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UHURU: Die Kilometermacher
UHURU: Die Kilometermacher
UHURU: Die Kilometermacher
eBook892 Seiten12 Stunden

UHURU: Die Kilometermacher

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Über dieses E-Book

Oktober 1989. Eine Gruppe ÖsterreicherInnen zwischen 19 und 70 Jahren findet sich in einem ehemaligen Schlachthofgelände in Wien ein, um eine viermonatige Reise anzutreten: per LKW durch Afrika. Damals waren organisierte Overlandreisen durch den Schwarzen Kontinent noch nicht "modern", und es gab kaum Veranstalter. (Später wurden sie modern, aber nicht für lange, weil viele Länder aus politischen Gründen unpassierbar wurden. Und heute, 2017, kann man durch Afrika nicht mehr so reisen, wie damals, und genau das macht diese wahre Geschichte so wertvoll: Sie ist ein Zeitzeugnis, doch unwiederholbar.)
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Jan. 2017
ISBN9783738098303
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    Buchvorschau

    UHURU - Jo Danieli

    Vorwort

    Afrika macht traurig. Dann nämlich, wenn man verliebt daraus zurückgekehrt ist. Damit ist nicht der Safari-Tourist gemeint, der kam, um auch einmal in seinem Leben Löwen, Giraffen und Zebras in natura zu fotografieren und mit plötzlicher Vorliebe für Großwild zu Hund und Katz’ nach Hause fuhr. Auch schwarzgebrannte Sonnenurlauber mit Flirt-Nostalgie im Herzen sind nicht gemeint. Ebensowenig Historienfreaks oder Sex-Touristen, die als weiße Genießer tiefe Eindrücke mit sich genommen wie auch hinterlassen haben.

    Verliebt in Afrika zu sein, ist schmerzhafter als all das. Aber es ist auch unvergleichlich süßer. Denn die Erinnerung wartet zu allen Zeiten, an allen Orten im Heimatland oder anderswo mit winzigen Nadelstichen in Form bunter Bilder auf. Sie peinigt die Vernunft mit Sehnsucht nach der Luft, dem Licht, dem warmen oder feuchten Boden im Schwarzen Kontinent. Sie quält mit aufsteigendem Verlangen, den Blick wieder über endlose sandige Ödländer, dampfend grüne Tropenkessel und windgestreichelte, gelbe Steppen streifen lassen zu dürfen.

    Sie narrt die Sinne mit flüchtigem Duft der Holzkohlenfeuer und gebratenen Ziegenfleisches, mit dem Geschmack exotischer Früchte. Sie lässt das Herz mitten im Gedränge der U-Bahn heftiger schlagen, weil alles Denken unerwartet für Sekunden von jener Ahnung einer scheinbar unberührten Art von Freiheit »dort unten« durchdrungen ist, ... so fern im wilden Dickicht der Geheimnisse, Freiheit, wie sie der Europäer meint, wenn er es schafft, seinem zivilisierten Gefängnis aus Regeln und Pflichten einmal den Rücken zu kehren.

    Von einem Gefühl, etwas unaussprechlich Großes, Schönes in Afrika zurückgelassen zu haben, einen Schatz, den man berührt hat, der zu fühlen, zu schmecken und zu atmen gewesen ist, wird der oder die Verliebte gequält. Was genau den reisenden Europäer von heute dermaßen faszinieren kann am Schwarzen Kontinent, dass die Erinnerung nicht nur süß ist, sondern schmerzt, scheint schwer ergründlich. In nicht allzu fernen Epochen der Menschheitsgeschichte hat Europa Afrika schon mit begehrlichem Blick gestreift – und einfach genommen, was immer gerade am erstrebenswertesten schien. Reisende von heute sehen den Schwarzen Kontinent und seine Menschen zwar anders motiviert – jedenfalls aber ebenfalls begehrlich. Hier Fuß zu fassen wäre trotz aller Begeisterung schwer (nicht einmal in den afrikanischen Metropolen wäre es leicht), denn auf Reisen merkt der Weiße unweigerlich, wieviel ihn von »schwarzer« Lebensart trennt: Generationen von Erziehung. Respekt und schlechtes Gewissen machen Weiße vorsichtig, selten noch überheblich, aber nichtsdestotrotz kann viele nichts davon abhalten, in Afrika eine Ahnung des Paradieses ursprünglicher Natürlichkeit an Umwelt und Lebensform kosten zu wollen. Mancheiner der Aufgeschlossensten unter ihnen mag, unterwegs in den Dörfern, wo die Menschen heute der Hilfe bedürfen, um auch nur an lebensnotwendiges Wasser zu kommen, mit Grauen daran denken, welche Katastrophe es einst allein bedeutet haben muss, dass weiße Kolonialherren die genügsamen einheimischen Selbstversorger mittels Steuervorschreibungen zum Produzieren exportierbaren Überflusses gezwungen haben.

    So ist alles Alte, Sinnige ins wanken gekommen. Es ist die Sonne, die Szenerien alter Dramen trügerisch beruhigend erhellt, als wäre nie etwas geschehen, was Menschen und so manches Tier (fast) entwurzelt hat. Ein Wunder, wahrhaftig, dass Afrika immer noch soviel für den Reisenden Lockendes besitzt, hat doch kein Kolonialherr der Vergangenheit viel darauf geachtet, das Schöne zu erhalten. Vielleicht trachtet der eine oder andere weiße Besucher ja ein wenig bange danach, den Kontinent weniger verwüstet vorzufinden, als befürchtet, sucht er, stets rückzugsbereit, nach Beweisen, dass nicht so schlimm ist, was geschichtlich gesehen und gedenk moderner politischer und ethnischer Katastrophen furchtbar klingt, vielleicht will er aber auch bloß all das Schöne erhaschen, das Weiße vor ihm übrig gelassen haben, und das sensible Zeitgenossen sehr wohl erahnen.

    Die afrikanische Persönlichkeit, Weißen vertraut, auch wenn diese das Schlagwort des schwarzen Widerstandes kontra Überfremdung durch die Kulturen der Kolonialherren und pro Rückbesinnung auf die eigene Identität gar nicht kennen, strahlt nicht nur aus den Menschen – sie ist das Land an sich, wo immer Bürgerkriege, Armut, Verödung und Industrialisierung die alte schwarze Welt noch durchschimmern lassen. Danach suchen Reisende.

    Unfassbar fern klettern auch in den Momenten der schwellenden Nostalgie die Ölfruchtpflücker auf Palmen, laufen halbnackte Kinder der Steppe und des Waldes vielleicht schreiend und winkend an ein paar grinsende »Wazungu« (Suaheli: weiße Fremde) heran, die auf schmutzbedeckten Gefährten durch winzige Hüttendörfer im Regenwald holpern. Millionen frischgeschlagener Bananenbüschel liegen neben den Hütten, frei zum Feilschen um lächerliche Summen für alle, die hungrig vorüberkommen. Und graue Schwaden, die am flachen, verschwimmenden Horizont über den hitzeflirrenden Wüstenboden treiben, die selbst den Skorpionen und Wüstenfüchsen einen besorgten Blick wert sind und die menschliche Wüstenbewohner verharren und sinnend Ausschau halten lassen, kündigen einen Sandsturm an ...

    Grausam für jene Verliebte, mitansehen zu müssen, wie heute noch (oder erst recht) das »Paradies« mit Blut getränkt wird ...

    ... und am Ufer eines Dschungelflusses in Kamerun eilen auch zu dieser Stunde tausende braune Weberameisen die saftigen Stengel dunkelgrüner Gewächse auf und ab, ständig in Bewegung ... das Hindernis aus Blattfasern, das ich vor Ewigkeiten um den Stiel einer hohen, saftiggrünen Pflanze gebunden habe, um sie zu necken, ist längst zerfallen.

