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SCHNITTERGARN: Die Anthologie des Todes
SCHNITTERGARN: Die Anthologie des Todes
SCHNITTERGARN: Die Anthologie des Todes
eBook493 Seiten4 Stunden

SCHNITTERGARN: Die Anthologie des Todes

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Über dieses E-Book

I BIMS, DER TOD!
TRITT NÄHER UND KEINE ANGST, MEINE SENSE BEIẞT NICHT!
JEDENFALLS NICHT, WENN SIE NICHT MUSS.

Falls Sie einen Trauerbegleiter suchen, sind Sie hier falsch. Ersterben Sie die haarsträubendsten … oh sorry … totenkopfschädeligsten Geschichten. Unsere Autoren haben keine Kosten und Mühen gescheut, um den Tod in seinem natürlichen Lebensraum zu beobachten. An der Arbeit, im Urlaub, im Streik, in Rente, im Weltraum oder bei der Aufzucht des Nachwuchses, beim Essen oder dem Imitieren von Sinnen, Muskeln und Organen.
Wir laden Sie herzlich ein, sich nach Herzenslust totzulachen – wir wissen, Sie landen bei unseren Schnittern in guten Händen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Juni 2018
ISBN9783945230350
SCHNITTERGARN: Die Anthologie des Todes

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    Buchvorschau

    SCHNITTERGARN - Jörg Fuchs Alameda

    leserattenverlag.de

    Vorwort

    ER ist eine Legende. ER existiert schon seit ewigen Zeiten und doch wird er immer verkannt. Der Tod, Schnitter, Gevatter, wie immer man ihn nennen will. Vor allem im Genre der Fantastik ist er eine Größe, an der man nicht einfach so vorbei kommt. Viele Autoren haben sich dem Tod als Gestalt gewidmet, sei es Piers Anthony in den »Inkarnationen«, Christopher Moore mit seinem »ein todsicherer Job« oder viele andere. Über all dem schwebt natürlich der Tod von der Scheibenwelt, mit der sich Terry Pratchett ein Denkmal gesetzt hat.

    Auch im Bereich der Cartoons ist der Gevatter inzwischen bei vielen Zeichnern eine feste Größe. Sei es bei Ralph Ruthe oder Michael Holtschulte. Der natürlich schwarze Humor hinter dem knochigen Job ist immer wieder ein dankbares Thema. Der Hang, das eigentlich ernste Thema mit viel Witz zu verbinden, scheint ungebremst, gerade in der heutigen Zeit.

    Getreu dem Verlagsmotto, dass das Leben und die Welt der Fantastik oft zu episch und zu ernst sind, haben wir uns auf die Suche nach lustigen oder krankhaft skurrilen Geschichten über den Schnitter gemacht. Die Ideen der Autoren waren wohl schon länger da, denn wir sind mit fast 400 Geschichten geradezu überrollt worden. Die 22 unserer Meinung nach besten Stories haben es nun in diese Anthologie geschafft. Es gibt einige neue Autoren zu entdecken, aber auch alte Gesellen tauchen wieder auf. Es gibt sogar ein Wiedersehen mit der bekloppten Crew der FEUERSTURM, die schon in den Anthologien FUNTASTIK und Yo-Ho Piraten aufgetaucht ist.

    Einen fetten namentlichen Dank will ich an Chrissi Schlicht aussprechen, die nun schon das vierte Cover zu einem unserer Bücher geschaffen hat. In Sachen Humor scheinen wir auf einer Welle zu surfen, was die Arbeit sehr kreativ und trotzdem entspannt macht. Und ehrlich gesagt werden Coverdesigner bei Buchprojekten für meinen Geschmack viel zu selten gewürdigt.

    So bleibt uns nun nur viel Spaß auf der morbiden Reise durch dieses Buch zu wünschen. Aber Achtung! Nicht totlachen, denn sonst droht ein viel zu frühes Wiedersehen mit dem Hauptdarsteller!

    Jörg Fuchs Alameda

    Liebe Kollegen,

    ich schwöre bei der Schärfe meiner Sense, ich habe alles versucht, doch Jörg Fuchs Alameda ist nicht totzukriegen. Weder jahrzehntelanges Forschen in der Chemie, noch Frau und Tochter konnten ihn dahinraffen. Im Gegenteil! Sie scheinen seine Quelle der ewigen Jugend zu sein. Seit 2016 haut er wie besessen in die Tasten. Und wer muss das irre Zeug lesen? Ehrbare Totenwächter wie Du und ich. Es tut mir leid. Seine Story zu unserer Zunft bleibt uns wohl nicht erspart. Bringen wir es hinter uns. Besuchen wir ihn auf:

    www.joergfuchsalameda.de

    Die sieben Flure des Mortimer Todd

    Vorstellungsrunde

    Marlene Rabenherz

    »Es heißt, der Tod habe einen Plan und die Zeit sei ein launisches Kind. Was soll ich sagen? Es stimmt! Ich erfuhr es am eigenen Leib. An jenem Tag, an dem ich aus unverzeihlichen Gründen versehentlich getötet wurde.«

    Mortimer Todd

    »Meine Güte, das kann doch jedem mal passieren. Der Job ist anspruchsvoll. Überführe du mal eine Seele ins Totenreich und halte sie bis zum Jüngsten Gericht bei Laune. Und das auch noch als Anfänger in Probezeit. Oder glaubt hier irgendwer, ich sei schon immer der Tod gewesen?

