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Im Kokon: Erzählung
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eBook189 Seiten3 Stunden

Im Kokon: Erzählung

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Über dieses E-Book

"Es war wie bei einem Schmetterling. Zuerst die widerliche Raupe, die nur den ganzen Tag frisst und verdrießlich dreinschaut. Dann der Kokon, der wundersame Verwandlungsschlaf. Und erst am Ende, nach langer geheimer Vorbereitung, der Schmetterling, der den Kokon durchbricht, seine schillernden Flügel öffnet und zum Flug ansetzt." Selma Mahlknechts freche Protagonistin legt sich diesen fabelhaften Vergleich zurecht und ist mächtig stolz darauf, dass er ihr ganz allein eingefallen ist. Sie ist keine Stubenhockerin, es zieht sie in den Wald, wenn sie Vergangenes atmen oder ihre Lebensträume um die angehimmelte Märchenvorleserin Nelly und den Schulfreund Holger in Bäume hängen will. In Andeutungen werden verschiedene Varianten und Spielarten von Wirklichkeit zu einem Kokon verdichtet, werden die Möglichkeiten, die wir haben, durchgespielt. "Im Kokon" ist eine Adoleszenzgeschichte, witzig, sprühend und charmant.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum29. Aug. 2016
ISBN9788872835838
Im Kokon: Erzählung
Autor

Selma Mahlknecht

Geboren 1979 in Meran. Studium Drehbuch und Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Lebt als Schriftstellerin, Dramatikerin, Regisseurin in der Schweiz. „Berg and Breakfast – Ein Panorama der touristischen Sehnsüchte und Ernüchterungen“ (2021). „Das Weihnachtskänguru“ (2017). „Luba und andere Kleinigkeiten. Roman“ (2016). „Auf der Lebkuchenstraße. Heiter bis wolkig durch die Weihnachtszeit“ (2013). „Helena. Roman“ (2010) ausgezeichnet mit dem Sir-Walter-Scott-Preis. „Es ist nichts geschehen. Roman“ (2009), übersetzt ins Schwedische. „Im Kokon. Erzählung“ (2007). „rosa leben. Prosa“ (2004) und „Ausgebrochen. Erzählungen“ (2003).

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    Buchvorschau

    Im Kokon - Selma Mahlknecht

    info@raetia.com

    Als ich die Stimme zum ersten Mal hörte, hatte ich mir gerade im Gedörn den Oberarm geritzt. Ich war ins niedere Gesträuch, das ein Fichtenwäldchen umgab, gekrochen, um Pilze zu finden oder einen Fuchsbau oder wenigstens eine Maus, und nun rannen mir dünne Blutfäden den Ellbogen hinunter. Ich rieb die Wunde mit speichelverklebten Fingern und spähte schon wieder, wie ich sonst in das Wäldchen hineinkäme, als ich sie hörte. Sehr entfernt, aber doch nicht dumpf, sondern fast singend, drang sie durch das Dickicht, und ich hätte sie nicht bemerkt, hätte ich nicht diesen einen Moment innegehalten. Eine einsame Stimme im Wald, geheimnisvoll wie eine leuchtende Blume im Unterholz. Einen Augenblick lang dachte ich an Rapunzel und Jorinde und Joringel, die Märchen, die ich liebte, weil sie vom Alleinsein erzählten, aber dann fiel mir ein, dass eine Stimme niemals einsam war, eine Stimme zumal, die redete, redete!, eine Tätigkeit, die Zuhörer erfordert, und diese Stimme redete, das war unverkennbar. Eindringlich und fließend schwamm sie bis zu mir, ein erzählender Klang ohne Worte. Ich blies die kleinen Spinnen, die über mein Hemd liefen, fort und strich mein Haar aus dem Gesicht. Obwohl es mich kaum noch reizte, folgte ich der Stimme. Menschen, die sich unterhalten. So etwas hatte mich nie interessiert. Wenn meine Mutter mich zum Einkaufen mitgenommen hatte und plötzlich mit einer Freundin dastand und nicht mehr zu reden aufhörte, riss ich wütend an ihrem Arm, plärrte zornig in das Gespräch, stampfte mit dem Fuß. Nie war mir der Gedanke gekommen zuzuhören. Warum ich also hinging – ich weiß es nicht.