    Nichts hat sich verändert in Afrika durch meinen Besuch. Doch in mir, wie in so vielen, die diesen Kontinent gekostet haben und süchtig geworden sind, hat Afrika eine Saite erklingen lassen, von deren Existenz ich nie erfahren hätte, wäre mir nicht irgendwann zur Winterzeit im Herzen Zentralafrikas aufgegangen, dass dieses Land um mich herum wahrhaftig das Afrika meiner Träume sei. Nach ihm hat es Herrscherhäuser einst verlangt. Es hat Sklaverei und Naturkatastrophen ertragen müssen, den Hochmut der Völker fern seiner Küsten, aber dennoch sucht es kraftvoll durchzuatmen und birgt Wunder, die endlich, endlich ein bisschen unbenannte Sehnsucht im weißen Herzen zu stillen vermögen. Die vielerorts durchaus erfolgreiche Demokratie-Bewegung als Kontrast zu hartnäckigen diktatorischen Systemen nur vage im Kopf, sah ich unterwegs vielfach einfach nur das Fremde, Faszinierende, dachte gar nicht daran, die Menschen der einzelnen Länder als Betroffene gewaltiger Umstürze und Revolutionsmühen anzusehen, sie waren für ich einfach nur – geduldige Gastgeber. Österreich war in Momenten meiner sinnenden Vereinigung mit dem Dunklen, dem Grellen, dem Stillen, Schreienden, Undurchschaubaren und Heißen so fern, dass selbst die Erinnerung an das Daheim der Kinderzeit schwerfiel.

    Im Jahr 1855 lenkte der Forscher David Livingstone mit der Entdeckung der Viktoriafälle und seiner Suche nach den Quellen des Nil die Augen der Weltöffentlichkeit auf Leben und Sterben im Schwarzen Kontinent. Seit damals reißt der Zustrom jener, die kommen, die Wiege der Menschheit auf eigene Faust oder bequem gegängelt durch die Tourismusindustrie zu entdecken, nicht mehr ab, war auch die Afrikaberichterstattung über die Jahrhunderte durch unverständige oder von unlauteren Interessen getriebene Besucher zuweilen alles andere als schmeichelhaft für Afrika an sich: »... kulturlos ...«, »... wild ...«, »... grausam ...«, »... ungebildet ...«, »... unzugänglich«. Mittlerweile ist der Rest der Welt reif genug, Afrikas Leistungen als Kontinent uralter Kulturentfaltung anzuerkennen, – afrikanische Geschichte und Kunst »verkaufen sich« gut, schon gar afrikanische Landschaft, allenfalls haben die Ziele der Besucher sich an neue Plätze verschieben lassen müssen, bedingt durch Völkerkriege, deren Ursachen der Besucher zuweilen immer noch zu begreifen verweigert. Beispielsweise sind die ostafrikanischen Tutsi, ehemals ein Hirtenvolk, schon vor gut vierhundert Jahren ins Land der Hutu-Bauern eingezogen und haben mit ihnen jahrhundertelang in guter Partnerschaft gelebt – bis ihnen Kolonialherren gedenk ihrer politischen Organisationsfähigkeit weismachten, Tutsi seien allemal »wertvoller«, als Hutu und sollten eigentlich herrschen ... Der Konflikt, möglicherweise bislang beherrschbar schwelend, wurde bedenkenlos von fremder Hand aufgerührt ... Die Erste Welt beklagt den Völkermord in Ostafrika und anderswo, ihre Fehlleistungen in puncto hilfreiches Einschreiten wie auch ihr ignorantes Missachten des eigenen Mitverschuldens erscheinen durchaus sträflich.

    Der amerikanische Journalist Henry Morton Stanley fand den später verschollenen Livingstone unter damals haarsträubenden Abenteuern – aber finden die Afrikareisenden heute den Kontinent so vor, wie es ihrer romantischen Vorstellung entspricht?

    Ja, vielleicht geographisch und atmosphärisch – was das tiefste Landesinnere der einzelnen Staaten betrifft. Wer bedenkt, dass das »unterentwickelte« Afrika den Industriestaaten über Jahre Entwicklungshilfe gezahlt hat, indem es seine Rohstoffe verschleuderte und so der Ersten Welt zu Wohlstand verhalf, während es selber darbte, wird vielerart erstaunt sein über die freundliche Gleichmut der Afrikaner, die die Ausrüstung der Wazungu bewundern, freilich auch begehren, aber nicht wirklich ernsthaft. Vieles, was Weiße besitzen oder verkörpern passt nicht einmal annähernd in afrikanische Vorstellungen. Und auch wenn unbedarfte Dorfbewohner die geschenkmäßige Herausgabe von Kameras und derlei teurem Zeug fordern und zu glauben scheinen, alle Weißen seien reich, gleicht das Betrachten und Begehren von Fremdem einem Spiel der provokanten Dreistigkeit, wie das Geschenkeinfordern allgemein im Grunde ist, und selbst wenn sie könnten, würden viele Afrikaner Afrika wohl nie für Europa verlassen. Wie kämen sie auch dazu, sich mir nichts dir nichts in die so fremde, so eigentümlich streng reglementierte Welt der Weißen zu drängen? Wie würden sie sich da fühlen, bedrängt von einer völlig anders »gewachsenen« Mehrheit? Oh ja, Afrikaner können sich köstlich amüsieren über Weiße, egal, welcher Herkunft. Sich wahrhaftig mit ihnen zu befreunden, ist ihnen nicht wirklich ein Bedürfnis.

    ... und romantisch? Afrika ist kein riesiger Pfuhl aus abwechselnd Urwald und Steppe, in dem es unaufhörlich trommelt und lacht, über dem es abwechselnd glüht und gießt und wo die Kinder nackt mit den Ziegen in der sicheren Umarmung der Dorfgemeinschaften zwischen Lehmhütten spielen. Afrika besteht aus Organen, die nur dem unbedarften Reisenden als einander ähnlich oder nicht einmal unterscheidbar erscheinen. Und begreift der geographisch und politisch immerhin leidlich orientierte Besucher, dass weniger die Grenzbalken die einzelnen »Welten« innerhalb des Kontinents teilen, sondern jahrtausendealte kulturelle (beispielsweise) Abgründe, wird er beunruhigt ob seiner eigenen Abstammung nach Hause fahren und alle sogenannte »Zivilisation« einmal mehr verfluchen.

    Weiße neigen immer noch dazu, das Merkmal »schwarze Haut« als Vorwand zu missbrauchen, alle »Afrikaner« als gleich aussehend und seiend zu befinden (was gleich aussieht, kann wohl recht individuell geprägt nicht sein). Was haben aber ein Wolof, ein Tuareg, ein Yoruba, ein Mbuti-Pygmäe, ein Herero, ein Maure und ein Zulu wirklich gemeinsam? Jawohl, – sie leben auf einer Kontinentalscholle, genannt »Afrika«. Aber um einander nur zu grüßen, müssen sie die Hand heben, um einander zu verstehen ... wie auch ein Schwede, ein Spanier, ein Russe, ein Korse und ein Pole.