    Kennt ihr diesen Jesus? Ich war der Engel, der die drei Heiligen Könige zu dem Hosenscheißer führen sollte. Gar nicht so einfach, ohne Navigationssystem. Schier unmöglich, ohne Orientierungssinn. Und eins kann ich euch sagen, die waren vielleicht naiv, diese Heiligen. Blindes Vertrauen, bloß weil ich ein wenig leuchtete. Ich hätte sie beinahe in die Hände des Königs Herodes gespielt. Na das wäre ein toller Geburtstag geworden. Statt Party und Geschenke hätte ich dem lieben Gott die kopflosen Heiligen erklären müssen. Der Chief Executive Officer des Himmels war stinksauer. Und das Peinlichste daran: Eine alberne Sternschnuppe musste meinen Auftrag beenden. Ja, ihr habt richtig gehört, ein verglühendes Staubkorn. Die kennen sich aus mit Nord und Süd. Dabei sollte ICH der Star werden. Jetzt gibt es jedes Jahr die Sternsinger. Die doofen Pappsterne sehen dem Staubkorn noch nicht einmal ähnlich.«

    Marlene Rabenherz

    »Wenn ihr wissen wollt, was passiert, wenn ein pubertierender Teenie auf einen karrieregeilen Profilneurotiker trifft: Dies ist unsere Geschichte.«

    Das Missgeschick

    Marlene

    Es sollte kein sonderlich guter Morgen werden. Nicht das ich Montage hasste – so wie meine Mutter – nein, im Gegenteil, ich freute mich immer auf zwei Stunden Mathe und zwei Stunden Chemie. Na ja, den Sportunterricht würde ich schon irgendwie herumkriegen.

    Nachdem der Tageslichtwecker die hellste Stufe erreicht hatte und das roboterhafte Vogelgezwitscher seit zwanzig Minuten aus dem Lautsprecher dröhnte, platzte Mum herein. Sie griff sich Columbo, meinen Stoffhund, und bellte mich damit an. Ich war zu müde, um ihr zu sagen, dass ich das seit zwei Jahren nicht mehr lustig fand.

    Gähnend schlurfte ich ins Badezimmer. Ich steckte mir die Zahnbürste in den Mund und sah im Spiegel dabei zu, wie sich dieses picklige, fünfzehnjährige Ding, mit den abstehenden Ohren und den zerzausten blonden Haaren lustlos die Zähne schruppte.

    Mit einem Mal war ich jedoch wach. Und obwohl die Fußbodenheizung glühte, fror ich. Gänsehaut breitete sich vom Nacken über den ganzen Rücken aus. Das Blut rauschte in meinen Ohren. War mir das Gesichtswasser zu Kopf gestiegen? Nein. Es war schlimmer.

    Bilder von Daddy fluteten meine Gedanken. Ich sah ihn, wie er neben mir stand und mit der Zahnbürste in der Backe die schlechtesten Witze ever von sich gab. Wie er dabei den Spiegel mit Zahnpasta voll spuckte und die Sauerei auf seinen Kater Murphy schob, der um seine Beine schmuste und ihm die Füße ableckte. Wie er das Tier hochhob und knuddelte, sodass auch der Kater den weißen Schaum im Fell hatte. Wie er mir hinterherjagte, um mir einen Zahnpastakuss aufzudrücken. Diesmal hätte ich mir den schaumigen Kuss geben lassen. Ich vermisste ihn.

    Plötzlich ein Schatten im Spiegel. Blaue Augen, die sich unter einer schwarzen Kapuze selbst anstarrten.

    Mir stockte der Atem. Ich drehte mich um.

    Der Typ in der Kutte erschrak und huschte aus dem Badezimmer.

    Mein Herz raste.

    Es war der Sensenmann. Er begegnete mir nicht zum ersten Mal. Letztes Jahr im Krankenhaus, als Daddy von uns ging, erschien er mir im Garderobenspiegel.

    Wen wollte er mir diesmal wegnehmen? Eine Träne kullerte über meine Wange. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Abschied lag in der Luft.

    Murphy? Sonst stolperte ich jeden Morgen mindestens dreimal über ihn. Wo war er?

    »Daddys Kater bekommst du nicht!«, zischte ich und stürmte ins Büro.

    Murphy lag auf dem Kratzbaum. Sein rotes Fell sah matt aus. Er fühlte sich warm an. Doch die Augen öffnete er nicht mehr. Der Schatten einer Hand näherte sich ihm.

    Ich riss den Kater aus der Mulde und rannte in den Flur. Die Hand erwischte einen Zipfel meines Pyjamas, ich stolperte und stürzte die Treppe hinunter.

