Die Odyssee der Vergessenen: Roman
Von Khalil Diallo
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Über dieses E-Book
Auf einer gnadenlosen und intensiven Odyssee zwischen der Westküste Afrikas und dem Mittelmeer erzählt Khalil Diallo die Geschichte von Sembouyane und seinem Freund Idy, die fliehen, nachdem ihr Dorf von Milizen überfallen wurde, und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern und nimmt uns mit in den Strom der Tausenden von Migrierenden, die, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Wüste durchqueren, um ans Meer und an eine Überfahrt nach Europa zu gelangen.
Nichts wird ihnen erspart bleiben, aber trotz der Enttäuschungen und des Leids werden sie nicht aufhören, zu träumen und für ihr unveräußerliches und universelles Recht auf Würde zu kämpfen.
Der Roman zeichnet in poetischer Sprache ein kompromissloses Bild Afrikas im 21. Jahrhundert und der Lebensrealitäten vieler Migrantinnen und Migranten nach und macht sie dabei in ihrer Individualität, mit ihren Hoffnungen und Ängsten sichtbar. Ein kompromissloser Roman über Freundschaft, Solidarität und Erinnerung.
Khalil Diallo
Khalil Diallo, geb. 1992, ist einer der vielversprechendsten jungen Schriftsteller des afrika- nischen Kontinents. Er wurde in Mauretanien geboren und lebt in Dakar. Nachdem er Finalist des Prix Orange du livre en Afrique 2019, des Prix Kourouma 2019 und des Prix Ivoire 2019 war, wurde er Preisträger des Prix Ahmed Baba 2021 und Finalist des Prix Kourouma 2021. »Die Odyssee der Vergessenen« ist Diallos zweiter Roman.
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Buchvorschau
Die Odyssee der Vergessenen - Khalil Diallo
Das Leben ist eine Qual. Ein Exil. Der Mensch ist verirrter Sternenstaub. Er handelt nie. Das übernehmen die Geister für ihn. Alles, was er in seinem Dasein erlebt, wurde nach unserem Glauben schon lange vor seiner Geburt festgelegt.
Wenn die Menschen geboren werden, steht ihr Leben im Wesentlichen schon irgendwo geschrieben – über ihren Köpfen vielleicht oder auf unsichtbaren Tafeln, die die Geister verwahren. Die Legende lässt keinen Zweifel zu: Unser Schicksal ist durch den Ort, die Umstände, die Uhrzeit der Geburt und unseren Vornamen bereits vorbestimmt.
Das meine bildete da keine Ausnahme. Ich wurde in einem Dorf in Westafrika geboren, das Malaimé, Ungeliebt, heißt, in einer Faniké-Nacht. Obgleich während dieser uralten Zeremonie, die die Beschneidung beschließt, der Sage unserer Ahnen nach niemand geboren wird.
Am Tag meiner Geburt heulte der Himmel so schrecklich, dass es ihm beinahe die Stimmbänder zerriss. Die Luft war schwül. Im ganzen Land nur Angst, Schrecken und entfesselte Natur. Der Guru, der hergekommen war, um meine Geburt zu feiern und meinen Vornamen zu verkünden, sprach am nächsten Tag einige Beschwörungsformeln, die nur die Eingeweihten kennen, und sagte dann meinen Namen, den mein Vater nach einer Beratung mit den Medizinmännern des Dorfes ausgesucht hatte, in jedes meiner Ohren. Ich erhielt den Namen Sembouyane: »Der, den niemand haben will«. So schlugen sie dem Fluch ein Schnippchen und retteten mich vor dem Zorn der bösen Geister und dem Appetit der zahlreichen Säuglingsfresser in Malaimé, das mitten in dem kleinen Land Forédougou liegt – was »das Land des Waldes« bedeutet. Diese nicht einmal einen Kilometer lange Enklave zwischen dem Senegal und Guinea ist ganz von Wald umschlossen und hat sonst keine anderen Ressourcen.
Einige Jahre zuvor hatte man das gesamte Gleichgewicht der Region leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Der Dorfälteste und die Medizinmänner in seinem Gefolge hatten unsere Schutzgeister herausgefordert, indem sie die ihnen zugedachten Opfergaben verringerten. Seither haben die Geister sich von uns abgewendet, und der Krieg hat sich in den Herzen der Menschen eingenistet.
