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Schwanengesang. Gottes grausamer Spaß
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eBook309 Seiten4 Stunden

Schwanengesang. Gottes grausamer Spaß

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Über dieses E-Book

Für den Leser, der sich verführen lässt, wird der Schein zum Sein, das Böse zum Guten, das Gute zum Schlechten. Dieses Buch ist so lebensfeindlich, als ob der Teufel es persönlich diktiert hätte. Es ist eine Verherrlichung des Bösen, eine Verführung zum Bösen. So etwas darf der Mensch nicht schreiben, das ist gegen Gottes Werk und Willen, und ich vergehe mich an seiner Schöpfung, indem ich es abtippe…
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Nov. 2019
ISBN9783749744497
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    Buchvorschau

    Schwanengesang. Gottes grausamer Spaß - Dr. Eugen Wenzel

    ERSTES KAPITEL

    »Wehret den Anfängen!«

    oder: Der falsche Lohengrin

    Der majestätische Sportwagen kam aus der Kurve und beschleunigte innerhalb weniger Sekunden auf mehr als 120 Kilometer pro Stunde. In Windeseile näherte er sich einer Gruppe ausgelassen scherzender und lachender Jugendlicher, die die Doppelspur überquerten und den Fußgängerstreifen zwischen den beiden Fahrbahnhälften der Leipziger Straße fast schon erreicht hatten. Das Auto wäre problemlos an ihnen vorbeigerast, ohne dass sie es überhaupt richtig begriffen hätten, wäre nicht ein alkoholisiertes Mädchen auf den leichtsinnigen Gedanken gekommen, sich aus ihrer Mitte herauszulösen und plötzlich zurückzulaufen. Dem Fahrer blieb kaum ein Bruchteil einer Sekunde, um darauf zu reagieren. So riss er den Lenker instinktiv nach rechts und das Auto flog mit einer erschreckenden Geschwindigkeit in einen am Straßenrand parkenden LKW.

    Der Fahrer wurde auf der Stelle bewusstlos. Es grenzte fast an ein Wunder, dass er noch lebte, als bereits kurz darauf die Rettungskräfte eintrafen und das Wrack unter dem Laster hervorzogen. Das Bewusstsein erlangte er ziemlich schnell wieder, doch der grausame Zustand, den er nun durchleben musste, war einer der vollkommenen Isolation von der äußeren Welt. Seine Sinne versagten gänzlich. Er konnte nichts riechen, schmecken und fühlen. Buchstäblich alles um ihn herum hüllte sich in endlose Stille und in tiefstes Schwarz. So war es ihm auch unmöglich, in Erfahrung zu bringen, ob er sich bewegen konnte oder nicht. Er wusste überhaupt nicht einmal, ob er noch lebte oder sich bereits irgendwo zwischen den Welten befand und vielleicht in einem kalten Grab liegend auf den Jüngsten Tag wartete. Sein Körper hatte sich von seiner Seele getrennt und ob sie jemals wieder zueinander finden würden, stand in den Sternen geschrieben.

    Nach unendlichen eineinhalb Wochen hörte er dann schließlich Stimmen. Zuerst hielt er sie für eine der unzähligen Einbildungen, die ihn damals unermüdlich heimsuchten, jedoch war er sich nach einiger Zeit ziemlich sicher, dass es sich dabei um die Stimmen zweier tatsächlich existierender junger Ärzte handeln musste. Sein Versuch, etwas zu sagen und seine Augen zu öffnen, blieb ohne Erfolg. Obwohl er sich innerlich mit aller Willenskraft aufbäumte, blieb er äußerlich ein starrer Leichnam und so hatte er keine andere Wahl, als den beiden Männern zuzuhören.

    „Bist du dir sicher, dass er es ist", fragte der eine den anderen beinahe im Flüsterton.

    „So wahr ich hier stehe, antwortete der Gefragte zwar ebenso leise, jedoch mit einer deutlich tieferen Stimme, und fügte sogleich hinzu: „Wirf einen Blick auf das Namensschild, dann weißt du’s: Dr. Konstantin Frincks.

    „Tatsächlich, sagte der Aufgeforderte nach einer kurzen Pause und sprach dann mehr zu sich als zu dem anderen: „Solche erwischt es gelegentlich also auch.

    „Den Hals abwärts alles gelähmt, hoffnungsloser Fall", diagnostizierte der mit der tieferen Stimme vollkommen gelassen und ohne jegliche Anteilnahme, gerade so, als ob er sich damit in die Rolle eines Oberarztes bei einer Visite einüben wollte, zu dem eine ganze Schar von katzbuckelnden Assistenzärzten und attraktiven Studentinnen der Medizin aufschaut.