    Mortimer

    Es gab nur eines, was ich noch weniger mochte als die Überführung von Katzen, nämlich die Überführung von Kindern. Sie waren schwierig. Die meisten wollten nicht mitkommen. Im Studium zum Totenführer erlernte ich die verschiedensten Methoden, um dieses Problem zu beherrschen. Doch keine davon wirkte zuverlässig. Je mehr ich diese Plagen mit Süßigkeiten und Spielzeug lockte, desto misstrauischer wurden sie. Viele von ihnen lachten mich aus oder nannten mich Spinner, wenn ich vom lieben Gott anfing. Dasselbe, wenn ich ihnen mit dem Teufel drohte. Sie rannten weg, versteckten sich oder machten sich gar unsichtbar, um als Poltergeist ihre Geschwister zu erschrecken.

    Der Rat meines Doktorvaters hallte mir noch in den Ohren: Mach es wie Gevatter Tod. Einfacher gesagt als getan. Mein großes Vorbild hatte immerhin 3,8 Milliarden Jahre auf dem Buckel. Ebenso viele Narben und Falten übersäten seine blasse Haut. Wenn er die Bühne betrat, erzitterte jeder. Kein Vergleich zu der lächerlichen Gänsehaut, die mein Erscheinen hervorrief. Ich war nur einer von Tausenden. Seit dem Burn-out unseres legendären Gevatters wurde die Erde aufgeteilt. Wegen der steigenden Weltbevölkerung und dem Beschluss, auch Tiere aufzunehmen, konnte es ein Tod alleine nicht mehr bewerkstelligen. Mein bescheidenes Einzugsgebiet begrenzte sich auf Hessen.

    Nervös kramte ich die Spicktafel aus dem Sack. Ich zog die Kapuze tief ins Gesicht und sprach die Worte, die ich mir im letzten Rhetorikseminar notiert hatte: »Ich bin der Tod. Ich führe dich in deinen Flur.«

    Weder der Kater, noch die Seele des Mädchens beachteten mich.

    Verdammt. Es musste also doch an meiner piepsigen Stimme liegen. Dabei hatte ich keine Kosten und Mühen gescheut, um mir ein finsteres Röhren anzutrainieren. Whiskey, selbstgedrehte Zigaretten und der Gesangsunterricht von Johnny Cash konnten dem jahrhundertelangen Lobpreisen im Engelschor scheinbar nichts entgegensetzen. Meine Stimmbänder waren wohl für immer ruiniert.

    Marlene stieg die Treppe hinauf und betrachtete ihren Körper, der verdreht in der Luft hing.

    »Au Backe, ich hoffe, das landet nicht auf Youtube.«

    Ihr Kinn klebte auf einer Stufe, während ihre Beine in die Höhe ragten und ihr Rücken sich unnatürlich über ihren Kopf verbog. Es bildeten sich oft bizarre Kunstwerke, wenn mein Kollege Andante die Uhr im Augenblick des Todes anhielt.

    Dass Haustier und Kind gleichzeitig starben, konnte nur mir passieren. Der blanke Horror. Typisch für einen Montag.

    »Ich führe dich in deinen Flur. Folge mir!«, wiederholte ich meine Forderung.

    »Was glaubst du, wo wir sind?« Marlene drehte sich um die eigene Achse und deutete mit beiden Händen in den Raum. »Das ist mein Flur, Dummerchen! Außerdem geh ich nicht mit Fremden.« Sie massierte ihren Nacken und starrte auf den Kater, der wie eingefroren an der Tapete neben einem Plattencover von Janis Joplin schwebte. »Warum tut es weh?«

    »Phantomschmerzen. Solange du dich in der Nähe deiner weltlichen Hülle aufhältst, werden sie andauern. Folge mir und du wirst nie mehr leiden!« Ich ergriff ihre Hand. Sie zog sie frech durch meine hindurch, was sich in etwa so anfühlte, wie Kreide, die über eine Tafel quietschte. Wie ich diese Kinder hasste. Sie verstanden sehr viel schneller als alte Menschen und Tiere, wozu ein Geist in der Lage war.

    »Murphy! Pfui!«, rief sie. Die Seele des Katers schmuste um meine Beine und leckte mir die Füße ab. Marlene schaute langsam an mir herauf. »Alter, bist du nackt unterm Kittel?«

    Verlegen zog ich den Gürtel etwas enger. Wenn sie wüsste, wie schwer es für einen Hochsensiblen war, sich an diese kratzige Kutte zu gewöhnen.

    »Laut Berufsgenossenschaft ist das eine zweckdienliche Bekleidung.«

    »Bin ich tot?«, fragte sie weiter.

    »Eindeutig Genickbruch.«

    »Mörder!«

    Typisch Mensch. Immer waren die anderen schuld.

    »Ich töte nicht. Ich begleite dich nur über die Brücke.«

    »Aha. Du darfst also niemanden umbringen?«

    »Nein, natürlich nicht. Damit würde ich doch gegen Paragraph 007 aus dem Gesetzbuch zum Tag des Jüngsten Gerichts, kurz GZTDJG, verstoßen.«

    »Warum bist du im Badezimmer eben vor mir geflüchtet, wenn du mich doch begleiten sollst?«, bohrte sie weiter.

