, daß Sie alle Gelegenheit für Ihre Fragen bekommen werden. Aber jetzt sollten wir dort hinüber zu unserer kleinen Plauderecke gehen und noch einen weiteren, ganz besonderen Gast an diesem Abend begrüßen."

    Die beiden von der Galerie, Paula Friedrich und David Jerome Kalio, begaben sich gemäßigten Schrittes, freundlich lächelnd aber nichtsdestotrotz zielstrebig, zu den ihnen zugewiesenen Plätzen, derweil Mr. Jones diesen weiteren Ehrengast ankündigte.

    „Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie mit mir Jake Edwards! Jake war so freundlich, uns gleich mit seiner ganzen Show hier zu besuchen und so werden wir alle gemeinsam nicht nur den Startschuß für dieses wundervolle Projekt geben, sondern auch live und in Farbe als Special der Jake Edwards Show ausgestrahlt. Na? Ist das was?"

    Inmitten des aufbrandenden Applauses warf ein junger Reporter einen Blick auf die Einladung in seiner Hand. Das also verstand man bei Troy Entertainment unter einer Pressekonferenz ‘die den Rahmen des Üblichen sprengt’. Blieb noch zu klären, wie diese Leute ‘dem bedrohlichen Zeitphänomen Stalking’ genügend Unterhaltungswert abgewinnen wollten, um all das hier zu rechtfertigen.

    Jake Edwards, ein Vollprofi in Sachen Late-Night-Talk, war dafür berüchtigt, Abend für Abend die Reichen und Schönen durch einen mörderischen Parcours aus Spott und unangenehmen Fragen zu jagen. Zwei Dinge garantierten ihm Einschaltquoten und somit einen sicheren Sendeplatz: er verfügte über ein untrügliches Gespür für die Wahrheit jenseits des schönen Scheins und er kannte absolut keine Gnade. Es zählte zu Mr. Jones’ echten Geniestreichen, ausgerechnet diesen Mann für das Vorhaben gewonnen zu haben. Und auch wenn Jake hier vor einem Publikum stand, daß ausschließlich aus handverlesenen Pressevertretern und sonstigen Medienschaffenden bestand, so war er doch als Gleicher unter Gleichen immer noch der ausgewiesene Platzhirsch. Er spielte mit seinem Publikum. Er kitzelte es. Er wickelte es um den kleinen Finger. Mit großer, genießerischer Geste begrüßte er die Gäste hier im Greywood und draußen in ihren Wohnzimmern.

    „Guuten Abend! Guuten Abend! Danke, vielen Dank!

    Jaa, heute abend ist alles anders, alles spannend.

    Ihr fragt euch bestimmt, womit man mich aus meinem liebgewonnenen Studio herausgelockt hat und ich werde es euch gerne verraten. Es gibt da etwas, was immer wieder durch die Medien geistert, was immer mal wieder auftaucht und die Gemüter erregt. Leider allerdings immer erst, wenn es zu spät ist und die Menschen hinter der jeweiligen Geschichte schon sehr zu leiden hatten.

    Ich spreche von Stalking. Also jenem hier bei uns schon seit geraumer Zeit als Verbrechen gehandelten Irrsinn, bei dem irgendwer alles daran setzt, einen anderen so richtig und nach allen Regeln der Kunst fertig zu machen.

    Oder, um es mit offiziellen Worten zu sagen: ‘das vorsätzliche, böswillige und wiederholte Verfolgen und Belästigen einer anderen Person’."

    Jake rieb sich die Hände, daß Gesicht zu einer sorgenvollen Maske gefaltet, und parkte sich lässig auf den halbhohen Hocker. Dieser Hocker – Markenzeichen seiner normalen Show und somit fast ein Stückchen ‘Heimat’ – bildete sozusagen das Tüpfelchen eines bananenförmigen ‘i’, dessen Körper aus tiefen, schwarzen Ledersesseln gebildet und momentan von den anderen Bühnengästen belegt war.

    „Nun, meine Lieben, jetzt sagt ihr bestimmt gleich, daß man sich für altbekannte Tatsachen doch bestimmt nicht solche Mühe gemacht hat – und ihr habt recht! Wir haben uns nämlich etwas ganz besonderes ausgedacht und möchten euch dazu um etwas Zeit bitten. Nicht die üblichen 45 Minuten für eine Show. Nicht den Abend, solange unsere spätere Party hier eben dauert – sondern um exakt 17 Tage.