Forédougou ist ein rechtsfreier Raum geworden. Ein gespaltenes Land. Der Süden, zu dem die Gegend gehört, in der wir leben, wird von den Anhängern des Lagers kontrolliert, das seit über zwanzig Jahren an der Macht ist, während der Norden von den Nationalisten besetzt ist, einer Bande von Söldnern, die größtenteils vorbestraft sind. Die einen vergewaltigen, töten und berauben die Bevölkerung hemmungslos, und die anderen schließen Abkommen mit ihnen und füllen sich so einfach nur die Taschen. Alle, die – wie mein Onkel und vor ihm schon sein Vater – einen Waffenstillstand oder ein baldiges Ende des Konflikts erwartet hatten, sind inzwischen unter der Erde.
Ich war gerade fünfzehn geworden, als sich die Lage noch verschlimmerte. Die Dürre und ein Buschfeuer verwüsteten den ganzen Wald und vernichteten unsere sämtlichen Lebensmittel. Unsere Umgebung hat sich völlig verändert. Und nun kommen wir überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Von morgens bis abends rattern automatische Gewehre, donnern Explosionen und krachen Granaten.
Unser Land ist zu einem Wartesaal geworden, der direkt in die Hölle führt, zu einem Ort, vor dem das Fegefeuer erbleicht. Die Hauptstraße ist voller ausgemergelter Tiere, verwesender Kadaver, Bettler, Leprakranker und Einarmiger, Minenopfer liegen mit ihren bloßen Stümpfen auf dem nackten Boden, sie fressen Staub, stöhnen, schreien, flehen und hoffen, dass ihnen ein Passant, der Himmel oder irgendein Messias wenigstens einen Tropfen Wasser und einen Bissen Hirse schenkt. Mangels medizinischer Hilfe und einer Lebensmittelversorgung warten alle im Dorf nur noch auf den erlösenden Tod.
Auch der Natur ist großes Leid widerfahren. Sie wurde ihrer Fauna beraubt, ist zum bloßen Schlachtfeld degradiert worden, und jedes Fleckchen Erde ähnelt einem Grab. Die Medien des Kontinents und Radio France Internationale berichten über die sogenannte Lage vor Ort und die Zahlen des Konflikts. Für die internationale Öffentlichkeit sind wir nur noch Statistiken.
Zum Glück steht mir in dieser schwierigen Zeit Großvater zur Seite. Wenn ich nicht gerade den Borstenhörnchen Fallen stelle oder mit Idy auf Stachelschweinjagd bin, verbringe ich ganze Vormittage auf einem seiner Äste. Großvater ist ein Kapokbaum, der größte Baum im Wald. Die Seelen meiner Ahnen haben bei ihm Zuflucht vor den maurischen und europäischen Sklavenhändlern gefunden. Ich spreche in meiner Sprache mit ihm, und er antwortet mir mit der Stimme der Weisen. Jeden Abend bei Sonnenuntergang plaudere ich mit ihm, ohne dass uns irgendjemand hört. Wir haben Geheimnisse miteinander. Er lehrt mich Geduld, und ich amüsiere ihn mit meiner Naivität.
Großvater spricht von Paris, der Stadt, in der so viele Schriftsteller gelebt haben, und erzählt mir Geschichten aus Romanen, die er als »Klassiker« bezeichnet. Durch ihn lerne ich die Literatur kennen.
Dabei wurzelt er schon seit Jahrhunderten unter unserem Himmel und hat sich nie aus diesem Wald, in dem ich ihn jeden Tag treffe, weggerührt. Und doch preist gerade er mir die Vorzüge des Reisens. Durch seine Freundschaft mit dem Wind, den Zugvögeln und den Meeresströmungen weiß er viele Dinge und lehrt sie mich. Er bringt mir die Toleranz nahe und mahnt mich, immer daran zu denken, dass die Menschen einander nicht hassen – es fällt ihnen nur schwer, einander zu verstehen.
Die einzigen Momente, in denen ich Zärtlichkeit erlebe, wenn ich nicht bei Großvater bin, sind die Augenblicke, in denen ich Diary zum Lächeln bringe. Sie ist die älteste Tochter des besten Freundes meines Vaters. Unsere Concessions sind weit voneinander entfernt, aber unsere Felder liegen nebeneinander und unsere Eltern pflegen gute Beziehungen.
Ich hatte ihren Gazellenschritt und ihren Heidelbeerteint zum ersten Mal vom Wipfel meines Kapokbaums aus bemerkt. Wenn ich sie sehe, sind alle meine Sorgen verschwunden. Wenn ich ihre Hände oder irgendeinen Teil ihres Körpers auch nur streife, fängt mein Herz schon an zu rasen. Am Anfang grüßten wir uns nur, dann lernten wir, gemeinsam zu lachen, wurden immer vertrauter miteinander, und mit den Jahren wurden wir schließlich unzertrennlich.