    Langsam geriet ich ins Schwitzen. In der Fortbildung zum psychologischen Ersthelfer für verwirrte Seelen lehrte mich Sigmund Freud, die Wahrheit als letztes Mittel zur Vernunft einzusetzen. Ein Versuch war es wert: »Du hast mich ertappt. Ich wusste nicht, dass auch du heute dran bist. Ursprünglich wollte ich nur den Kater. Du hättest mich nicht sehen dürfen. Weißt du, ich war nicht immer der Tod. In den ersten 2000 Jahren meines Lebens war ich ein Engel und wurde darauf getrimmt, den Menschen zu erscheinen. Manchmal, wenn ich in einen Spiegel schaue, werde ich sichtbar, ohne dass ich es kontrollieren kann. Tut mir leid.«

    »Du bist sowas von erledigt«, zischte sie.

    Ihre Aura erinnerte mich an den Teufel. So viel zum Thema Wahrheit.

    »Kind, jetzt komm doch einfach mit. Dann werde ich all deine Fragen beantworten. Versprochen.«

    »Ich sollte gar nicht sterben. Du hast mich die Treppe runtergestoßen.« Sie grinste dreckig und lief um mich herum.

    »Wie bitte?« Mir wurde schlecht. Hatte ich sie vorhin berührt? Es ging alles so schnell. Vielleicht war es wirklich mein Verschulden gewesen? Panisch drehte ich die Spicktafel um und las den zweiten Vers aus dem Rhetorikseminar: »Du bist tot. Das ist der Plan Gottes. Da kann ich leider nichts machen

    Ein übler Gedanke überfiel mich: War sie etwa eine getarnte Auditorin vom Seelenüberwachungsverein? Immerhin lief die Ausschreibung zum Chief Executive Officer der vereinten Totenreiche schon eine ganze Weile. Es gab viele Bewerbungen. Gott war nicht der Entscheidungsfreudigste. So beschloss er, dem Bereichsleiter mit dem besten Auditergebnis die Stelle des CEO anzubieten. Wenn ich jetzt Mist bauen würde, könnte ich die Karriere ein für alle Mal vergessen. Also versuchte ich, ein wenig mit meinem Wissen zu glänzen, falls es tatsächlich eine Undercoverprüferin wäre.

    »Natürlich habe ich das Formular 0-8-15 ausgefüllt.« Ich wühlte im Aktensack. »Da haben wir die Auftragsbestätigung für die Abholung von Murphy. Im Vier-Augen-Prinzip von Gott und von mir unterschrieben.« Stolz hielt ich ihr die Schiefertafel vor die Nase.

    »Boah, wie Oldschool! Bist du in der Steinzeit hängengeblieben?«

    »Zwar gelten die Höhlensymbole der Altsteinzeit als Urform der Schrift, dennoch verwende ich ausschließlich das Alphabet und die neue deutsche Rechtschreibung. Die Steinplatten sind dokumentenecht und fälschungssicher.«

    »Wenn du so schlau bist, weißt du sicher auch, dass Katzen sieben Leben haben. Wie war doch gleich der Paragraph dazu?«

    Es klang plausibel. Irgendwo hatte ich das auch schon gehört.

    »Es tut mir leid, da muss ich passen. Das muss ich im Hauptregelwerk nachschlagen.«

    »Und wo, bitteschön, ist der Auftrag für meine Abholung?« Ihr Grinsen war fast schon diabolisch.

    Ich wühlte weiter in meinem Sack. Zwei Erwachsene, ein Wellensittich, fünf Hamster, drei Hunde und eine Sammelanweisung für Insekten, mehr fand ich nicht. Die Schweißperlen standen auf meiner Stirn.

    »Tja, das ist mir jetzt ein wenig peinlich. Das Dokument muss wohl bei mir im Büro liegen. Aber es nutzt dir nichts. Tot ist tot. Da gibt es kein zurück. Paragraph 739.«

    Das Mädchen lief um mich herum und zog mir die Kapuze aus dem Gesicht.

    »Schnuckelchen, du siehst ja aus wie Stefan aus Vampires Diaries. Glaube mir, nach acht Staffeln weiß ich es ganz genau, es gibt immer einen Weg zurück.«

    Ich verstand nicht, wovon sie redete. In den letzten Jahren hatte es einige gegeben, die mich Stefan Salvatore nannten und von mir verlangten, sie zu beißen und ihr Blut zu saugen. Aber ich dachte mir auch jetzt nichts weiter dabei.

    »Hat der Tod auch einen Vornamen?«

    »Mortimer.«

    »Vorschlag zur Güte, Mortimer. Ich gehe mit. Aber wenn du in deinem Büro keinen Auftrag zu meiner Abholung findest, bringst du mich und Murphy zurück. Deal?«

    Warum nur fühlte ich mich so betrogen? Es war wie damals, als ich des Teufels Vertrag zur Verwahrung von bösen Seelen unterschrieb und das Kleingedruckte zu den verfluchten Geistern der Spessarträuber übersehen hatte. Ich reichte ihr die Hand und kreuzte vorsichtshalber die Finger meiner anderen Hand hinter dem Rücken. Leider vergaß ich den überdimensionierten Spiegel, der an der Wand hinter mir hing.

    »Echt jetzt?«, ertappte mich die Göre und schlug meinen Arm weg.