    Doch insgeheim wird Afrika für den Besucher auf ewig eines bleiben: das Land der Schwarzen, parfümiert mit dem Rauchduft der Holzkohlenfeuer. Das mögen ihm die »Afrikaner« verzeihen. Es ist gar nicht böse gemeint. Es ist nur die Unlust der Besucher, Reiseeindrücke und romantische Mitbringsel der Seele in der überschwänglichen Erinnerung nach kulturellen, politischen und soziobiologischen Aspekten zu sortieren. Und sagt er »Schwarzer«, kann er sich darauf verlassen, dass der Wolof-Restaurantbesitzer in Dakar, bei dem er oft zu Reis und scharfem Fisch eingekehrt ist, ihn schlicht »Toubab« nennt, »Weißer«, ungeachtet dessen, woher er stammt und ob er Flämisch spricht oder Portugiesisch.

    Unter »Afrika« versteht jeder, der eine Reise »hinunter« plant, wohl zunächst »wildes Abenteuer« und »exotische Lebensart«. Und kaum jemand betrachtet als Afrikaneuling die Bewohner der einzelnen Landstriche nicht als Sehenswürdigkeiten wie uralte Bäume, Baurelikte oder seltene Tiere. Aber jeder zivilisierte Mensch sollte sich doch zu benehmen wissen und könnte sich jederzeit über politische, ethnologische und geographische Zustände auf der afrikanischen Kontinentalscholle informieren. Und umgekehrt? Umgekehrt ist die Welt der Weißen für viele Bürger afrikanischer Staaten ein riesiger, blitzsauberer Pfuhl aus Autobahnen, Geld und technischen Wunderwerken, wo man ständig Schirme schwingt und Pommes Frites isst. Ein anderer Teil der Afrikaner hält Weiße pauschal für verschlagene Ausbeuter ohne Familiensinn (wie sonst könnten so viele unverheiratete weiße Frauen durch Afrika reisen?), ein wieder anderer Teil für Angeber ohne Benehmen, für bewunderungswürdige Neureiche, generöse Retter aus wirtschaftlicher Not, militärisch potente Technokraten oder für die Schuldigen an der eigenen Misere. Aber kaum jemals erkennt der Schwarze den Weißen als »ebenbürtig« an, weder im guten noch im schlechten. Das erfährt der Reisende sehr wohl auch. Missverständnisse blühen an allen Ufern prächtig.

    Vermutlich nehmen Afrikaner das »Du bist ein Schwarzer« gleichmütiger hin, als Weiße das schlicht »Weißer« Genanntwerden und das achtlose Abwinken der Versuche auseinanderzusetzen, dass Portugal wahrhaftig nicht gleich Österreich und schon gar nicht Australien oder Kanada ist.

    Die Eindrücke und Erinnerung, die jeder einzelne Abenteurer mit sich nach Hause nimmt, hängen freilich davon ab, welche Art von Reise aus dem ursprünglichen Plan, »Afrika« zu sehen, entstanden ist. Wer, wie wir es versucht haben, in der Gruppe reist, ahnt zunächst nicht, welche sozialen Problematiken allein unter den Reisenden auf ihn zukommen. Sein Erleben Afrikas ist das, was übrig bleibt, wenn das Leben in der Gemeinschaft ihm Luft zum Atmen und Umsichblicken lässt. Persönliche Vorlieben, Auffassungen von Komfort und wahrem Abenteuer prägen das Afrika-Erlebnis.

    An der Wende der achtziger zu den neunziger Jahren brach eine Gruppe zivilisierter Österreicher also auf, um die Freiheit unter afrikanischem Himmel zu suchen, und ich war dabei. Diese Zivilisierten haben sich im Laufe der Reise von ihren afrikanischen Gastgebern allerdings immer wieder einen beschämend unbarmherzigen Spiegel vorhalten lassen müssen, und wir haben einander nicht zuletzt als chaotische, emotional grüne Monstren kennengelernt ... eben zivilisierte Leute. Grandios ist unsere Erwartung vor dem Aufbruch gewesen, gigantisch und niemals dieserart erahnt hat sich später die Erfahrung wahrer, vielfach gut getarnter menschlicher Natur über der altbackenen Ignoranz aufgetürmt.

    Siebenundzwanzig Abenteurer aller Altersklassen saßen wochenlang (nur die Hälfte von ihnen monatelang bis ans Ziel) in Sardinenmanier im zum Bus umgebauten 13-Tonner M.A.N.-Diesellaster »Uhuru«. »Tarzan«, der Brudertruck, mit aufmontierter Galerie, führte Zelte, Lebensmittel, Werkzeug, Sandbleche, Filteranlage, Koch- und Lagerutensilien mit. Es galt zu erproben, ob das Afrika von heute noch Abenteuer birgt, und wie zivilisierte Menschen darin zurechtkommen – fern vom Tourismus organisierter Reisen. Der älteste Teilnehmer an unserem Abenteuer war über sechzig, die jüngste kaum zwanzig Jahre alt. Ein Pionierprojekt ist es gewesen, denn der Organisator hatte keine komfortable Safari geplant, sondern zwei Lastwagen nach Kenya zu überstellen. Um die Tour zu finanzieren, hatte er waghalsige Abenteuerlustige eingeladen, die Wagen für ein paar Monate zu besiedeln und das Reisendenglück zu versuchen. (Anmerkung: Ich habe alle Namen geändert.)

    Die Waghalsigen sollten erst erfahren, wie es um Ausrüstung und Afrikaerfahrung des Leiters wirklich bestellt war, als es zu spät gewesen ist, auf das Abenteuer zu verzichten. Sie stiegen einfach ein und fuhren los, ohne Furcht und Hirn. Dreizehn von ihnen erreichten das Ziel nahe Mombasa in Kenya, die Twiga-Lodge in Tiwi.

    Vier Monate lang kämpfte der kleine Konvoi sich durch Wüste, Regenwald, Busch und Savanne, frei nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel. Die Routen durch Tunesien, Algerien, Niger, Nigeria, Kamerun, Zentralafrika, Zaire, Rwanda, Tansania und Kenya mussten besprochen und verworfen, Besichtigungsstopps und Lagerplätze festgelegt, die Reisegeschwindigkeit ausdiskutiert werden. Pannen waren in Gebieten, wo »Wellblechpisten« oder Schlammgruben Fahrzeuge und Insassen erschütterten, an der Tagesordnung. Auch wer bislang keine Ambitionen als Kfz-Mechaniker gezeigt hatte, lernte, Reifen zu wechseln, erfuhr nach und nach, wo Benzinfilter, Kardanantrieb und Ölleitung zu finden sind.

    Wasser- und Nahrungsmittelmangel erwiesen sich in der erlebten Realität als weitaus problematischer als in gemütlicher Plauderrunde in heimatlichen Gefilden ... Unser Tour-Leader ließ uns mitten in Zaire mit einem kaputten Wagen sitzen, wir machten Bekanntschaft mit Pygmäen und Guerillas, Löwen, Gorillas und Vulkanen, Schlamm und Glut ... Ich will berichten, wie wir kamen, sahen und letztendlich doch siegten – über unsere eigene hilflose Überheblichkeit. Aber vieles, das uns erwartete, hatten wir nicht einmal befürchtet, geschweige denn waren wir dafür ausgerüstet, es gut zu überstehen ... Wir hatten viel Glück an unserer Seite. (Im übrigen war allen ReiseteilnehmerInnen bekannt, dass ich ein Buch über das Abenteuer schreiben würde, und man sah mich ständig beim Tagebuchschreiben; In diesem Buch erscheinen immer wieder Tagebuch-Passagen, in den Text eingebettet oder separat als Kapitel.)

    Unter all den Erfahrungen, die wir machten, trafen einige wenige Erkenntnisse und Erlebnisse unsere materialistischen, verschwendungssüchtigen Europäerseelen tiefer, als glühende Sonne und prasselnder Regen.