    17 Tage? Werdet ihr fragen. Was ist denn das für eine seltsame Zahl? Und auch das werde ich euch verraten.

    Wir alle, die wir hier vor ihnen sitzen – und noch ein paar Leute mehr – haben uns über die Sache mit der vorsätzlichen, böswilligen und wiederholten Verfolgung und Belästigung einer anderen Person ein paar ziemlich tiefschürfende Gedanken gemacht, und wir sind zu dem Schluß gekommen, daß wir da etwas ändern wollen.

    Wir haben einen Plan. Den durchzuführen dauert die eben erwähnten 17 Tage und es wird dabei in der Hauptsache um zwei Dinge gehen: um Stalking und die Macht der Medien. Wie genau das alles ablaufen soll, werden wir alle euch nach und nach erklären. Also, fangen wir an!"

    Jake verließ seinen Sessel und nahm einen Schluck Wasser, bevor er sich mit einem brandneuen Lächeln und einer knappen Verbeugung den Gästen im Saal und an den Fernsehgeräten zuwandte.

    „Meine lieben Freunde – wo immer ihr auch sein mögt – ich freue mich, euch allen hier und heute einen ganz besonderen Leckerbissen anbieten zu dürfen. Vor einiger Zeit erschien plötzlich ein verheißungsvoller Schimmer am Horizont. Ein Roman …"

    er zückte schwungvoll ein recht kleines Buch aus einem Samtbeutel in seiner Hand und hielt den blutroten, mit gelben Blütenblättern übersäten Einband einem jungen Mann in seiner Nähe unter die Nase. Erst jetzt fiel manchem Besucher auf, daß mitten unter ihnen Menschen in Cocktailgarderobe kleine, kabellose Digitalkameras auf das Geschehen richteten und deren Bilder wie durch Zauberei auf die Flachbildschirme im Hintergrund projiziert wurden. Der eine oder andere war so verdutzt, daß er sich selbst wie ein Kind zur Probe zuwinken mußte, um das eigene Gesicht auf dem Monitor akzeptieren zu können. Auf eben diesen Monitoren prangte aber auch in diesem Augenblick zum ersten Mal für alle deutlich sichtbar der Titel des Wunderdings: Die Rosenkönigin.

    „… wie gesagt: ein Roman, der nicht nur durch seine Stilsicherheit besticht, sondern auch mit seinem Inhalt die Basis liefert für eine Diskussion, die in ihren Möglichkeiten…."

    Jake hatte gerade erst angefangen, etwas mit Lob zu überschütten, das den meisten Anwesenden bislang noch nicht einmal als Gerücht in die Hände gefallen war. Den meisten. Einige wenige Auserwählte waren besser informiert.

    Insgesamt jedoch hatten die geladenen Gäste mit der Situation ein kleines Problem. Das Arrangement dieses Abends war so ungewöhnlich, daß man vor Neugier fast platzen konnte. Jakes Moderation war so witzig, daß man sich einfach amüsieren mußte. Alles hier hieß die Anwesenden willkommen, machte es ihnen gemütlich, machte sie aufgeschlossen gegenüber dem, was da kommen mochte. Wie gesagt: als Journalist hat man mit einer solchen Situation ein kleines Problem. Nur einer speziellen Gruppe der Anwesenden war bewußt, daß dieses seltsam unbehagliche Gefühl gegenüber offensichtlich zu viel des Guten exakt in der Absicht der Designer dieses Abends lag. Die anderen spürten nur den verführerischen Sog guten Entertainments und versuchten, trotz allem jenes kleine, mißtrauische Flämmchen am Leben zu halten, das für sie Teil ihres Berufsbildes war.

    Zwischenzeitlich war Jake bei dem Programmpunkt angelangt, an dem er die Menschen hier bei ihm auf der Empore einzeln vorstellte. Da war zum einen die junge, deutsche Autorin Paula Friedrichs. Diese vollkommen unbekannte Frau hatte diesen faszinierenden Roman geschrieben, der mit schonungsloser Offenheit den eigenen seelischen Zerfall und den bodenlosen Sturz in eine Obsession skizzierte, die in der Fachwelt als De Clerambeault Syndrom oder auch Erotomanie bekannt ist. Das Objekt dieser Obsession saß in diesem Augenblick neben ihr. Es handelte sich um den hochtalentierten Schauspieler David Jerome Kalio – laut einem beliebten Fashion Magazin einer der 50 schönsten Menschen der Welt, Shakespeare-Darsteller und muskelbepackter Hüne in Troy Entertainments Erfolgsserie ‘The Quest’.