    »Entschuldige. Habe wohl zu oft mit dem Teufel gehandelt.«

    Sie spuckte auf ihre Hand und hielt sie mir entgegen.

    »Bäh, muss das sein?«

    »Selbst schuld, Monk. Wirst schon nicht ’von sterben!« Sie schmunzelte fies.

    Ich schüttelte ihre triefenden Finger. Diesmal bemerkte sie nicht, dass ich meine Fußzehen kreuzte.

    Auf dem Weg

    Mortimer

    Immer wieder stolperte ich über diesen verdammten Kater. Mochte er mich etwa oder wollte er bloß Zeit schinden? Wusste er vielleicht sogar, dass Gott ein Fernsehjunkie war? Denn solange Andante die Zeit auf der Erde anhielt, wurden keine neuen Bilder auf Gottes Festplattenrekorder gespeichert. Zugegeben, eine halbe Stunde Zeitanhalten auf der Erde bedeutete für das Himmelreich bloß ein Augenzwinkern. Außerdem sah Gott immer nur in die Vergangenheit. Damit stellte man sicher, dass er nicht wieder ins irdische Geschehen eingriff. Damals, als die Videos noch eins zu eins gestreamt wurden und Gott aus lauter Zorn die Sintflut auslöste, beschwerte er sich hinterher über eine ganze Woche Werbung, weil Gevatter Tod nicht schnell genug die Seelen von der Erde aufsammeln konnte. Mit der neuen Technik gab es einen Puffer. Wenn aber zu viele Menschen auf einmal starben, und die Abholung der Seelen dann auch noch sehr lange dauerte, dann konnte es vorkommen, dass der Puffer verbraucht wurde und eine minutenlange Werbeunterbrechung über Gottes Mattscheibe flimmern würde, bis wieder ein Vorlauf von sieben Erdentage auf der Festplatte gespeichert wäre. Komplizierte Technik, die Sache mit der Zeit und dem TV. Doch für uns Totenwächter war es eine hart erkämpfte Errungenschaft, die im Manteltarifvertrag geregelt wurde. So konnten wir die Seelen nacheinander und stressfrei in ihre Flure überführen, ohne ein Burn-out zu erleiden. Werbung im göttlichen Unterhaltungsprogramm war allerdings ein Vertragsbruch. Der Allmächtige würde sofort wieder auf das Streamen umsteigen. Dies galt es tunlichst zu vermeiden.

    »Willst du einen?«

    Marlene streckte mir ein Päckchen Kaugummis entgegen.

    »Was? Du hast etwas Weltliches mitgenommen? Paragraph 337 verbietet …«

    »Warum der Sack?«, unterbrach sie mich. »Man könnte dich glatt für den Nikolaus halten.«

    »Die wichtigsten Dokumente habe ich immer griffbereit, falls ein überraschendes SÜV-Audit durchgeführt wird.« Ich zwinkerte ihr zu.

    »Was ins Auge bekommen?« Sie stopfte sich alle Kaugummis auf einmal in den Mund und schmatzte.

    Wie hatte ich nur glauben können, sie wäre eine Auditorin.

    »SÜV? Tut das weh?«, nervte sie weiter.

    »Der Seelenüberwachungsverein prüft, ob die Totenreiche die Seelen artgerecht aufbewahren und wir unsere Qualitätsziele erreichen. Dazu gehört die Minimierung der Unruhen in den Fluren, die Vorsortierung der Seelen für das Jüngste Gericht und der verantwortungsvolle Umgang mit brennbaren Ressourcen. Der Teufel bekommt jedes überschüssige Stück Holz für das Fegefeuer. Hessen-Tod ist der einzige Bezirk, der noch einen Wald hat.«

    »Klingt nach strenger Überwachung. Was passiert, wenn es keinen Abholungsauftrag für mich gibt?«

    Ich schluckte bei dem Gedanken an Paragraph 5 des Totenstrafrechtes.

    »Das wäre ein grobfahrlässiger Verstoß. Fehlt auch nur eine Unterschrift, werde ich zu den Warteschlangenmanagern versetzt. Dann hocke ich in einem fensterlosen Zimmer und nehme Gebete an. Wenn du wüsstest, was Menschen alles zwischen Lieber Gott und einem Amen quetschen. Es gab schon Engel, die sich nach zwei Tagen für die Hölle entschieden, weil sie das fromme Gezeter nicht mehr aushielten.«

    »Und wer bringt dann die Toten über die Brücke?«, löcherte sie mich weiter. »Du hast es versprochen. Ich darf alles fragen.«

    »Barbara.« Mir lief ein Schauder über den Rücken, als ich ihren Namen aussprach. »Sie sägt schon lange an meinem Stuhl. Der liebe Gott steht ganz schön unter Druck, weil der Gewerkschaftsverband Himmel und Hölle regelmäßig zum Streik aufruft. Sie fordern eine Frauenquote für die höhere Führungsebene. Barbara arbeitet ein Stockwerk tiefer. Sie foltert seit 300 Jahren die Sünder. Und es gefällt ihr. Was denkst du, wie sie mit den Seelen umspringen würde, wenn sie meinen Job bekäme? Sie wartet nur darauf, dass ich einen Fehler mache. Verstehe mich nicht falsch, ich habe wirklich ein paar sehr kompetente und nette Kolleginnen, aber Barbara ist eine Hexe.«

    Marlene

    Am Ende der Brücke begann ein Wald. Gruseliges Flüstern verteilte sich dort in den Büschen. Schatten huschten an uns vorüber. Der Boden dampfte. Je tiefer wir ins Dickicht gerieten, desto dichter wurde der Nebel am Grund. Bald konnten wir unsere Füße und Murphy nicht mehr sehen.