    Nichts verkommt im tiefen Afrika, und mit Beschämung bezeugten wir zuweilen wahre Raufhändel um von uns weggeworfene Fischgerippe, Konservendosen, Obstschalen oder Knochen. Die Leute sind imstande, einfache Haushaltsgeräte wie Löffel, Spachteln, kleine Schaufeln und Messer aus dem biegsamen Aluminium von Konservendosen zu basteln – und auch wenn niemand von uns gedenk materiellen Überflusses das nötig hätte, empfanden wir dennoch so etwas wie Neid darum, dass in unseren Gefilden derlei Beweise von Geschick und Findigkeit einfach nicht gefragt sind. Sardinen- und Tomatenmarkbüchsen dienen von Niger bis Kenya als Messbecher im Handel mit Erdnüssen und Getreidesorten. Kein zerfetzter Autoreifen bleibt liegen in den Gebieten kaum merklichen Verkehrsaufkommens, denn geschickte Hände fertigen erstaunlich funktionelle Sandalen mit Riemen für großen Zeh’ und Widerrist. Gebietsweise erschien es mir allerdings äußerst befremdlich, viele Menschen (sofern sie nicht den Barfußgang vorzogen, denn Afrikaner sind geschickt genug, sich nicht die Zehen an Wurzeln zu brechen oder auf Dornen zu treten) in durchsichtigen Plastikschuhen zu sehen. Spottbillig, Badeschuhen zum Verwechseln ähnlich und seltsam fehl am Platz inmitten einfachster Infrastruktur zwischen nackten Kindern, Ziegen und Bananenpalmen, sind sie wohl ein markantes Zeichen eigentümlicher Auffassung von Entwicklungshilfe.

    Hand in Hand damit geht das Tragen von T-Shirts aus den Beständen von Hilfsorganisationen oder tauschwütigen Touristen. Wildäugige Bantu mit Popeye, the sailor auf der Brust, halbwüchsige Pygmäen, die mit blauen Alpenseen, schneebedeckten Bergen und »Urlaub bei Freunden« am Leib, Pfeil und Bogen in der Hand auf Antilopenjagd ausziehen, bieten durchaus Anlass zu Lachlust und Kopfschütteln. Ob allerdings diese Komik wirklich so sehr zum Lachen ist, blieb fraglich angesichts von in Erwartung der Beschneidungszeremonie mit Asche bedeckter Pygmäenjungen am Iturifluss, mitten in Zaire, die um einen Chirurgenmundschutz als begehrten Kopfschmuck rauften. Ihnen hingen Fetzen ehemaliger T-Shirts von den zarten Körpern, während Berge von in Europa gnädig für die tropischen Gebiete gespendeten Kleidungsstücken auf den Märkten relativ teuer feilgeboten werden und – auf den Verkaufsrosten überquellend – verrotten. Tropisches Klima ist nicht dazu angetan, Textilien, die für unsere Breiten und überdies zum alsbaldigen Ersatz durch neue Produkte unserer Konsumgesellschaft konzipiert wurden, lange zu erhalten. Die Zivilisation schickt Kleider in heiße Gegenden, wo die Menschen seit Jahrhunderten ihre eigenen Mittel und Wege pflegen, sich zu bekleiden. Hier ist von den Gebieten relativ unberührten Dorflebens die Rede. In Metropolen wie Nairobi, Johannesburg, Windhoek oder Dakar hat sich längst eine Art Zwischenkultur entwickelt: Nicht mehr afrikanisch und noch nicht ganz anderswie. T-Shirts und Plastiksandalen sind aber zum Beispiel in den ländlichen Gebieten Nordkameruns noch ebenso sinnvoll wie Palmblattröckchen und Fußbedeckungen aus Riemchen bei uns im Jänner.

    Allzu oft hörte ich beim Gespräch mit jungen Afrikanern vieler Länder, die privilegiert genug gewesen sind, Grundschulen und sogar höhere Lehrgänge zu besuchen und von Studenten, vom brennenden Wunsch, Europa zu bereisen. Oft ist dieses Streben geprägt von der Bewunderung für den vermeintlichen Reichtum der »Wazungu«. Und selbst sehr gebildete, junge Afrikaner geben zuweilen der hartnäckig gepflegten Ansicht ihrer Verwandten Ausdruck, alle Weißen seien unermesslich reich, da sie es sich doch leisten können, per Flugzeug nach Afrika in Urlaub zu reisen und weil sie Wunderwerke wie Automatikkameras und sündteure Sportschuhe spazierentragen. Zumindest aber müsse es sehr einfach sein, schnell zu viel Geld zu kommen!

    Diese rührende und zuweilen ausgesprochen nervende Art der Bewunderung, vermischt mit harmloser Neugier und durchaus verständnisloser, trotziger Ignoranz, erfahren Weiße heute noch, wenn sie hoch auf ihren Geländefahrzeugen durch die Dörfer brausen. (Allerdings ist es mir passiert, dass ein junger Sénégalese, nach seinen Zukunftsplänen befragt, mir allen Ernstes und bar jeglicher Zurückhaltung erzählt hat, sein Traum sei, in Europa mit Drogen zu handeln, denn damit sei immer noch das meiste Geld zu machen, nur Reisepass und Visum müsste er sich erst im Heimatland erarbeiten; dann stünde seinem Reichtum und guten Ansehen nichts mehr im Wege ... Er ist kein Einzelfall mit solchen Ansichten.)

    Horden schreiender, lachender Kinder lassen heute noch alles liegen und stehen beim Anblick der Wazungu, laufen herbei und winken und winken. Und man winkt zurück, fühlt ein wenig den Entdeckern früherer Zeiten nach, wie sie in alten Hollywoodfilmen und vermutlich auch in Wirklichkeit ebenso unbefangen willkommen geheißen worden sind, als sie kamen, das Land für ihre Regierungen zu erobern und die Bewohner zu unterjochen. Von Niger bis Kenya begrüßten sie uns, toll vor Begeisterung über die Abwechslung im Dorfleben und die Chance, weiße Haut zu sehen oder vielleicht gar zu berühren und vielleicht das eine oder andere Souvenir zu erbetteln. Dort aber, wo weiße Herrschaften es allzu bunt getrieben haben, wie in der heutigen Republik Zentralafrika, ist das Entgegenkommen deutlich gedämpfter. Zuweilen verging uns gar das Lachen angesichts machetenbewehrter Drohgebärden und offener Anfeindung, und wir duckten uns vor fliegenden Steinen, übersahen grässlich höhnische Kindergrimassen und bekämpften das flaue Gefühl in der Magengrube und freuten uns, wenn wieder ein Einheimischer lachend den grünlich Fahlen winkte.

    Die Intensität der Bindungen der Reisemitglieder zu Land und Leuten erfuhr im Reiseverlauf tagtäglich neue Aspekte. Und trotz aller Widrigkeiten und Abenteuer, die wir zu bestehen hatten, ist das Afrika ringsumher letztendlich doch das Afrika sehnsüchtiger Träume gewesen, als das es die Erinnerung viel später wiedergeben sollte, Jahr für Jahr ein wenig stärker rosa gefärbt ...

    Start ins Abenteuer

    Ich will nicht damit beginnen, zu erzählen, wie alles anfing. Im Gegenteil. Scharfe, kalt-düstere Winterluft, die uns am Ausstieg der russischen Tupolew TU 85643 entgegenschlug, schockierte uns mit dem Klima eines nasskalten Februartages mitteleuropäischer Breiten, wie er uns seit Jahrzehnten vertraut sein sollte.

    Die Kälte zerrte am Gemüt der Heimkehrer aus heißen Gefilden. Lauernde Windböen über dem Flughafen Wien-Schwechat griffen uns in Kleidung und Haar, wollten uns zurückstoßen in die warme, heimelige Verbindung zum afrikanischen Paradies – ins Flugzeug.