    Der junge Reporter von vorhin faltete mit einem abschätzigen Grinsen seine Einladung zusammen und steckte sie in die Innentasche seines Jacketts: ‘n bißchen viel Wind für Werbung’, schoß es ihm durch den Kopf. ‘Ob wohl die Quoten in der dritten Staffel so schlecht sind?’

    Jake war inzwischen schon längst bei seinem nächsten Bühnengast angekommen, einer eleganten Dame mittleren Alters, die er als Dr. Kate Morganstern, Psychologin und Beraterin in diesem Projekt, vorstellte. Kates Aufgabe war es, dem Publikum die fachliche Seite der Obsession näherzubringen und überdies, so fügte der Moderator mit einem Lachen hinzu, ein waches Auge auf Paula und David zu haben. Über das Kichern seiner Zuhörer hinweg wandte er sich schließlich seinem letzten Mitstreiter zu – Mr. Richard Jones, der als Verantwortlicher bei Troy Entertainment hier als eigentlicher Gastgeber fungierte aber trotzdem so freundlich war, ihm, Jake, diesen Job für die Dauer der kommenden Party zu überlassen.

    Was also hatte sie alle hier an diesem Abend zusammengeführt? Es gab einen Roman mit äußerst verstörendem Inhalt über seelische Abgründe und die eng verwobene – wenn auch rein fiktive – Beziehung zwischen einer Täterin und einem Opfer. Es gab gleich zwei lebendige, atmende Vorbilder für die Protagonisten dieses Romans, die beide mutig genug waren, dieses Beziehungsgeflecht für ein breites Publikum zu entwirren. Und es gab ein Unternehmen, welches seinerseits bereit war, als Sponsor für diesen Mut zu fungieren. Das alleine sollte doch wohl schon für eine erstklassige Story reichen?

    Mit genau diesem Gedanken als Ausgangspunkt nahm Jake wieder auf seine Hocker Platz und stellte seine erste, wichtige Frage.

    „Richard, warum erzählen Sie uns nicht, was ihr bei Troy Entertainment euch bei der ganzen Sache eigentlich gedacht habt?"

    Mr. Jones rückte auf seinem Sessel zurecht und warf Jake ein joviales Lächeln zu.

    „Aber natürlich, Jake. Wir bei Troy Entertainment haben so unsere Erfahrungen mit, sagen wir mal, verrückten Fans. Wir arbeiten mit echten Stars zusammen und es ist nicht selten, daß Fans Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um in das Privatleben dieser Stars einzudringen. Wir kennen alle die manchmal absurden, manchmal erschreckenden Auswüchse dieses Verhaltens, daß man in seiner extremen Form als Stalking kennt. Als uns nun Paulas Buch in die Hände fiel -"

    er nickte der Autorin väterlich zu,

    „- da sahen wir die einmalige Chance, daß Thema Stalking einmal nicht von Seiten des Opfers zu beleuchten. Effekthascherei gibt es in diesem Bereich ja bereits genug."

    „Ach ja, und das hier -"

    Jake machte eine ausschweifende Handbewegung, die bis zum letzten Blumentopf alles einschloß und zwinkerte den Journalisten in der ersten Reihe vielsagend zu,

    „- ist keine Effekthascherei?"

    „Aber natürlich. Nur dient sie einem völlig anderen Zweck. Wir wollen eine ernste Auseinandersetzung mit einem ernsten Thema ins Rollen bringen. Wir wollen etwas entmystifizieren, das in unseren Augen mehr ist als eine kuriose Randerscheinung. Uns geht es hier um gesellschaftliche Veränderungen die so umfassend sind, daß sie auch über Grenzen und Ozeane hinweg spürbar sind."

    Auf dieses Stichwort hin richtete Jake seine nächste Frage an die deutsche Autorin.

    „Über Grenzen und Ozeane hinweg. Paula, Rosenkönigin in persona. Wie entstand dein Roman?"

    „Die Idee für meinen Roman hatte ich schon vor Jahren."

    Für einen kurzen Augenblick schien sich die Frau in ihren Erinnerungen zu verlieren, um dann mit einem weichen Lächeln in Richtung ihres Sitznachbarn fortzufahren.