    „Bei Gott, ich möchte jetzt nicht in seiner Haut stecken", erwiderte darauf sein etwas nachdenklich gewordener Kollege nach einem erneuten kurzen Innehalten.

    „Wer möchte das schon, kommentierte der Oberarzt in spe diese Äußerung in einem Ton der Überlegenheit. „Für immer querschnittsgelähmt, falls er überhaupt jemals wieder aufwachen sollte.

    „Wenigstens hat er die finanziellen Mittel, um sich bis ans Ende seiner Tage rund um die Uhr mit allem erforderlichen Aufwand pflegen zu lassen."

    „Zweifelsohne, bestätigte der andere verächtlich und fiel damit aus der Rolle des Oberarztes. „Wenn unsereinem sowas zustößt, kann er sich am besten gleich einsargen lassen. Doch so einem Mistkerl schaut das Geld natürlich zum Arsch heraus und selbst noch als ein Krüppel hat er es tausend Mal besser als ein ehrlicher Mensch in einer vergleichbaren Lage. Eigentlich, er dachte kurz nach, „eigentlich müsste man das Schwein einschläfern und seine Organe Menschen überlassen, die es wirklich verdienen, weiterzuleben. Schau dir diese Ironie des Lebens nur an, seine wütende Stimme bekam für einen Moment eine deutlich resignative Nuance, „ich habe selten einen so durchtrainierten Körper und einen so unendlich verdorbenen Geist gesehen.

    „Ach, komm, hör auf mit diesem Quatsch."

    „Wieso ist das bitteschön Quatsch", fragte der Unterbrochene erbost.

    „Das ist einfach nur unmenschlich."

    „Unmenschlich? Wann bekommst du endlich genug von deinem humanistischen Blödsinn? Was hat dieses Arschloch der Arschlöcher der Welt jemals Gutes getan? Wie viele Menschen hat er in seinem Leben bereits ruiniert?"

    „Und dennoch, erwiderte die andere Stimme voller Ruhe. „Selbst wenn er ein noch so würdeloser Mensch ist, was ich keinesfalls bestreite, so darfst du dich deswegen nicht ebenfalls würdelos verhalten.

    „Verschone mich mit solchen Floskeln. Im Grunde genommen ist es sogar unsere heilige Pflicht, Organe hin oder her, dieses Schwein abzuschlachten, ja, du hörst richtig, abzuschlachten. Stell dir nur vor, wie es weitergehen wird, wenn er aus dem Koma aufwachen sollte. Wenn er sich schon früher wie ein tollwütiger Hund verhalten hat, so wird das auch in Zukunft kaum anders sein, eher noch schlimmer. Oder denkst du, die Tatsache, für den Rest des Lebens an einen Rollstuhl gekettet zu sein, wird einen Saulus zum Paulus machen, wird jemanden von seinem Charakter versöhnlich stimmen und zu einem Menschenfreund werden lassen? Wenn er bloß nicht dieses unglaubliche Vermögen hätte, das selbst den Grafen von Monte Christo vor Neid erblassen lassen würde, dann könnte man freilich sagen: In Ordnung, er wird in ein Heim abgeschoben und wird dort irgendwo in einer dunklen Ecke, von allen vergessen, vergammeln. Doch dieser Mann hat Geld und dieser Mann hat Macht und du weißt nur zu gut, wie bösartig gegen jeden und alles solche Menschen oft sein können, die der Meinung sind, dass ihnen ein unverzeihliches Unrecht widerfahren sei, ganz gleich, ob sie selbst die Schuld daran tragen oder nicht."

    „Ich bleibe dabei, hielt der andere diesem zwar aggressiven, jedoch immer noch recht leisen Wutausbruch entgegen. „Selbst wenn ihn der Leibhaftige höchstpersönlich für ein Stückchen, das sich in seiner Grausamkeit jeglichem Vorstellungsvermögen entzieht, auserkoren und einzig zu diesem Zweck vor dem sicheren Tod bewahrt haben sollte, so haben wir dennoch nicht das Recht, ihn zu töten.