Unsere gemeinsamen Tage verbringen wir immer auf dieselbe Weise. Wir machen lange Waldspaziergänge, bei denen wir zusammen singen, und manchmal bringt sie mir ein Kinderlied bei: Das berühmte Fatou yo, das die jungen Mädchen abends am Feuer trällern. Und wenn wir gemeinsam arbeiten, stimmen wir es an:
»Fatou yo si dia dialano Fatou faye faye Fatou Fatou kélémen dio … . Ich bin Fatou, die hübsche Fatou, Fatou oh, oh Fatou, wie alle Kinder auf der Welt.«
Diary ist in meinem armseligen Dasein ein offenes Buch, sie ist mein Lieblingsroman, die Abhandlung über Literatur, die ich unermüdlich studiere, die Geschichte, die mir am meisten bedeutet, die Erzählung, die meine Erwartungen immer wieder übertrifft.
Dieses Jahr werde ich zweiundzwanzig. Wir schreiben das Jahr 2013.
Mitten im bewaffneten Konflikt hatten die Weisen unseres Dorfes alle denselben Traum. Sie haben das heilige Feuer gesehen, das nach dem von Generation zu Generation weitergegebenen Wissen den Initiationsritus ankündigt.
Bei der Initiationszeremonie finden wir uns im Herzen des Waldes, fern aller neugierigen Blicke, mit den Geistern zusammen. Zwischen zwei Zeremonien können Jahre vergehen, manchmal sogar Jahrzehnte. Bei ihnen übergibt eine Generation gewissermaßen die Führung an die nächste, und die Zeremonien finden erst statt, wenn unsere Ahnen beschlossen haben, dass die Jungen nun bereit sind, sich den Titel des Mannes zu erwerben.
Am Tag vor meinem Aufbruch in den Wald sammelte ich mich mit Großvater, um den Mut zu finden, die bevorstehenden Prüfungen klaglos zu ertragen. Dann zog ich mich in meine kleine Hütte am Rand der väterlichen Concession zurück, wo ich aber keinen Schlaf fand. Ich dachte an meine Zukunft, an die Aussicht auf eine baldige Heirat mit Diary, an unser zukünftiges Leben, das wir uns fern von Malaimé und seinen Begehrlichkeiten, seinen Konflikten und seiner Instabilität gemeinsam aufbauen würden.
Dort drüben, jenseits der Sahara und des Mittelmeers, wäre alles so einfach …
Ich bin in meine Träumereien versunken, als es zaghaft an der Tür klopft. Eine Frauenstimme erhellt den Raum. Über meinem Bett aus getrocknetem Laub sehe ich meine Gazelle stehen. Es ist kein Traum, sie ist wirklich da. Der Duft von Amber und Weihrauch weht mit der frischen Brise in die Hütte.
»Du wirst mich doch wohl nicht hier auf der Schwelle stehen lassen?«
Alles an ihr ist anders.
»Entschuldige, komm herein. Ich bin nur überrascht, dich um diese Zeit hier zu sehen.«
Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden.
»Ich bin gekommen, um dir ein Geschenk zu machen, bevor du in den Wald gehst. Es soll dir Kraft verleihen und dabei helfen, die Schwierigkeiten bei der Initiation zu überwinden.«
Ganz unvermittelt kommt sie auf mich zu, umschlingt meine Taille und lässt ihre schlanken Finger über meinen Körper gleiten. Ich streichle ihr Gesicht, und ihre Lippen nähern sich bebend. Ich erwidere ihren Kuss, so gut ich kann. Sie führt meine Hand zu ihrer Taille und nimmt den Pagne ab, der ihre Nacktheit verbirgt. Unsere Körper umschlingen einander, als wäre diese Nacht die letzte.
Als sie bei Tagesanbruch mit den ersten zaghaften Strahlen der aufgehenden Sonne fortging und zur Hütte ihrer Mutter zurückkehrte, war ich nicht mehr derselbe. Die ganze Welt um mich herum erschien mir völlig neu. Benommen und müde, aber leicht wie die Brise, die wie ich den Duft der Liebe verströmte, war ich zum Mann geworden – und das noch vor meiner Initiation. Die Sonne und die Rufe der Vögel schienen mir eine schöne Zukunft zu wünschen. Diary hatte mir das Kostbarste