    Plötzlich schossen weiße Fontänen aus der Erde. Ich schrie und klammerte mich an Mortimer fest.

    Die Dampfsäulen formten Leiber. Arme, Beine und Köpfe wuchsen sekundenschnell.

    Vier Mönche und zwei Nonnen umzingelten uns. Sie flüsterten im Chor: »Verblutet! Erstickt! Verbrennt!«

    Mortimer schnaufte. »Schädel nur zum Haareschneiden, oder was? Wir sind doch schon tot! Wie oft muss ich euch das noch erklären? Ihr hattet euren Spaß. Verschwindet!«

    Sie vermischten sich mit der Luft, bis sie vollständig im Nebel vergingen.

    Unbeholfen tätschelte er meinen Kopf.

    »Das waren nur die Geister der Spessarträuber. Bedauerliche Galgenvögel! Noch nicht einmal der Teufel wollte sie. Lass uns weiter laufen. Wir sind gleich da.«

    Nach einer Weile endete der Wald. Dünen und Wiesen erstreckten sich, soweit das Auge reichte. Hier und da erkannte man Überreste von alten Hütten.

    »Darin wohnten einst die Seelen. Das war lange vor meiner Zeit als Totenwächter«, berichtete Mortimer.

    Wir liefen einen Holzsteg entlang.

    Die Sonne wärmte meinen Nacken. Die Luft schmeckte immer salziger. Meeresrauschen drang in meine Ohren. Als wir einen der größeren Hügel umrundet hatten, eröffnete sich uns der Blick auf das Meer. Der Strand war wunderschön. Es musste das Paradies sein.

    »Zuerst bringen wir Murphy zu seinem Flur«, erwähnte Mortimer nebenbei. Ein Glitzern in der Ferne lenkte mich von seinen Worten ab. Wir liefen durch den feinen Sand darauf zu. Überall lagen Muscheln und bunte Steinchen. Es erinnerte mich an die Nordseeinsel Amrum, der letzte Urlaub mit Papa. Eine Träne kullerte meine Wange hinunter. Doch dann lächelte ich. Gleich würde ich Papa wiedersehen. Soweit hatte ich noch gar nicht gedacht.

    Wir erreichten einen hölzernen Aussichtsturm. Eine Diskokugel funkelte an einem Fahnenmast in der Sonne. Sieben Türen verteilten sich um den Turm. Sie standen frei, ragten einfach so aus dem Sand heraus.

    »Hier ist Murphys Flur«, verkündete Mortimer und öffnete eine der Türen einen Spalt breit. Vorsichtig lugte er hinein. Dann schob er das Tier mit dem Fuß hindurch und drückte die Tür schnell zu.

    »Murphy?« Ich lief um den Rahmen. Mein Kater war verschwunden.

    Mortimer stand schon vor dem nächsten Tor. »Und jetzt du.«

    »Ich glaube, dir brennt der Kittel?«

    »Was? Wo?« Aufgeregt drehte er sich im Kreis und klopfte seine Kutte, als wollte er sie löschen.

    »Ich will meinen Murphy!«, schrie ich ihn an.

    Mortimer wurde ruhiger. Er legte eine Hand auf meine Schulter.

    »Kleine, das geht leider nicht.«

    Ich haute seinen Arm weg.

    »Natürlich geht das! Es ist Daddys Kater! Er will ihn sicher wiederhaben! Hol ihn da raus! Sofort!«

    »Das ist der Animals Hallway to Heaven. Er würde sich in deinem Flur nicht wohlfühlen.«

    »Was stimmt mit dir nicht? Hat man dir als Kind die Spielzeuge weggenommen? Du kannst uns doch nicht trennen! Ich will sofort zu meinem Papa.«

    »Es tut mir leid, Marlene. So sind die Regeln. Dein Papa lebt im Männerflur und du kommst in den Girls Hallway.« Er öffnete die nächste Tür und deutete auf einen lilafarbenen Vorhang. »Einfach durchschlüpfen und den Aufenthalt genießen!«

    »Nö! Da spiele ich lieber mit den Spessartgeistern!«, fauchte ich und trampelte an ihm vorbei.

    Plötzlich wirbelte er herum. Seine Kutte flatterte um mein Gesicht und mir wurde schwindelig. Ich boxte nach ihm, doch meine Fäuste trafen nur ins Leere. Er riss mich herum und drückte mich nach vorne. Mit letzter Kraft krallte ich mich am Türrahmen fest. Doch ich war zu schwach. Er schob mich durch den Eingang und die Tür fiel krachend ins Schloss.