    „Aber ich mußte erst David finden, um meinen Figuren Leben einhauchen zu können. Das Thema meines Buches ist die Obsession mit einem vollkommen Fremden. Es geht dabei um die feste, unerschütterliche Überzeugung, daß man seinen idealen Partner gefunden hat und vor allem, daß dieser diese Liebe erwidert. Ein Phantasiegespinst entsteht. Eine Fabelwelt, in der nur die beiden vermeintlich Liebenden die geheime Sprache ihrer Seelen verstehen, in der sie, losgelöst von der Tristesse der realen Welt, eins sein können."

    Mit ernster Miene rückte die junge Frau auf ihrem Sessel herum.

    „Ich weiß, daß das eigentlich klingt wie Stoff für einen Eimer Kitsch. Ein paar Taschentücher, die Katze auf den Füßen und der graue Alltag kann für eine Weile draußen warten. Aber genau da liegt das Problem. Gerade weil das Schema altbekannt, ja geradezu traditionell ist, trägt es unserer heutigen Zeit keine Rechnung mehr. Die Welt ist kleiner geworden. Distanzen, Zeitunterschiede. Diese Dinge spielen einfach keine Rolle mehr. Medien gaukeln uns vor, die romantische Liebe sei ein allgegenwärtiges Wunder, derweil wir alle uns gleichzeitig immer mehr in uns selbst zurückziehen und ein unvermutetes Klopfen an der Tür immer häufiger als Angriff werten. Die Grenzen zwischen Erwartungen und Ängsten haben sich verschoben, verzerrt und wirken mehr und mehr wie die Grenzen zwischen egoistischen Forderungen und von langer Hand sorgfältig geplanten Verteidigungsstrategien. Beide Seiten haben aufgerüstet."

    Einige der Gäste wurden langsam ungeduldig. Sie hatten wenigstens ein paar knisternde Details erwartet und bekamen statt dessen eine Laienvorlesung in Soziologie. Jake schubste Paula sanft wieder zurück auf das Thema des Abends.

    „Das ist ja alles schön und gut. Aber wieso sollte dein Roman jetzt mehr sein als dieser ‘Eimer Kitsch’?"

    Paula nickte ihm zu. Sie hatte die Botschaft zwischen den Zeilen durchaus verstanden.

    „Die Frage muß lauten: wieviel Zurückweisung kann ein Mensch ertragen, bevor er handelt. Und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit er oder sie den Verlust der eigenen Hemmschwelle als vollkommen gerechtfertigt empfindet. Diesen Punkt kann Kate, Dr. Morganstern, ihnen bestimmt viel besser erklären."

    Die Psychologin nahm souverän lächelnd die Brille ab, schlug elegant die Beine übereinander und übernahm den ihr zugespielten Ball.

    „Ja, natürlich. Danke, Paula. Sehen sie, man unterscheidet im Zusammenhang mit Stalking verschiedene Formen obsessiven Verhaltens. Es gibt die simple Obsession, bei der jemand von seinem Ex-Partner einfach nicht lassen kann, die Liebesobsession, bei der eine romantische Beziehung praktisch vorweggenommen und aus diesem Grund erzwungen wird. Stalking aufgrund eines auf eine ganz bestimmte Person projizierten Minderwertigkeitskomplexes und schließlich die Erotomanie. Dies sind keine festen Kategorien. Wir habe es hier mit dem Versuch zu tun, unterschiedlichen Motivationen einen Namen zu geben, um heute, immer noch am Anfang entsprechender Untersuchungen, mit etwas arbeiten zu können. Allen gemeinsam ist ein eklatanter Mangel an Unrechtsbewußtsein. Vereinfacht ausgedrückt: etwas ist im eigenen Leben nicht in Ordnung, also muß es ein anderer richten. Der Ex-Partner. Der Büroflirt. Der Therapeut. Oder, wie im Falle der Erotomanie, jemand mit besonderer Präsenz, vorzugsweise in den Medien. Auf diese Person konzentrieren sich alle Hoffnungen und Erwartungen und in der Konsequenz trägt sie auch in den Augen des Betroffenen die alleinige Verantwortung, wenn die Dinge schief laufen.