    „Hörst du dich überhaupt reden, fragte sein Gegenüber auf einmal deutlich ruhiger, da ihm plötzlich aufgegangen sein musste, dass er auf Granit biss, und fügte versöhnlich hinzu: „Mach dir keine Sorgen, ich werde ihn schon nicht töten, denn ich habe keine Lust, das Risiko einzugehen, wegen einem solchen Haufen Scheiße vielleicht noch in den Knast zu kommen. Andere sind schon wegen viel kleineren Geschichten auf ihrer Karriereleiter gestolpert.

    Der Angesprochene gab sich ebenfalls versöhnlich, indem er sagte: „Komm, gehen wir eine rauchen."

    „Eine gute Idee, lass uns gehen." Sie setzten sich in Bewegung, blieben jedoch vor der Tür noch einmal kurz stehen, um wahrscheinlich noch einmal einen Blick auf den lebenden Leichnam zu werfen.

    „Hoffentlich wacht das Schwein nie wieder auf", sagte auf einmal ganz leise der mit der tieferen Stimme und ging. Der andere schien zumindest diesen Wunsch mit ihm zu teilen, denn er widersprach nicht, sondern folgte seinem Kollegen schweigend hinaus.

    Beiden war irgendwie nicht wirklich wohl zu Mute und wer weiß, ob sie nicht vielleicht zu ganz anderen Schlüssen gekommen und sogar zur Tat geschritten wären, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, zu sehen, dass in dem bewegungslosen Körper, den sie hinter sich im Krankenzimmer ließen, ein beinahe unüberwindbarer Wille tobte, der jetzt noch stärker als zuvor gegen die Innenwände seines dunklen Käfigs hämmerte, um endlich wieder frei zu werden und alles und jeden unerbittlich zu vernichten, der es wagen sollte…

    ZWEITES KAPITEL

    »Suchet, so werdet ihr finden!«

    oder: Der wahre Lohengrin

    Aus dem Spiegel schauten ihm zwei dunkelbraune Augen entgegen. Er blickte in ein Gesicht, das in den letzten Jahren zwar um Einiges älter, jedoch auch viel interessanter geworden war. Er war ohne Frage übermüdet von der Arbeit, doch sie erfüllte ihn und deswegen arbeitete er gerne und viel. Dies war auch schon einmal anders gewesen, doch zum Glück war das nicht länger der Fall.

    Damals, direkt nach dem Studium, hatte er eine Zeit lang für jemanden gearbeitet, der es nicht verstand und aus kurzsichtigem Eigennutz auch nicht hätte verstehen wollen, was es heißt, richtig zu führen und zu lenken. Als besonders frustrierend hatte er dabei die Tatsache empfunden, dass sein Herr und Meister – wie so häufig – viel weniger konnte und kannte als er, und dies darüber hinaus immer so zu drehen wusste, dass es für Außenstehende genau anders herum zu sein schien. Hinzu kam, dass er als ein eigenständig denkender Mann, der regelmäßig öffentliche Verkehrsmittel benutzte, täglich unzählige Menschen beobachten musste, die ähnlich wie er ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Arbeit zu haben und daran zutiefst zu leiden schienen. Er sah tagein tagaus, wenn er morgens oder abends in überfüllte U-Bahnen stieg, Legionen von Gesichtern, die jeglicher echter und gesunder Ausstrahlung entbehrten, moderne Sklaven, die entweder noch halb im Schlaf in ihre »Arbeitsgruben« einfuhren oder total entmenschlicht aus ihren »Arbeitslagern« zurückkehrten. In seinen Augen waren es Menschen, die sich entweder aus Angst und Verzweiflung einredeten, dass sie den Tätigkeiten, die sie ausübten, trotz aller Widrigkeiten eigentlich gerne nachgingen oder sich schon längst mit der schamlosen Lüge abgefunden hatten, Arbeit sei keine Quelle des Glücks, sondern ein notwendiges Übel, welches der Arbeiter anderweitig kompensieren müsse. Einen mit echtem Glück nicht im Entferntesten zu vergleichenden Ersatz konnten sie sich nicht anders verschaffen, als durch die Flucht entweder in oberflächliche und damit geistlose Unterhaltung oder in sinnlose Rauschzustände, angefangen bei kurzlebigen substanzlosen sexuellen Beziehungen, aufhörend bei gewaltreichen und blutrünstigen Computerspielen und Filmen.