    Wütend trommelte ich gegen das Holz.

    »Es ist doch nicht für immer«, wollte er mich besänftigen, »nur bis zum Jüngsten Gericht. In ein bis zweitausend Jahren werdet ihr euch wiedersehen.«

    »Bin sowieso nicht tot! Du wirst keine Papiere mit meinem Namen finden.«

    »Das werde ich tatsächlich nicht. Denn ich führe ein papierloses Büro. Schon vergessen? Die Dokumente sind alle in Stein gemeißelt.«

    »Denk einfach an unseren Deal!«, rief ich empört.

    »Ja, ja, natürlich. Ich werde jetzt sofort nach dem Auftrag suchen. Versprochen! Viel Vergnügen!«

    Ich stand in einem halbdunklen Raum. Vor mir wellte sich ein Vorhang bis zum Boden.

    Die sieben Flure

    Mortimer

    Die Zeit auf der Erde lief weiter. Somit wurde die Videoaufzeichnung der Lebenden fortgesetzt und die Werbeunterbrechung im göttlichen TV war abgewendet. Es tat mir fast schon ein wenig leid, dass ich die Zehen gekreuzt hatte. Irgendwie mochte ich die Kleine. Aber solche Gefühle waren ein No-Go als Totenwächter. Gleich die erste Regel im Handbuch zum Verhaltenskodex lautete: Befreunde dich nicht mit deinen Klienten!

    Jetzt schnell zum Review-Meeting. Tür Nummer eins führte direkt in mein Büro. Ich schaltete den PC an, setzte mein Headset auf und klickte auf die Skype-Besprechung in meinem Outlookkalender. Ich wunderte mich. Nur drei Teilnehmer wurden angezeigt. Gott, Gevatter Tod und ich. Wo waren meine sechstausendneunhundertneunundneunzig Kollegen? Warum sollte Gott nur mit dem hessischen Totenwächter sprechen wollen? Wusste er etwa von meinem Missgeschick mit Marlene?

    »Beginne!«, befahl der Allmächtige. Bildete ich es mir nur ein, oder vibrierte mein Stuhl?

    »Erst die Highlights? Oder die Lowlights? Ich könnte auch abwechselnd.«

    Keine Reaktion. Gott schlürfte einen Kaffee und schaute auf seinen gigantischen Fernseher, der im Hintergrund lief. Gevatter Tod war im letzten Meeting eingeschlafen und seither nicht mehr aufgewacht. Jetzt wusste ich, warum mein Stuhl vibrierte. Er schnarchte.

    »Also gut. Die Highlights.« Wochenlang hatte ich mir vorgestellt, wie ich den anderen von der erfolgreichen Umsetzung meines Verbesserungsvorschlages berichten würde. Ich hatte sogar Wetten laufen, wie lange der Applaus andauern und wie viel Dezibel er laut sein würde. Und nun hatte ich nur zwei Zuhörer. Mist!

    »Im Animals Hallway wurde der Hunger ausgestellt. Seitdem alle Tiere dieselbe Sprache sprechen, gab es keine blutrünstigen Zerfleischungen mehr.« Ich grinste stolz und wartete auf ein Kompliment.

    »Was noch?«, knurrte Gott abwesend.

    Es war einfach nicht mein Tag.

    »Der Boys Hallway wurde auf Wunsch seiner Insassen in Gamer Hallway umbenannt. Auch hier keine besonderen Vorkommnisse. Der verwunschene Wald wird von den Geistern der Spessarträuber überwacht. Falls es doch einmal flüchtige Seelen gibt, werden sie dort aufgehalten.«

    »Lowlights?«

    »Im Männerflur gab es wieder eine Rauferei, obwohl wir von Export auf frisch gezapftes Pilz umgestellt haben. Der Girls Hallway demonstrierte gegen die Farbe Rosa. Es wurde alles lila gestrichen. Für die nächsten drei Wochen dürften die Mädchen zufrieden sein. Den Frauenflur haben wir gleich komplett renoviert. Das vierte Mal in einem Monat. Die Damen sind immer noch launisch. Ich habe keine Ahnung, woran das liegt.«

    »War das alles?«, murrte der Schöpfer.

    »Auffällig ist noch, dass sich auf allen Fluren die Terminanfragen häufen. Gibt es mittlerweile einen Zeitplan für das Jüngste Gericht?«

    Gott sah das erste Mal direkt in die Kamera. Da hatte ich wohl einen wunden Punkt getroffen. Ich erschrak und rutschte vom Stuhl. Es war besser, wenn der große Chief dein Gesicht nicht kannte. Doch es nutzte nichts. Ich kroch wieder zurück. Er sah mir in die Augen.

    »Ist dir aufgefallen, dass die übrigen Seelensitter den Videocall abgesagt haben?«

    »Vielleicht«, antwortete ich kleinlaut. Innerlich platzte ich vor Wut. Auch wenn es unsere Aufgabe war, die Toten sicher zu verwahren, die Bezeichnung Seelensitter war eine Beleidigung.

    »Weißt du auch warum?«

    Ich fing an zu schwitzen. »Nein«, flüsterte ich und kniff die Augen zu.