    Als ich mich so weit genähert hatte, dass man bereits einzelne Sätze verstehen konnte, erkannte ich, dass ich im verwilderten Garten der Villa Neuwirth stand. Dieses Haus war seit Jahren unbewohnt, und ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals Menschen dort gesehen zu haben. Nicht einmal Kinder waren hierher zum Spielen gekommen, weil dem Ort jeder Charme fehlte, nichts Überwuchertes, Verwittertes oder Unheimliches hing ihm an, es war einfach nur ein vergessenes Haus mit grauen Mauern, abgeschotteten Türen und Fenstern und viel, viel Unkraut drumherum. Schon der Name war unromantisch und banal, Neuwirth hießen viele in unserer Stadt, und keine der Wahrheiten über dieses Haus faszinierte mich.

    Ich besorgte mir nämlich von allem zwei Wahrheiten, von denen eine meist die gängige, die andere eher abwegig war, und weil ich mit beiden nie recht zufrieden sein konnte, legte ich mir noch eine dritte für mich selbst zurecht. Natürlich behielt ich es mir vor, keine dieser Wahrheiten zu glauben und noch eine vierte, höhere zu vermuten, die jedoch niemals von irgendwem entschlüsselt werden würde. Im Falle der Villa Neuwirth aber war jede meiner Wahrheiten enttäuschend, zuallererst natürlich die gängige, die ja so gut wie immer enttäuschend war, und der zufolge die Villa früher ein Jagdhaus gewesen war, karg eingerichtet und feucht, ohne Elektrizität und Wasser und daher nur während der Saison zu gebrauchen und irgendwann nicht einmal mehr das. Die zweite Wahrheit, die ich von Karla Neuwirth hatte, welche aufgrund ihrer Namensgleichheit besondere Glaubwürdigkeit auszustrahlen vermeinte, berichtete von einer tragischen Liebesgeschichte mit heimlicher Heirat, bitterer Armut und Doppelselbstmord. Diese Version mochte für die anderen in meiner Klasse gänsehautträchtig sein, mich ließ sie kalt, vor allem, weil ich nicht einsah, warum man ein Haus so lange leer stehen lassen sollte, nur, weil sich dort welche umgebracht hatten. Was für eine Verschwendung.

    Mir selbst allerdings war auch nichts Besseres eingefallen. Ich hatte mich zwar eine Zeitlang darauf verlegt, dass in dem Haus wahrscheinlich chemische Waffen aus dem Ersten Weltkrieg gelagert wurden, aber besonders glaubwürdig war das auch nicht. Am Ende hatte es mich nicht mehr interessiert, und als ich nun davor stand und die Stimme aus dem Haus dringen hörte, empfand ich nur einen ungeduldigen Ärger.

    Es mag eigenartig scheinen, dass mich die Tatsache, dass die Villa Neuwirth nicht mehr leer stand, verstimmte. Es hätte mir egal sein können, aber ich empfand ganz deutlich, dass meine Wirklichkeit einen Teil ihrer Gültigkeit eingebüßt hatte. Ich mochte keine Veränderungen, liebte vielmehr die Gleichförmigkeit, das Vorhersehbare, Feststehende, und in der Geradlinigkeit meines Daseins ertrug ich nur sehr sanfte und schonungsvolle Wendungen. Jetzt aber starrte ich auf die grauen Wände der Villa Neuwirth, und für ein Weiterführen meines bisherigen Lebens war es zu spät. Ich erkannte, dass die Stimme jene einer Frau war, einer noch jungen Frau, einer Frau, die etwas erzählte, nein, etwas las, die Stimme einer jungen Frau, die jemandem etwas vorlas, jetzt hatte ich es begriffen. Ich konnte mich nicht rühren, aus Angst, durch eine unbedachte Bewegung die leisen Worte zu übertönen, und ich wollte doch die Geschichte hören, von der ich nichts verstand. So erstarrte ich für Minuten und wagte kaum zu atmen. Dann endlich sagte die Stimme: „Das war doch eine schöne Geschichte, nicht wahr? Jetzt schlaf schön. Gute Nacht, mein Schatz!" Und es war still.

    Ich blieb noch eine Weile im Garten, strich fast lautlos um das Haus, aber ich konnte nichts herausfinden, außer, dass die Fensterläden nicht mehr verrammelt, sondern gegen die Hitze nur noch leicht angelehnt waren, und dass das kleine Gartentor frei von Efeu und wilden Wicken sich wieder schließen ließ.