    Es war Vormittag, und ich vermied, von Tränen geplagt, daran zu denken, dass diesen Morgenstunden kein afrikanischer Tag mehr folgen würde. Nebeliger Regendunst hatte den Weite gewohnten Blicken beim Landeanflug selbst ein Ausstrecken über nur wenige Kilometer verwehrt. Die Heimat begrüßte uns höhnisch, wie mir schien. Ihre kühle Gleichmut reizte mein Gefühl, nun doch gleich weinen zu müssen. Meine Blicke irrten zu den grauen Mauern der Hangars und zurück ins Gesicht des Mitgefangenen, Alfi, und unsere Seele fror wie unsere braune Haut unter dem Ansturm der Kältegrade.

    Alfi stand neben mir auf dem Gangway, und seine Augen suchten Halt in meinem Gesicht. Ich trachtete, seine Miene als Stütze zu benutzen, und als sich mein vor Fernweh verkrampftes Gemüt löste, brach auch er im selben Moment in Gelächter aus. Wir standen da, unschlüssig, ob wir wirklich hinabsteigen mussten aus unserem Traumschiff, lachten mit leicht überschlagenden Stimmen, die Trauer im Inneren mit tiefen Atemzügen betäubend.

    Während der Fahrt im Zubringerbus zum Ankunftsgebäude des Flughafens stellte ich mir die ehemaligen Reisekameraden vor und wie ihr erster Kontakt mit heimatlicher Erde gewesen sein mochte, nach all diesen Monaten, während derer unser Erfahrungsschatz aufgewühlt und mit Unvergesslichem beladen worden war.

    Karli, zum Beispiel, im Verlauf einer Asterix-Retrospektive zur Würdigung seiner hervorstechendsten Eigenschaft in »Subtilix« umbenannt, mochte mit ernstem Blick und schmalen Lippen Umschau am Rollfeld gehalten und erst im Zubringerbus »Ich pack’s nicht ...« vermeldet haben. Armin, der ewig Grinsende, mochte mit brennenden Augen ein wenig verlegen gelächelt und sodann, scheinbar von Amüsement überwältigt, lauthals seine Ansicht über das Sauwetter hinausposaunt haben, sich an seinem eigenen Lärmen festhaltend. Luis, der Bergfex, würde ganz einfach schweigend den Kopf geschüttelt und Fernweh hinter die schützende Aussicht verbannt haben, die verbleibenden Winterwochen im Schnee der Salzburger Berge verbringen zu dürfen. Anita war vielleicht schweigend, aber festen Schrittes und steinerner Miene dem Alltag entgegen getreten, ein Wirrwarr aus Bildern aus dem Leben einer Globetrotterin und dem einer Hotelsekretärin hinter der braungebrannten Stirn. Und Silvia? Grinsend und leichthin mit irgendeinem Passagier selbst noch auf dem Gangway plaudernd? Und Ilse? »Ach Gott...« waren vermutlich die ersten Worte gewesen, die Österreich und ihre zur Begrüßung aufmarschierten Lieben aus rotgeschminktem Mund gehört hatten, untermalt von gerührtem Blick mit madonnenhaft geneigtem Haupt. »Beinhart«, Ilses Erzfeind, stets von süffisantem Grinsen begleitet, würde die Bewegung der Seele hinter kühler Festigkeit des tiefen, schwarzen Blickes und undurchschaubar zielgerichtetem Vorwärtsstreben jeansbewehrter Beine verborgen haben. Und Gerald hatte vielleicht die Arme ausgebreitet und fröhlich gerufen: »Da habt ihr mich wieder!«

    Und Sabine? Und Tommy? Und wie war es Dunja und Milan und Marga und Otto schon vor Monaten ergangen?

    Als Karlis vertraute muskulöse Hagerkeit unter plüschgefütterter Lederjacke Minuten später am Flughafen in meinen Armen das dichte Netz der vergangenen Monate über mich warf, kehrte ich zum ersten Mal, dem noch tausende Male folgen sollten, mitten im Flughafengewühl in Gedanken dorthin zurück, wohin ich mich fortan immer wieder wünschen sollte. Es war die Zuflucht, die mir ein Zustand gibt, der für mich ganz einfach »Afrika-Feeling« ist.

    Wir hatten es weiß Gott nicht leicht gehabt. Unsere Reise war unter einem Stern der Konflikte gestanden, und Afrika hatte seinen Platz in unserem Inneren nur mühsam erkämpft. Nichts konnte nun aber diesen Platz jemals wieder an seiner statt einnehmen.

    Einige meiner Reisekameraden meinten, als Bert, der Organisator der Tour, unseren auf dreizehn Leute geschrumpften Trupp in Beni, Zaire, verließ, hätte die Reise erst richtig begonnen. Ihnen werde ich nicht zustimmen. Es hieße Monate der Strapazen, körperlicher und seelischer Natur schlicht vergessen zu sollen. Unmöglich. Doch ab jenem Zeitpunkt stand dramatisch fest, dass »Tarzan«, »Uhuru«s Brudertruck, nicht mehr weiterhin wie von Furien gehetzt voran preschen oder hinter seinem Zwilling aus Staubwolken oder Dschungelgrün auftauchen würde ... Die beiden zu Passagierfahrzeugen umgebauten 13-Tonner-M.A.N.-Diesel-Trucks waren unsere Heimat für Monate gewesen. Auch Ilses Seufzer waren mit »Tarzan« und Bert dahin, ebenso Gerry, der zweite Fahrer und Sabine, die Krankenschwester ... und außerdem zahllose Begebenheiten, Gefühle und gemeinsam Überstandenes der letzten Monate. Und dem restlichen, inzwischen auf dreizehn Leute geschrumpften Häufchen, standen noch tausende Kilometer durch Afrika bevor ... Wir hatten uns also keineswegs leichten Herzens von den Abtrünnigen verabschiedet – hatten wir doch gelernt, einander zu verfluchen, zu beneiden und sogar zu mögen. Und schon damals hatten wir uns auch recht schwer von dem einem der beiden Fahrzeuge – nichts als einem leblosen Vehikel, könnte man einwenden – getrennt. Nun, am Ende der Reise, mussten wir uns damit anfinden, beide zebragestreiften Kameraden nie wiederzusehen. Das schien manchen von uns wahrhaftig schwerer zu fallen als die Trennung von den menschlichen Reiseteilnehmern ...

    An jenem kalten Abreisetag im Oktober 1989, gegen Mitternacht hin, waren wir aber noch nichts anderes gewesen, als eine Versammlung einander fremder Seelen, die sich, vorerst provisorisch, in »Uhurus« Inneren eingenistet hatten. »Uhuru« ist ein Suaheli-Wort und bedeutet Freiheit. Und so sehr wir uns bei Antritt unserer Reise über den sinnigen Namen unseres fahrbaren Untersatzes gefreut hatten, so bitter sollten wir uns später darüber lustigmachen. In jener Nacht des 6. Oktobers war uns nur eines aufgegangen: Wir gehörten nun zueinander, ob wir wollten oder nicht. Allerdings ... in diesem Stadium der Reise wollten es sogar alle noch. Am Ausstieg der russischen Tupolew, Monate später, konnte ich mich allerdings kaum noch daran erinnern.

    *

    Wir waren vierundzwanzig Abenteuerlustige und zwei Fahrer, die einander, abgesehen von den beiden Pärchen in der Gruppe und drei, vier miteinander Befreundeten, nicht kannten. Als Bert, der Reiseinitiator, zum Kennenlernen in seiner Wohnung lud, umschlichen wir einander grinsend und ohne viele Worte. Kaum einer von uns brachte viel über den anderen in Erfahrung oder versuchte es auch nur. Es war aufregend genug, so vielen fremden Gesichtern zu begegnen.