    »HEUTE IST DAS VERDAMMTE SÜV-AUDIT!«, fuhr er mich an. Die Kapuze wehte mir vom Kopf, meine Haare flatterten im Wind seines Zornes. Ich hasste diese gefühlsechten 5D-Bildschirme.

    Gott beruhigte sich wieder.

    »Die Prüfer vom Seelenüberwachungsverein achten auf eine lückenlose Dokumentation der Abholungen, aktuelle Schulungspläne und regelmäßige Sicherheitsunterweisungen. Zur Not hilft ein prächtiges Bestechungsgeschenk. Ich will nicht, dass Barbara CEO wird. Beeindrucke die Auditoren, sonst blüht dir das Warteschlangenmanagement.«

    Marlene

    So, genug Drama veranstaltet. Natürlich hatte ich seine gekreuzten Zehen bemerkt. Bin ja nicht bescheuert. Der theatralische Auftritt war nur ein Ablenkungsmanöver, um meinen Kaugummi geschickt in die Aussparung des Schließbleches zu kleben. So konnte der Riegel nicht einschnappen. Nach fünf Staffeln Prison Break war dieser Ausbruch hier lächerlich.

    Ich tippte die Tür an. Voila, offen.

    Trotzdem interessierte es mich brennend, was sich hinter dem Vorhang verbarg. Ich schob ihn beiseite. Mir blieb die Luft weg.

    Alles war lila. Es schmerzte schon fast in den Augen. Auf dem Teppich, an den Wänden und sogar an der Decke waren Prinzessinnen und Einhörner abgebildet. Es war der längste Schönheitssalon, den ich je gesehen hatte. Die Mädchen saßen Stuhl an Stuhl vor ihren Spiegeln, ließen sich schminken, frisieren und die Fingernägel modellieren. Ab und zu quakten sie in ihre Smartphones.

    »Es ist die Hölle!«, sagte das erste Mädchen, als sie mich im Spiegel entdeckte. »Die Jungs haben es gut. Sie dürfen den ganzen Tag zocken. Ganz hinten ist noch ein Platz frei. Falls die anderen rumzicken, bestelle ihnen, dass Lisa dich mag.«

    »Danke. Aber ich werde nicht hierbleiben. Die Tür ist offen. Wenn du willst, besuchen wir die Jungs«, schlug ich vor.

    Sie sprang von ihrem Stuhl. Das Glätteisen fiel zu Boden und versengte den flauschigen Teppich.

    »Ohne Mist?«

    Ich nickte und lächelte sie an.

    Sofort tippte sie wild auf ihrem Smartphone herum. Nach und nach hüpften die Mädchen von ihren Sesseln. Das Geräusch der Föhne wurde vom Jubelgeschrei übertönt. Wie eine Herde kaufsüchtiger Schnäppchenjägerinnen bei Neueröffnung eines Outlets stürmten sie auf mich zu. Ich riss den Vorhang von der Stange und genoss es, die Girlies in die Freiheit zu entlassen.

    Die Türen waren nicht beschriftet und sahen alle gleich aus. Ich öffnete die, die neben dem Girlsfloor aus dem Sand ragte. Die Gruppe hinter mir wartete gespannt.

    »Lisa, hilf mir. Der Vorhang muss runter.«

    Gesagt, getan.

    Vor uns lag ein Dschungel. Ein Löwe erschien aus dem Dickicht am Eingang. Er tappte auf uns zu. Die Mädchen kreischten.

    »Kopf nur zum Haareschneiden? Cool bleiben! Wir sind doch schon tot«, erinnerte ich sie.

    Der Löwe stand direkt vor mir. Er hob seine mächtigen Pranken auf meine Schultern. Ich griff in die Mähne und kraulte ihn. Das Tier verdrehte die Augen.

    »Oh, ja, so ist es gut, weiter rechts, nein, das andere rechts, ja da!« Er schnurrte wie ein Kätzchen.

    »Du kannst reden?«

    »Wir alle können das.«

    Lisa quietschte: »Zottel!«

    Tränen standen ihr in den Augen, als sie ihr Meerschweinchen vom Boden aufsammelte und es sie fragte: »Hast du Drops dabei?«

    »Murphy!«, rief ich jetzt wieder und wieder und lief immer weiter ins Gebüsch hinein. Auch die anderen stürzten in den Flur und suchten nach ihren Haustieren, während die Wildtiere nach draußen wanderten und sich am Strand verteilten.

    Ich traute meinen Augen nicht. Murphy kroch unter einer Hecke hervor. Mein Meerschweinchen Peppels, mein Hamster Charly, meine Wellensittiche Max und Moritz und meine Nymphensittiche Rocky und Tweety folgten ihm.

    »Marlene! Bist du bekloppt?«, begrüßte mich der Kater.

    Ich ging in die Hocke und knuddelte ihn.

    »Den Löwen kraulen? Es gibt hier nur eine Raubkatze, die du verwöhnen darfst!«

    Seine Kleintiergang fing an zu singen: » … ein Kater Murphy! Es gibt nur ein Kater Murphy. Ein Kaaaater Muuuurphy! Es gibt nur ein Kater Muuuurphy …«

    »Verzeih! Kommt

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