    Das Phänomen selbst ist beileibe nicht neu und auch aus anderen Bereichen bekannt. Viele Vergewaltiger geben als Grund für ihre Tat an, von ihrem Opfer in irgendeiner Weise provoziert worden zu sein. Umgekehrt empfinden eben diese Opfer ein immenses Maß an Schuld. Sie übernehmen die Verantwortung für die Vergewaltigung und akzeptieren gleichsam die Rechtfertigung des Täters.

    Sehr ähnliche Mechanismen greifen beim Stalking. Man spricht auch von ‘Vergewaltigung auf Raten’ und findet hier das gleiche Gewaltpotential von Psychoterror über Schläge bis hin zum Mord. Erotomanie hat also mit Erotik nur ganz am Rande zu tun.

    Ach ja, bevor ich es vergesse: für lange Zeit galt das De Clerambeault Syndrom in der Fachwelt als ein nur bei Frauen auftretendes Leiden. Man war also der Meinung, daß sich nur eine Frau auf eine entfernte, sozial höher gestellte Person fixieren und anschließend aus Frustration aggressiv handeln konnte."

    So. Das wäre also geklärt. Das Mädel hatte sich verknallt und als es nicht klappte, hat sie ein eloquentes, wissenschaftlich untermauertes Konstrukt gebaut, um ihr Scheitern zu verkraften. Na, wenn das alles sein sollte …

    Paula nahm ihren Faden wieder auf.

    „Es geht also nicht um Sex. Es geht vielmehr um die Forderung nach Liebe und die Unfähigkeit, de facto meine Unfähigkeit, mit Zurückweisung fertig zu werden. Um meinen Roman schreiben zu können, habe ich mich ausgiebig mit forensischer Psychologie und den gängigen Erklärungsmodellen für Erotomanie beschäftigt. Ich wollte meine eigenen Reaktionen verstehen. Reaktionen, die für mich selbst so absurd, so abwegig waren, daß ich ohne die Unterstützung von Freunden und Familien mit größter Wahrscheinlichkeit wirklich den Boden der Realität unter den Füßen verloren hätte. Heute kann ich nur hoffen, daß der eine oder andere, der sich vielleicht in einer ähnlichen Situation finden mag, mein Buch liest und noch einmal sehr sorgfältig über sein Handeln nachdenkt."

    Hier schaltete sich Jake mit einer leicht irritierten Zwischenfrage ein.

    „Moment mal, Paula! Bevor ich hier den Überblick zwischen Roman und Wirklichkeit verliere – bist Du tatsächlich von David besessen?"

    „Jake, um es hier ganz klar und deutlich zu sagen: Nein, ich bin nicht besessen. Aber um den Roman überhaupt schreiben zu können, um selbst verstehen zu können, was sich da zwischen den Charakteren abspielt, mußte ich mich sehr, sehr weit mit meinen Figuren identifizieren. Ich habe also recherchiert, Kontakt zu Selbsthilfegruppen aufgenommen, mein ganzes Leben auf die Person David Jerome Kalio ausgerichtet und jedes seiner Worte, jedes Blinzeln und jeden mir zugänglichen Kontakt seinerseits zu anderen analysiert, zerpflückt, interpretiert und schließlich in der einen oder anderen Form verarbeitet. Das einzige, was ich nicht getan habe, war, ihn persönlich mit all dem zu konfrontieren und ihn während meiner Arbeit an der ‘Rosenkönigin’ aktiv zu kontaktieren."

    Ein bißchen traurig schüttelte die Frau den Kopf.

    „Wenn man sich Tag ein, Tag aus mit einem Fremden beschäftigt, dann wird es mit der Zeit ausgesprochen schwierig, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Ich mußte mir ständig bewußt machen, daß meine Gefühle, meine emotionalen Reaktionen nicht durch den Mann David Kalio ausgelöst wurden, sondern nur durch das, was ich da an Phantasiegebilden zu Papier brachte. Stellen Sie sich vor, daß Sie über eine Liebesschnulze im Fernsehen in Tränen ausbrechen. Nur wesentlich schlimmer."

    Jake räusperte sich und warf einen kurzen Blick auf ein Kärtchen in seiner Hand.

    „Gut, gut. Aber jetzt – wieso gerade er? Was machte David zu etwas besonderem – außer seinem phantastischen Aussehen?"

    Irgendwie mißglückte Jakes Versuch, mit Spott wieder an Boden zu gewinnen. Er klang eher fast neidisch. Paula ging gar nicht erst darauf ein.