    Dies alles führte ihn zu dem Schluss: Wenn er sein Leben nicht sinnlos vergeuden wollte, so musste er den Sprung in die Selbständigkeit wagen. Die Möglichkeit, irgendwann auf einen Arbeitgeber zu treffen, der seinen Beschäftigten Arbeitsbedingungen garantiert, die ihnen echte Erfüllung bringen, hielt er zwar nicht für gänzlich ausgeschlossen, jedoch auch nicht für allzu wahrscheinlich. Am Anfang war es unerträglich hart und manchmal reichte ihm das Geld nicht einmal für das Allernötigste, doch mit der Zeit wurde es besser, so dass er inzwischen selbst zwei Mitarbeiter beschäftigen konnte. Von ihnen bei einer passenden Gelegenheit danach gefragt, wieso er ihnen ungewöhnlich viel bezahlte und ihre persönlichen Umstände und Wünsche, so gut es nur ging, berücksichtigte, entfaltete er ihnen nicht seine gesamte Philosophie, sondern erzählte einfach von einem Gespräch, das er in einem Café einmal zufällig mitgehört hatte. Diese Unterhaltung hatten zwei Türken geführt, ein etwas älterer und ein deutlich jüngerer. Sie sprachen über das Thema Verantwortung. Der Ältere hatte die Ansicht vertreten, wenn er jemanden für sich arbeiten lasse, habe er nicht nur den Beschäftigten, sondern auch dessen Angehörige zu versorgen, denn dem Arbeitnehmer bleibe aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit keine Zeit, sich um ihre Versorgung zu kümmern. Natürlich könne dieser nach zehn Stunden harter Arbeit auch noch woanders arbeiten und sogar die Wochenenden und Urlaubs- und Feiertage dazu nutzen, sich und seiner Familie ein Zubrot zu verdienen, doch so etwas zu erwarten, sei bereits menschenverachtend und vollkommen verantwortungslos, weshalb es nebenbei bemerkt auch mehr als beschämend sei, in einer Gesellschaft und mit einer Politik zu leben, die genau ein solches Verhalten zur Regel erhoben hätten.

    Diese Geschichte verschaffte dem Jungunternehmer noch mehr Anerkennung seitens seiner zwei Angestellten. Übermäßig reich konnte er mit seiner Unternehmenspolitik selbstverständlich nicht werden, doch dass sie beträchtlich zu einem menschlichen Verhältnis zwischen den dreien und zum Glück aller Beteiligten beitrug, war ihm weit mehr als ein zufriedenstellender Ausgleich, zumal er damit einen wahrlich realistischen Weg gefunden hatte, seinen kleinen persönlichen Beitrag zur Verbesserung dieser Welt zu leisten, die so reich ist an Armut.

    Sein eigener Herr und niemandes Willen untertan zu sein, war herrlich, doch das allein genügte ihm nicht. Recht früh hatte er erkannt, dass für ihn auch die Kunst zwingend dazugehörte, um glücklich sein zu können. Es war vor allem die Musik, die sein Interesse fesselte, und so war ihm das berühmte Diktum Nietzsches, »ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum«, wie aus der Seele gesprochen. Er liebte sie und am meisten liebte er die Oper. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hatte er bereits als Jugendlicher, womit er seinerzeit sicherlich eine sehr große Ausnahme bildete, auch Pretty Woman zu lieben gelernt, denn ihm gefiel an diesem Film der Gedanke von Richard Gere, entweder man liebe die Oper mit voller Hingabe oder man liebe sie überhaupt nicht. Es sollte jedoch noch eine gute Weile dauern, bis ihm der tiefere Sinn dieser Worte bewusst wurde, der in der unvergänglichen Wahrheit besteht, dass Kunst die Menschen nicht nur zu verbinden, sondern auch zu trennen vermag.

    Der Anlass für diese Erkenntnis war – wie so oft – eine Frau. Sie war zwar nett und schön, doch anders als die von Julia Roberts im Film verkörperte Prostituierte Vivian war sie nicht sonderlich viel mehr. Die Kunst mochte sie nur äußerst bedingt und die Oper war für sie überhaupt eine Terra incognita. So musste es unweigerlich dazu kommen, dass sie eines Tages den Versuch unternahmen, gemeinsam einer Opernaufführung beizuwohnen. Doch das Leben ist kein Film. Der arme Puccini! Tosca hatte noch nicht einmal zu singen begonnen, da hatte die junge Frau schon ihr Mobiltelefon herausgeholt und in dieser »Mülltonne« zu »wühlen« angefangen. Nach weiteren zehn Minuten hatte sie bereits der gesamten Welt in Form eines Fotos mitgeteilt, an welchem weltberühmten Ort sie sich gerade aufhielt, und noch zehn Minuten später hing sie in ihrem Sessel wie ein k.o. geschlagener Boxer in den Seilen. Nach der zweiten Pause ging sie gar nicht mehr in den Zuschauerraum zurück und wartete auf ihn stattdessen in einem Café. Sie zerstörte damit seinen Abend und schlug ihrer Beziehung eine nie wieder zu schließende Wunde. Vielleicht hätten sie, wie im Film, Carmen statt Tosca hören sollen, doch er glaubte nicht, dass dies irgendeinen Unterschied gemacht hätte.