    Auf dem Heimweg sang es in mir „Gute Nacht, mein Schatz! Gute Nacht, mein Schatz!", und erst, als ich wieder in der Stadt war und die Turmuhr schlug, wurde mir klar, dass es gar nicht Nacht war, sondern acht Uhr abends, keine Zeit zum Schlafen, schon gar nicht im Sommer, wenn es noch hell und heiß war und die Kühle erst langsam herankroch.

    Das Abendessen stand schon auf dem Tisch, Vater las die Zeitung, Mutter erwischte mich beim Hemdkragen und klopfte mir tadelnd den Rücken ab, „alles voll Spinnweben und Tannennadeln, Kind, wo treibst du dich rum, und Yannick, der doch eigentlich zu alt dafür war, spielte mit dem Kartoffelbrei. „Wo ist Heide?, lenkte ich ab, obwohl es mich nicht interessierte, und während Mutter etwas von Sophias Geburtstagsfeier murmelte, nahm ich mir Würstchen und griff nach dem Senf.

    Wir waren zu dritt, Heide, Yannick und ich, und ich war genau in der Mitte. Man hätte das für ein Zeichen nehmen können, aber bei dreien ist alles ein Zeichen, und das Einzige, was es bewirkte, war, dass wir aufeinander wütend waren. Heide war wütend, weil sie die Älteste war, mit zwei kleinen Bremsklötzen belastet, wie sie es nannte. Yannick war wütend, weil er der Jüngste war, von zwei älteren Schwestern bevormundet als einziger Junge. Ich war wütend, weil ich von zwei Seiten bedrängt wurde und für die eine noch zu jung und für die andere schon zu alt war. Bei dreien gibt es keinen Ausweg, und unsere Wut aufeinander war umso hilfloser und erbitterter, je mehr wir das erkannten.

    „Iss doch auch ein bisschen Salat, sagte Mutter. Vater legte die Zeitung weg und nahm sich noch, bis die Schüssel leer war. „Nicht du, sagte Mutter. Vater zwinkerte mir zu. Yannick hatte sich ein Kartoffelbreigebirge gebaut, durch das er Soßenbäche lenkte. „Aufessen, sagte Mutter. Yannick flog mit dem Löffel Kreise über dem Teller und machte dabei „Niiiiiauuu. Mrrrmmmmm. „Essen, sagte Mutter. Ich tauchte mein Würstchen tief in den Senf und dachte „niiiiauuu, als ich es zum Mund führte. Ich aß auf, nahm meinen Teller, räumte ihn in die Spülmaschine und ging, ehe Mutters Stimme gereizter wurde und Yannick, der doch eigentlich zu alt dafür war, zu weinen anfing.