    Jeder von uns war verstrickt in seine romantischen Vorstellungen der Expedition, wie wir sie planten, fragte kaum nach dem Namen der anderen. Vielleicht taxierte der oder die eine oder andere Mitreisende bereits auf ihre Eignung als Reiseflirt. Vielleicht verstießen wir alle außerdem jegliche zaghaft sich meldenden Bedenken und genossen eitel dieses Treffen derer, die etwas wagten in Zeiten wie diesen, da die Kleinbürgerlichkeit an ihrem Sicherheitsdenken zu ersticken drohte. Wir befanden uns in einer Großstadt, und das Wagnis, das wir anstrebten, machte uns in unseren eigenen Augen exotisch gegenüber dem Rest der Bevölkerung. Vielleicht war es aber auch die Aussicht, dem grauen Alltag verwegen ein buntes Abenteuer vor die Nase zu halten, die uns leichtfertig und gedankenlos machte – einfach dumm vor Vorfreude. Enorm prominent fühlten wir uns wohl wegen unseres Außenseitertums, und in diesem Gefühl badeten wir behaglich und mit halb geschlossenen Augen, von unserer Phantasie betäubten Sinnen. Wir waren freundlich zueinander, unruhig und immerhin bereit, uns zu einem Rudel zusammenzuschließen. Das reichte für den Augenblick. Später stellte sich heraus, dass niemand eine richtige Vorstellung davon gehabt hatte, wie gefährlich die Diskrepanz zwischen der Tendenz des Menschen zur Rudelbildung und das reale Leben einander fremder Raubtiere miteinander für den einzelnen ist.

    Auch über Bert wussten wir kaum etwas. Ein junger Globetrotter eben, so stellte er sich uns dar, der ab und zu ein paar Handelsgeschäfte abwickelte, im Ausland Frau und Kind hatte. Eigentlich erschien er uns umgänglich und geradezu nett. Er übernahm einen Teil der Visaformalitäten, den Rest erledigten Sabine und ich. Wir zuckten die Schultern, wenn Außenstehende Genaueres über Bert wissen wollten. Bert war eben Bert. Wer hatte schon Lust und Anlass, genaue Recherchen über ihn anzustellen? Er war Besitzer der beiden Lastwagen und einer der Fahrer. Ihm zahlten wir unsere Reisebeiträge für Ausrüstung und Essen. Das war es. Wir waren immerhin Erwachsene und eigenverantwortlich. In Berts kleinem Konvoi mitfahren zu wollen, rechtfertigte kein Herumbohren in seinem Privatleben. Was wusste er schließlich über uns oder wir übereinander?

    Heute sehen wir alle glasklar, dass unsere damalige Einstellung und unsere absichernden Vorbereitungen als Voraussetzungen für eine einwöchige Pauschalgruppenflugreise nach Mallorca genügen mögen, niemals aber für eine nur grob geplante LKW-Expedition durch einige Staaten Afrikas, die drei oder vier Monate dauern soll und an der 27 einander großteils fremde Menschen teilnehmen ... Der Blick durch eine Milchglasscheibe ist wohl klar und deutlich im Vergleich zu unserer, dem Schicksal gegenüber vertrauensvollen, Sicht der Dinge, damals. Einige von uns hatten gar ihren Job aufgegeben, um die Reise so richtig genießen und nach der Rückkehr ein neues Leben beginnen zu können oder einfach deshalb, weil man ihnen keinen monatelange Urlaub gewährt hatte ...

    Ich selbst hatte die Reise zum Anlass genommen, einen Redakteursjob bei einem Musikmagazin, das unter der patriarchalischen Führung des Besitzers und den entsprechend angepassten Machomanieren der anderen Mitarbeiter geächzt hatte, wie ich vor Wut als einzige Frau unter dem Druck derer, die sich auf meine Kosten ihre unglaublich erhabene Männlichkeit beweisen mussten. Erfolglos, allerdings, hatte ich aufbegehrt, niemand hatte versucht, meinem Können zu vertrauen. Also fuhr ich nach Afrika, wahrscheinlich um mir selbst und den Machos zu beweisen, dass ihr selbstbewusstes Getue bloß lächerlich aufgesetzt, mein Mut aber echt, ich ihnen also haushoch überlegen war. Tatsächlich hatte ich mich jedoch schon seit meiner Mädchenzeit immer wieder nach Afrika geträumt ...

    Kurz vor dem Abreisetermin fuhren wir auf »Uhuru« und »Tarzan« durch halb Wien zum Abfahrtsplatz auf dem ehemaligen Schlachthofgelände der Wiener Arena im dritten Wiener Gemeindebezirk. Vergessen waren während dieser ersten Ausfahrt Schmerz und Gräuel bei den Impfungen am Tropeninstitut, der Ärger wegen der teilweise recht komplizierten Visaformalitäten und beim Besorgen der nötigen Medikamente für die Reise, Streitigkeiten mit der Familie oder mit dem Arbeitgeber. Als wir in den zebragestreiften Vehikeln enormes Aufsehen in den Straßen Wiens erregten, freuten wir uns sekündlich mehr auf unser Abenteuer. Genau diese putzigen Gefährte, heute noch im Trubel des herbstlichen Wien mit seinen zurückkehrenden Studenten steckend, würden uns morgen durch Wüste, Steppe und Urwald tragen! Die beiden gewaltigen Trucks rumpelten aufreizend langsam dahin, gaben Geräusche von sich, die niemand zu deuten wusste, schnauften gequält beim Schalten und schienen uns schwerfällig wie Walrosse. Aber wir liebten sie von Anfang an. Die beiden 13-Tonner-MAN-Diesel-Laster, rau behandelte Militärfahrzeuge aus Deutschland, wurden von österreichischen Abenteurern zärtlich in Besitz genommen. »Uhuru« war der Passagiertruck, zumindest bis Tunesien, und »Tarzan« trug den Großteil der Ausrüstung. Der Rest war in »Uhurus« doppeltem Boden gelagert oder auf seinem Dach festgezurrt. In Afrika würden die Passagiere sich auf beide Wagen aufteilen dürfen. Und »Tarzan« verfügte zudem über einen Galerieaufbau mit bequemen Drehsitzen. Diesbezüglich war abzusehen, dass der erwünschte Aufenthalt dort oben – zwecks Genusses der großartigen Aussicht oder einfach, um der Meute zu entfliehen – Anlass zu Rangeleien sein konnte. Allerdings – waren wir nicht zivilisierte Menschen, die alles vernünftig untereinander regeln konnten?

    Der Abreisetag wurde zweimal verschoben. Neuerliche Reparaturen, hieß es. Es beunruhigte uns kein bisschen. Und wir nutzten die Tage, noch ein paar Freunde zu besuchen und mit unserem Wagnis zu prahlen.

    Unser Abschied in Wien war filmreif. Presseleute waren gekommen, Scheinwerfer schienen unsere blitzblanken, schwarz-weiß im Zebra-Look gestrichene Fahrzeuge braten zu sollen, unbekannte Menschen, die hektisch oder neugierig im grellen Licht im ehemaligen Wiener Schlachthof hin und her liefen, miteinander sprachen, einander umarmten, nickten, mit den Schultern zuckten, in die Wagen und auf ihr Dach kletterten, wieder heraus oder herunter kamen, Gepäckstücke, Kanister, Kabel ...