    „Meine erste, meine erste virtuelle Begegnung mit David auf seiner Webseite war ein Schock, der mein Leben verändert hat. Sie kennen alle diese Situationen, in denen man eine Wahrheit einfach nicht sehen kann oder will. Man weiß, was als nächstes zu tun ist. Ihre Mutter sagt es ihnen. Ihre besten Freunde sagen es ihnen. Sie sagen es sich selbst. Es hilft nichts. Es gibt immer ein ‘ja, aber’, mit dem man sich um das eigentlich unvermeidliche noch ein Weilchen herumdrücken kann. Und dann sagt plötzlich ein wildfremder Mensch exakt die richtigen Worte zum exakt richtigen Zeitpunkt und nichts ist mehr so, wie es war. Ängste werden vom Tisch gefegt. Mut und Zuversicht machen plötzlich greifbar, was noch Augenblicke zuvor in unerreichbarer Ferne zu liegen schien."

    Sie lachte auf und berührte kurz die Hand des Mannes, der ihr fast ein neues Leben geschenkt zu haben schien.

    „Nun, in meinem Fall war es so, daß ich immer nur Schriftstellerin sein wollte. Nichts sonst. Dafür habe ich gearbeitet und studiert. Allerdings fehlte mir der Mut, einfach ins kalte Wasser zu springen und einen Traum in Realität zu verwandeln. Dann las ich Davids Ratschläge für angehende Schauspieler die, unterm Strich betrachtet, nichts weiter besagten als ‘wenn du’s nicht probierst, erfährst du es nie’. Simpel. Logisch. Und ohne jeden Spielraum für ein wirksames ‘ja, aber’. Gott, war ich wütend! Wie konnte er es wagen, mir einfach alle meine wundervollen Entschuldigungen zu klauen?"

    David mischte sich grinsend ein, um diese Aussage zu korrigieren.

    „Tatsächlich hat sie mir damals einen Brief geschrieben, in dem sie sich für diesen Tritt in den Hintern bedankt hat. Und zwar recht herzlich, möchte ich hinzufügen."

    „Und den du nie beantwortet hast!"

    Sie drehte ihm demonstrativ den Rücken zu und sprach weiter mit Jake.

    „Ich habe wochenlang auf irgendein Feedback gewartet. Eine Email oder eine Karte. Irgend etwas. Aber selbstverständlich geschah nichts dergleichen. Statt dessen entstand in meinem Kopf eine irrwitzige Mischung aus Realität und Fiktion. Dieser Flegel hier neben mir schlüpfte plötzlich in die Rollen aller möglichen Geschichten, die ich mir im Laufe der Zeit ausgedacht hatte und umgekehrt nahmen diese Charaktere immer mehr seiner Züge an. Geschichten, die ich schon Jahre vorher verworfen hatte, lebten plötzlich – weil die Figur, die sie trug, lebte, atmete. Weil sie wirklich und wahrhaftig in mein Leben getreten war. Ich griff also eine dieser Geschichten heraus, packte den Rest wieder in seine imaginäre Schublade und machte mich an die Arbeit. Wer war dieser Mann, der da so unvermutet meine Gedanken ausfüllte? Was tat er? Was dachte er? War er verheiratet? Was hatte er für Vorlieben?"

    Mit erschreckender Intensität stieß die Frau ihre gebannte Zuhörerschaft mitten hinein in eine fieberhafte Suche nach Fakten, ließ sie sie hin und her schießen wie Weberschiffchen, derweil sie aus den Fäden von Wünschen, Ideen und Begebenheiten die Leinwand für eine Geschichte schuf.