    Am nächsten Tag belegte ich drei Semmeln fingerdick mit Wurst und Käse, warf sie zusammen mit zwei Birnen zu meinem Mickey-Maus-Feldstecher in den Rucksack und fuhr ohne Umwege zur Neuwirth-Villa. Ich hatte eine kleine Anhöhe ausgemacht, von der aus ich das Haus beobachten konnte. Ich legte mich bäuchlings auf den Boden, stützte die Ellenbogen auf und wartete. Als ich bereits zwei Brote und eine Birne gegessen hatte und mein Wasserfläschchen leer war, ging die Tür auf. Im selben Augenblick rutschte ich einen Meter nach hinten, tiefer in das Gestrüpp hinein, und lauschte mit klopfendem Herzen. Ich wagte es nicht hinzusehen, das Blut raste in meinem Schädel, ich fühlte mich ertappt und bedroht. Die Frau machte ein paar Schritte in den Garten hinaus, summte vor sich hin. Irgendwann kehrte sie wieder um, die Tür klappte ins Schloss. Ich atmete auf, robbte nach vorn, griff mir den Feldstecher. Es war nichts mehr zu sehen. Ich nahm mein letztes Brot und beschloss, dass es besser so war. Wenn ich sie gesehen hätte, wäre ich enttäuscht gewesen, ganz bestimmt, und mit jedem Bissen überzeugte ich mich mehr davon. Dann schaute ich auf die Uhr. Viertel vor sieben. Ein halber Nachmittag für nichts verplempert. Ich setzte mich auf. Mein Hemd war völlig verdreckt, und ich hörte schon Mutter schimpfen. Also blieb ich noch ein Weilchen sitzen, popelte ein bisschen in der Nase und kratzte mir den Schorf von den verschiedenen Wunden, die ich an Armen und Beinen so hatte. Und dann begann die Frau wieder vorzulesen. Ich hatte es nicht erwartet, und jetzt war ich zu weit weg, um wirklich gut zuhören zu können. Nur verwehte Wortfetzen drangen zu meinem Beobachtungsposten. Ich rutschte den kleinen Abhang hinunter, näher zum Haus hin, bis ich verstehen konnte, was sie las. Ich hatte den Anfang verpasst, und zunächst fand ich mich nicht in die Geschichte hinein. Dann aber wurde sie langsam lebendig, ein Prinz trat aus dem Gewirr der Worte heraus mit seidener Hose und schimmernder Weste, er trug einen Turban über seinem kohlschwarzen Schopf und ritt auf einer gewaltigen Eidechse, die smaragdfarben und schillernd war wie jene, die ich manchmal einfing und in Gläser sperrte. Mit ihr durchmaß er weite Länder, immer auf der Suche nach ihr – ich stellte mir vor, dass es natürlich um eine Prinzessin ging. Aber „sie war keine Prinzessin, „sie war eine kleine Truhe, in welcher der Vater des Prinzen den Stein der Weisen versteckt hatte, und der Prinz, der nur König werden konnte, wenn er wahrhafte Weisheit erlangt hatte, musste unzählige Abenteuer bestehen, um sie zu erreichen. Ich war enttäuscht und noch enttäuschter, als sich am Ende des beschwerlichen Weges herausstellte, dass der Stein der Weisen gar kein Stein war, sondern ein kleiner Same, wie sie zu Hunderten in den Speichern des Königs lagerten. Der Prinz aber, der eine so weite Reise nur für einen Samen gemacht hatte, war nicht verbittert. Er kehrte zu seiner Eidechse zurück, streichelte ihre Haut und sprach: „Lass uns nach Hause zurückkehren. Seine Gefährten, die er unterwegs kennengelernt hatte und die mit ihm mitgekommen waren, fragten ihn, warum er die Truhe nicht mitnahm. „Ich könnte sie freilich mitnehmen, antwortete der Prinz. „Es würde aber nichts nützen. Nicht die Truhe hat mir zu Weisheit verholfen, sondern die Reise dorthin." Und so kehrte er zurück und heiratete ein Bauernmädchen, das ihm auf dem Weg begegnet war, und er regierte viele Jahre weise und umsichtig.

    „Das war doch eine schöne Geschichte, nicht wahr? Jetzt schlaf schön. Gute Nacht, mein Schatz!"

    Ich sprang zornig auf. Das sollte es gewesen sein? Ein lächerliches Märchen mit einem noch lächerlicheren Schluss, erzählt wahrscheinlich für ein Kleinkind, das noch nicht sprechen konnte? Ich schnaubte und spuckte verächtlich aus. Ein Teil meiner Abscheu betraf dabei mich selbst. Ich hatte viel zu viel Zeit für diesen Blödsinn vergeudet. Das sollte mir eine Lehre sein. Nie wieder würde ich hierher kommen. Ich war eindeutig zu alt für solchen Kram.

    Aus heutiger Sicht gibt es durchaus Erklärungen dafür, warum ich in den folgenden Tagen und Wochen wie besessen zu dem Haus hinlief, Abend für Abend, teilweise noch atemlos dort anlangte und mich ins Gras warf, mich irgendwann sogar bis unter das Fensterbrett hinwagte und dann dasaß, andächtig darauf wartend, dass pünktlich um sieben die Geschichte vorgelesen würde. Alles andere ließ ich sausen, und wenn es der sichere Sieg in einem Spiel war. Damals begriff ich den Grund nicht, wollte auch nicht darüber nachdenken. Es blieb einfach dabei: Was immer ich auch sonst gerade tat – kurz vor sieben brach ich ab, packte meine Sachen und fuhr los. Dabei erzählte ich keinem, wo es hinging. Es war mein Geheimnis, und ich trug es voll Stolz. Ich saß unter dem Fensterbrett, lauschte der Stimme, folgte ihr in fremde Länder, in Wolkenburgen oder unter das Meer, und ich zitterte mit den Helden und war wütend mit ihnen, und manchmal rannen mir nur ganz leise Tränen aus den Augen, wenn die Geschichte

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