    Über die unvermeidliche Trennung kam er nur äußerst schwer hinweg und überhaupt hatte er jedes Mal enorme Schwierigkeiten, wenn er sich von einer Frau trennte. Die Ursache hierfür lag in seinem auf den ersten Blick etwas seltsam anmutenden Glauben, dass der Mann erlösungsbedürftig sei und einzig die Frau ihn zu erlösen vermöge. Diesem uralten und in leicht abgewandelter Form allem menschlichen Streben nach Liebe zugrundeliegenden Gedanken war er zum ersten Mal im Lohengrin begegnet, der mit riesigem Abstand zu allen anderen Werken der Operngeschichte seine Lieblingsoper darstellte. Das Problem des Schwanenritters, sein Glück in der Liebe nirgends finden zu können, war auch das seinige.

    Nicht weniger bewegte und beschäftigte ihn daher auch der von Platon überlieferte Mythos von den sogenannten Kugelmenschen. Laut diesem besaß der Mensch am Anfang der Zeiten zwei Köpfe, vier Arme, vier Beine und so weiter und so fort. Aber in dieser Gestalt war er den Göttern zu mächtig und so befahl Zeus, um keine Götterdämmerung erleben zu müssen, dem Apollo, den Menschen in der Mitte zu spalten. Erst jetzt bekam er sein heutiges Aussehen, das Aussehen eines Krüppels, körperlich wie geistig. Damit schien der Mensch nicht länger eine Bedrohung für die Götterwelt zu sein, denn seit seiner Verstümmelung verwendet er all seine Energie darauf, seine verlorene Hälfte wiederzufinden, ohne die er nicht glücklich sein kann und die zu finden angesichts der unvorstellbaren Anzahl der Menschen auf diesem Planeten so aussichtsreich ist, wie das Suchen nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Doch die Vernunft gebiert bekanntlich Ungeheuer. Einen Weg fand der Mensch, wie er den Göttern wieder bedrohlich werden konnte, und dieser besteht darin, wie der Nibelunge Alberich der Liebe und dem Glück zu entsagen. Genau hierzu war der Mann im Spiegel jedoch außer Stande. Unerschütterlich glaubte er daran, dass den Menschen nichts außer der wahren Liebe von seiner Krüppelhaftigkeit zu erlösen vermöge und alles andere diese nur noch verschlimmere.

    Er suchte daher unentwegt, erlebte eine Enttäuschung nach der nächsten und musste schlussendlich sogar erkennen, dass mit dem falschen Menschen zusammen zu sein weitaus schlimmer ist, als niemanden zu haben. Nicht nur, dass sie uns nicht fördern und nicht wirklich glücklich machen, sondern sie belassen uns auch nicht einmal so, wie wir sind. Sie ziehen uns vielmehr hinunter, geradezu wie ein Stein, der Ihnen um den Hals gebunden wird, bevor man Sie in eiskaltes Wasser schmeißt. Zu dieser Erkenntnis gelangte unser »Lohengrin« mit Hilfe seiner Ärztin. Sie war eine sehr kluge Frau und meinte einmal zu ihm, als er sich bei ihr über seinen immer schlechter werdenden Gesundheitszustand beschwerte, dass wir oft einzig deshalb krank, sogar sehr krank werden, weil wir einfach mit den falschen Menschen zusammen seien. Er wusste nur zu gut, dass sie Recht hatte, und gerade weil er häufig Momente erlebte, in denen er nicht mehr an die biblischen Worte glaubte, »Suchet, so werdet ihr finden!«, suchte er weiter und ging alle damit verbundenen Risiken ein. Es blieb ihm keine andere Wahl. Mit seinem Beruf war er wirklich zufrieden, die Kunst bescherte ihm unvergessliche Momente, doch sein Problem mit den Frauen war der Öltropfen, der einen ganzen See vergiftet und sein Wasser ungenießbar werden lässt. Dieser Umstand sorgte dafür, dass ihm zwar schöne, jedoch zugleich auch zutiefst traurige braune Augen aus dem Spiegel entgegenschauten. Sein Blick wanderte von seinem Gesicht zu der kleinen Uhr auf dem Waschtisch. Es war Zeit zu gehen.