    Auch Mr. Richard Jones lauschte Paulas Ausführungen mit wohlwollendem Interesse. Jedoch war der Grund für sein väterliches Lächeln eher privater Natur und nicht unbedingt etwas, was er zu diesem Abend beisteuern wollte. Er dachte an jenen tristen Nachmittag, als ihm Paulas Manuskript zum ersten Mal unter die Augen gekommen war. Er hätte es fast in den Papierkorb geworfen. Wieder eine hoffnungsfrohe Jungautorin mit mehr Ehrgeiz als Talent. Dann jedoch war sein Blick auf Paulas Vorschläge zur Vermarktung gefallen und eine rasche, besitzergreifende Handbewegung plazierte das gute Stück exakt in die Mitte seines Blickfeldes. Auf einmal war es ihm von Herzen egal gewesen, ob Paula schreiben konnte oder nicht. Die Idee, alle Beteiligten einfach dadurch in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken, indem man die Stalkerin selbst gnadenlos an den Medien-Pranger stellte, war einfach zu schön, um wahr zu sein. Und so simpel. Vermische Realität und Fiktion so sehr, daß Zuschauer und Leser völlig den Überblick verlieren. Laß sie raten, laß sie spekulieren, laß sie diskutieren – so etwas wie schlechte Publicity gibt es nicht. Jeder wird lesen wollen, worüber alle sprechen, jeder wird den Schauspieler sehen wollen, der all das heraufbeschworen hat. Und jeder wird seine Werbebotschaft auf dieses wundervolle Vehikel kleben wollen. Mr. Jones Gelächter angesichts der phantastischen Möglichkeiten hatte man an jenem denkwürdigen Tag noch draußen auf dem Gang hören können.

    Während sich Richards Gedanken zärtlich um zu erwartende Profite rankten, hatte Jake das allgemeine Interesse auf David gelenkt. David Jerome Kalio, jenen ambitionierten, charismatischen Mann, dem die ‘Rosenkönigin’ so hoffnungslos verfallen war. Bei seinem Aussehen fiel es kaum jemandem schwer, seinen Namen mit dem so griffigen Wort ‘Erotomanie’ zu verknüpfen.

    Und so hängte auch Jake seine Aufforderung zum Tanz an Äußerlichkeiten auf.

    „David. Fast zwei Meter groß, gut hundert Kilo schwer, Muskelberge, soweit das Auge reicht. Ist die Opferrolle für dich nicht ziemlich ungewohnt?"

    Der Schauspieler strich mit einer eleganten Handbewegung seine knapp hüftlangen Dreadlocks aus dem Gesicht und bedankte sich mit einem fast schüchtern wirkenden Lächeln für die bewundernden Worte.

    „Nun, Jake, Opfer ist nicht gleich Opfer. Es liegen Welten zwischen dem Opfer eines Raubüberfalls, dem Opfer politischer Verfolgung oder dem Opfer eines Stalkers. Ihnen allen gemein ist jenes Gefühl der Hilflosigkeit angesichts einer Macht jenseits ihrer Kontrolle. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist wohl jeder Mensch früher oder später in seinem oder ihrem Leben Opfer, und für jeden einzelnen dieser Menschen ist diese Rolle zunächst ‘ungewohnt’."

    Der Moderator räusperte sich und stutzte kurz. Irgendwie hatte er nicht das Gefühl, daß er gerade eine Antwort bekommen hätte.

    „Gut, gut. Aber wie war das denn jetzt für dich als Opfer, im Zentrum einer Stalkingattacke zu stehen?"

    Mit einem Nicken gab David nach und nur die kleinen Lachfältchen in seinen Augenwinkeln deuteten darauf hin, daß er viel lieber weiter mit Jake Katz und Maus gespielt hätte.

    „Um es auf den Punkt zu bringen: ich war zutiefst erschüttert. Ich las ‘Die Rosenkönigin’ und war so zornig wie noch nie in meinem Leben. Während ich in die Geschichte eintauchte, tauchte die Geschichte in mich als Leser ein. Da war jemand, der mich noch nie persönlich kennengelernt hatte, mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt hatte und von dessen Existenz ich noch nie gehört hatte. Und doch unterstellte dieser jemand mir Gefühle und Regungen. Ohne jede Rücksicht auf meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse drang da jemand in mein Leben ein und tat ganz so, als geschähe dies als Reaktion auf meine angebliche Liebe. Ich wollte mich wehren und wußte nicht wogegen. Ich wollte Türen und Fenster verrammeln, um die Grenzen meines eigenen, kleinen Reiches zu sichern.

    Es ist wirklich selten, daß es Literatur gelingt, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion so vollkommen zu verschleiern."

    David Kalio räusperte sich und sah die Frau in dem Sessel neben seinem für eine lange Sekunde an.

    „Nun mag das Wissen um meinen ganz persönlichen Anteil an der Entstehung eben dieses Romans eine gewisse Rolle gespielt haben. Aber in letzter Konsequenz hat mich das gar nicht so sehr schockiert. Es war vielmehr die Tatsache, daß ich sehr, sehr dankbar dafür war, daß die ‘Rosenkönigin’ ihre Phantasien

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