    Mein eigenes Lampenfieber ließ die Eindrücke sich zum Wirbel verdichten: Berts mühsam beherrschte Aufregung, mein Unvermögen, Mitreisende, deren Angehörige und Schaulustige auseinanderzuhalten, Rufe, Herzklopfen, krampfhaftes Lächeln um die Mundwinkel, dicke Anoraks (kaum zu glauben – wir fuhren ins heiße Afrika!), Abschiedsworte, Geruch nach Benzin und Öl, Unmengen von Ausrüstungsgegenständen, die noch aufgeladen werden mussten, ein ölverschmierter, zierlicher Mann, der aussah wie ein zorniger Waldkauz und der immer wieder unter die Bäuche der Lastwagen kroch, Werkzeugkisten, rotsamtig bezogene Flugzeugsitze im golderleuchteten Inneren des einen Lastwagen, der Schriftzug »Uhuru« auf seiner vorderen Flanke, »Tarzan« auf der Flanke des anderen Trucks ...

    Wegen einer Autopanne war ich zu spät zum Treffpunkt gekommen und fürchtete angesichts des Trubels um einen guten Sitzplatz.

    Bert winkte mir zu, offensichtlich ins Gespräch mit einem Journalisten verwickelt. Dessen Kollege fotografierte wild durch die Gegend. Gut, blieb mir das einstweilen erspart, dachte ich, winkte rasch zurück und ging um »Uhuru« herum. Es war ausgemacht, dass ich als Berts zukünftige Werbemanagerin mitfahren sollte. Allerdings verspürte ich an diesem Abend wenig Lust, Boulevardschreiberlingen viel über unsere Reisevorbereitungen und Ziele zu erzählen, war ich doch selber alles andere als bestens informiert. Sollte Bert das erledigen. Ich hatte mich, um ihm behilflich zu sein, schon genug mit den Visaformalitäten für hirntote Mitreisende, die keine Fristen einhalten konnten, herumgeschlagen. Mein Lampenfieber würde außerdem jeden zusammenhängend gedachten Satz in seine gestammelten Fragmente zerhacken. Ich hatte meinen »Dienst« noch nicht angetreten. Anhand meiner Aufzeichnungen und Fotos sollten später Berichte und Reportagen veröffentlich werden, die Bert den Einstieg ins Reiseveranstaltergeschäft erleichtern sollten. Vorerst plante er ja nur, die beiden Lastwagen auf dem Landweg nach Kenya zu überstellen. Um die Sache zu finanzieren, hatte er Abenteurer zum Mitreisen geladen ...

    Ein hagerer, schwarzhaarige junger Mann lümmelte ganz vorne in »Uhurus« Passagierraum, als ich die wackelige Leiter hinaufgeklettert kam. Die meisten Sitze schienen bereits besetzt zu sein. Der Bursche beobachtete mich grinsend, während ich mich suchend umblickte. Die vordersten beiden Sitzreihen mit je zwei roten, plüschüberzogenen Sitzen zu beiden Seiten des Mittelganges waren einander zugewandt. Der Fremde hatte einen Platz mit Blick gegen die Fahrtrichtung gewählt. Gerade auf dem Sitz ihm gegenüber am linken Fenster in Fahrtrichtung lag noch kein einziges Gepäckstück, bloß sein Bein. Auf allen anderen Sitzen türmten sich Säcke, Taschen, Jacken und Kanister, sogar Fototaschen und Gebilde, die aussahen wie Jausenbrote under cover. Die Passagiere hatten wohl einfach irgendetwas auf den Sitzen drapiert, jedenfalls aber soviel wie möglich, dass niemand den einmal okkupierten Sitz umwidmen sollte.

    Ich deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Sitz gegenüber dem Burschen.

    »Ist der noch frei?« Sein Bein lag hartnäckig auf dem Zielgegenstand meines Optimismus. Er zog die rechte Schulter kurz hoch, an seiner Zigarette saugend, als atmete er pures Sauerstoffelixier.

    »Der ist ... also wirklich frei?« wiederholte ich mit der Auffassungsgabe eines Schafes. Er betrachtete mich intensiv. Ich schaute aus dem Fenster, das ein hagerer Bursche soeben spinnenflink überkletterte, wohl um einem Kameraden auf dem Dach beim Festzuzurren irgendwelcher Gegenstände zu helfen.

    So ein guter Platz, ganz vorne... Würde ich diesen frechen Blick eben zu ignorieren lernen! Und vielleicht saß der Bursche nur zufällig gerade da. Der Zigarettenrauch formte dichte Schwadenfiguren. Warum war dieser Mensch, der sich nicht einmal vorstellte, eigentlich nicht draußen, bei seinen Verwandten oder Freunden, um sich zu verabschieden oder gemeinschaftlich den Abschiedsschmerz zu ersäufen? Ich breitete meine Jacke über den Sitz, stellte meinen kleinen, schwarzen Rucksack mit dem Waschzeug, dem Spiegel, der Fieberblasensalbe, dem Buch, einer Reserveunterhose, den Tampons, dem Deodorant, dem Brillenetui, der Bürste, dem Regenschirm, dem Schreibzeug und den Kaugummis darauf, lächelte freundlich, hustete, so laut ich konnte und ließ den Burschen in seinem Qualm sitzen ...

    Der Sitz gegenüber Armins Residenz wurde fortan in unregelmäßigen Abständen mehr oder weniger nachdrücklich zu meinem Stammplatz für die Dauer der Reise erklärt. Immer wieder suchte jemand Streit mit mir, indem er meinen schönen Fensterplatz nahe dem Einstieg einfach ohne zu fragen besetzte. Und ich tat ihm sodann den Gefallen und stritt gehörig um mein Recht. Da des Fremden Bein den Platz geräumt hatte und mein Rucksack als vorläufiger Inhaber auf diesem bestimmten Fleckchen roten Plüschsamtes thronte, war die Zusammengehörigkeit zwischen diesem und mir – in meinen Augen, jedenfalls – besiegelt. Allerdings auch vermeintlich jene zwischen Armins Blicken und meinem Gesicht – dies leider höchst einseitig begrüßt.

    Ein Zug Neugieriger und zweifelnder, wenn auch tapfer hoffender Angehöriger folgte den Lastwagen, als diese aus der Garage zum Auftanken rollten. Italien, Sizilien, Tunesien, Algerien, Niger, Nigeria, Kamerun, Zentralafrika, Zaire, Rwanda, Tansania und Kenya würden auch ihre Eignung als Abenteurer auf harte Proben stellen. Vielversprechend breitete unser soeben begonnenes Abenteuer sich vor uns aus, reizvoll schon allein durch den Klang der Namen der einzelnen Staaten, die wir kennenlernen würden.

    Tja.

    Am Anfang war die Neugier

    Neugier ließ viele fremde Augenpaare Gegenüber, Entfernte, Nachbarn, Gepäckstücke und Wageninneres taxieren, heimlich noch und scheinbar zufällig, als das Abenteuer seinen Anfang nahm. Wir alle waren bereit, uns zu mögen. So schien es zumindest eine knappe Stunde lang. Da und dort regten sich erste, tastende Unterhaltungsexperimente. Niemand sprach laut. Wie abgeschnitten von der Umwelt und unserem früheren Leben harrten wir in »Uhurus« Inneren des kommenden, zusammengepfercht mit unserem Gepäck wie die sprichwörtlichen Sardinen. Es war, als hielten wir alle die Luft an in der Enge unter der gelb leuchtenden Deckenlampe, die längst nicht alle Ecken »Uhurus« erhellte, atemlos lauschend, obwohl wir miteinander sprachen. Begegneten Blicke einander, schienen sie jeweils im anderen Schauen verlegen heimlich eine Antwort auf die Frage zu suchen, ob denn alles gutgehen würde. Diese Frage laut zu stellen fiel natürlich niemandem ein. Es zu tun, hieße, unbeschwertes Abenteurertum zu beschädigen. Das Motorgeräusch dröhnte sonor in unseren Ohren.