    DRITTES KAPITEL

    »Gottes grausamer Spaß«

    oder: Der Mann mit den Zigaretten

    Die Türen des Zuges auf der U-Bahn-Linie 2 öffneten sich ruckartig und als einer der ersten stieg aus einem der letzten Waggons ein Mann aus, der seine Schritte sofort in die Richtung der U6 lenkte. Als er deren Bahnsteig erreichte, wollte er eigentlich noch ungefähr bis zur Mitte gehen, um dort auf den Zug zu warten, welcher laut der digitalen Anzeigetafel in drei Minuten einfahren sollte. Genau an dieser Stelle wartete bereits ein Obdachloser. Dieser saß auf einer der Metallbänke und obwohl er keineswegs abweisender aussah als andere Bettler Berlins, änderte der Hinzugekommene seinen Entschluss, ging an ihm vorbei und blieb erst ungefähr sechs Meter weiter stehen. Er misstraute solchen Menschen instinktiv, denn er war überzeugt, dass jemand, der nichts mehr zu verlieren hat, vollkommen unberechenbar und damit auch gefährlich sei. Aus demselben Grunde ließ er sie auch nie gänzlich aus dem Auge.

    Der Obdachlose verhielt sich ganz unauffällig und starrte vor sich auf den Boden. Dies blieb auch dann der Fall, als zwei vollständig mit sich selbst beschäftigte und recht festlich gekleidete Mädchen, die höchstens in die neunte Klasse gingen, hinzukamen und sich in den Bereich zwischen der Bank und den Gleisen hinstellten. Nur kurze Zeit später kam die Lautsprecherdurchsage, dass der Zug sich näherte und die Wartenden bei seiner Einfahrt Vorsicht walten lassen sollten. Die Menschen auf dem Bahnsteig gerieten in Bewegung und auch der Obdachlose erhob sich von seinem Sitz. Dabei fiel sein Blick auf eines der Mädchen und wandte sich nicht mehr von diesem ab. Dem anderen Mann entging dies nicht und sofort schoss ihm ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Doch anstatt vorsichtig näherzukommen und sich innerlich darauf vorzubereiten, gegebenenfalls schnell eingreifen zu müssen, blieb er wie angewurzelt stehen. Irgendwas faszinierte ihn an dieser Situation, ein Schauer lief über seinen Rücken und gleich einem Dokumentarfilmer, der einen Löwen nicht davon abhält, seine Beute zu reißen, sondern sogar noch näher heranzoomt, kniff er seine Augen leicht zusammen, um besser sehen zu können, was sich einen Augenblick später ereignen sollte.

    Die Bremsen der U-Bahn quietschten und verursachten ein lautes und grässliches Geräusch. Der Zug rollte heran, passierte den Eingang zur Station, passierte die ersten auf ihn wartenden Menschengruppen und als er fast schon auf der Höhe der beiden Mädchen war, machte der Bettler aus dem Stand heraus einen großen Sprung nach vorne und stieß mit aller Kraft eine von ihnen auf die Gleise. Der Fahrer reagierte sofort, doch es war alles zu spät.

    Der Obdachlose versuchte nicht, wegzurennen, sondern stand vollkommen versteinert da und blickte auf den Zug. Gleich daneben stand das andere Mädchen und konnte sich ebenfalls nicht von der Stelle rühren. Zwar verstand sie, dass statt ihrer Freundin sie jetzt zerquetscht und in Teile zerschnitten unter dieser U-Bahn hätte liegen können, jedoch war es ihr unmöglich zu realisieren, dass der Mensch, der diese unbeschreibliche Tat begangen hatte, direkt neben ihr stand. Kurz darauf stürzten sich mehrere Männer auf ihn und drückten ihn zu Boden.

    Der andere Mann, der alles vorausgesehen und zugelassen hatte, sah sich hingegen auch dies lediglich sehr genau an, drehte sich dann plötzlich um und verließ die Station über den nördlichen Ausgang. Oben, auf der Friedrichstraße, ging er weiter in Richtung Französische Straße, hielt jedoch nach wenigen Metern an, lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand, da er leicht taumelte, und schloss die Augen. Ohne sie zu öffnen, zog er nach ein paar Minuten eine Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche und zündete sich eine Kippe an. Als er sie aufgeraucht

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