    Jemand hatte den Recorder über den Köpfen der ersten Reihe mit einer Kassette gefüttert. Discomusik rann uns nun zäh klebrig über Kopf, Schultern und Bauch.

    Es war recht kalt im Wagen. Jeder hatte nur einen schmalen Sitzplatz zur Verfügung. Das Handgepäck staute sich auf jedem freien Fleckchen im Wagen, im Mittelgang, unter den Sitzen. Die Erfahrung von Enge, mit der keiner von uns gerechnet hatte, lastete höhnisch auf unserem Gemüt, auch wenn wir uns bemühten, die Situation als erträglich zu empfinden. Niemand war gewillt, sich einzugestehen, dass er sich schon in der ersten Stunde unwohl und wie ein Gefangener fühlte. Die Ahnung unbestimmter Mühsal war uns nur zum Teil bewusst, denn noch übertrumpfte die selige Aufregung im Umfeld eines Starts ins Heißersehnte jeglichen Unwillen wegen der Enge oder des seltsam modrigen Geruches im Passagierraum.

    Die Discomusik plärrte und hämmerte.

    Dann zerriss das angeregte, wenn auch verhaltene Geplauder. ,Nun werden auch noch unsere Ohren malträtiert, nicht nur unser Hintern, dabei tun wir doch gerade unser bestes für die gute Laune ...‘ hatte ich gerade sinngemäß sinniert.

    Eine laute, erboste Stimme brach durch die nervös gespannte Atmosphäre:

    »... halte das nicht aus! Das ist ja grauenhaft! Fahren wir jetzt nach Afrika oder in so eine beschissene Disco? Ich fasse es nicht!« Ein stoppelhaariger, schlaksiger junger Bursche saß mir schräg rechts gegenüber, das käsebleiche Gesicht gegen die Fahrtrichtung uns anderen zugewandt. Sein rechter Mundwinkel und auch das Augenlid zuckten hektisch, als er sich gegen die Musikqualität ereiferte. Dieses Zucken faszinierte mich. Es lenkte von den aparten Gesichtszügen des jungen Mannes einerseits ab, andererseits zwang es den Blick in ebendieses Gesicht. Er blickte böse in die Runde, schüttelte den Kopf wild mit einem Lachen, das vor Verachtung strotzte und langte nach oben zum Recorder. Als er am Regler drehte, wurden missmutige Gegenstimmen laut.

    »Wenn du etwas Besseres hast – her damit! Ansonsten – Finger weg!«

    Der Bursche hielt inne und ließ sich auf seinen Sitz zurückfallen, hochrot im Gesicht. Ein hübsches Grübchen erschien neuerlich in seiner rechten Wange, auch, als sein Gesicht noch zorniger wurde und seine Stimme sich meckernd weiter ereiferte. Er schimpfte. Was genau er sagte, kann ich heute nicht mehr detailgetreu wiedergeben. Jedenfalls fühlte er sich wohl einerseits so enorm in seiner Ruhe gestört, dass er nicht anders konnte, als seinen Unmut kundzutun, andererseits reichte seine selbstgefällige Courage, die neue Gemeinschaft schon zu Beginn mit allen Konsequenzen zu maßregeln, noch nicht aus, die Musik auch wirklich abzustellen. Trotzdem – seine Dreistigkeit war erstaunlich. Wir alle saßen doch kaum einige Minuten beieinander und bemühten uns, die Erschütterungen des Starts zu überspielen. Kaum einer hatte es noch gewagt, seine Stimme über die Sprechstärke der anderen zu erheben. Und dieser Bursche mimte bereits den Tyrannen.

    Er grölte und gestikulierte, erhob sich neuerlich. Mir ging auf, dass er in seinem Abschiedsschmerz wohl ein paar Gläschen zuviel getrunken haben musste.

    »... nach dem Motto ... wir fahren nach Afrika und nicht in eine beschissene Disco! Das hab’ ich jedenfalls geglaubt! Wir fahren ja nach Afrika ... Wer will schon in eine beschissene Disco?«

    Er wiederholte sich munter weiter. Dazu stand er auf, und es schien, als wollte er die ungeliebte Musik nunmehr zu dirigieren beginnen. Niemand sagte zunächst noch etwas zu ihm. Als wohnten wir einer Theatervorstellung bei, verharrten wir andächtig. Sogar Armin, mein Gegenüber, nahm für ein paar Minuten seine dunkelbraun glosenden Blicke von meinem Gesicht. Befremdete, aber auch amüsierte Augenpaare folgten den Bewegungen unseres erbosten Mitreisenden, als er in der Tasche zu seinen Füßen hektisch zu kramen anfing. Dabei grölte er undefinierbaren Sprechgesang.

    »Also, mir scheint ... « Eine Frauenstimme erhob sich, wobei das Wörtchen »scheint« die anderen an schriller Betonung bei weitem übertraf, die Dame musste dicht hinter mir im Wagen sitzen, »... das ist doch... ach, Gott, wenn das so weitergeht....« Die klagenden Worte reizten mich noch mehr zum Lachen als das Stänkern des Erbosten Discofeindes. »Gott« erhielt dieselbe schrille, dramatische Betonung wie »scheint«. Prompt äffte jemand im Fond des Wagens die jammernden Damenstimme nach.

    »Hat eben Abschied gefeiert, der Knilch,« lenkte eine Jungmännerstimme ein. Mit einem gehauchten ,Ach Gott‘ ließ die empörte Dame es für den Moment gut sein. Der Erboste stopfte sich soeben mit verachtungsvoller Miene Ohropax in die Gehörgänge und warf sich auf seinen Sitz, die Beine angezogen, die Arme um die Knie verschränkt. Bedeutete sein Auftritt, dass die Gruppenharmonie bereits einen Feind hatte? Gab es mehrere solche jähzornigen Kameraden in unserer Gruppe? Das Grübchen erschien hartnäckig sogar im Schlaf in seiner Wange.

    Soeben zogen die letzten Lichter Wiens am Seitenfenster vorbei. ,Na fein,‘ kam mir in den Sinn, ,... die kürzeste Friedenszeit der Weltgeschichte haben wir erlebt...‘ Aber es war doch spaßig gewesen, und der Zwischenfall hatte uns aufgemuntert. Der Bursche schien nun friedlich zu schlummern. Sobald der Alkoholschleier sich gehoben haben würde, könnte er sich durchaus als netter Zeitgenosse entpuppen, nach seinen feinen, ernsthaften Zügen zu schließen.

    Wir bogen auf die Südautobahn ab. Als wir bemerkten, dass selbst altersschwache Vehikel gleich Geschossen an uns vorüber zischten, ging uns auf, dass unsere Fahrzeuge wohl allenfalls eine Höchstgeschwindigkeit von 7o Stundenkilometer schaffen konnten.

    »Na, fein,« seufzte jemand, »... Schneckentempo ist angesagt.«

    Dass auf den meisten Pfaden des Schwarzen Kontinents eine Geschwindigkeit von 70 Kilometern pro Stunde geradezu halsbrecherischer Raserei gleicht und kaum irgendwo gehalten werden kann, ahnten wir nicht. Zwanzig Stundenkilometer Fahrttempo sollte uns in ein paar Wochen als atemberaubend erscheinen. Wir wussten an diesem Abend nur, dass wir schnell sein mussten in den nächsten zwei Tagen. Denn wenn die Fähre in Sizilien uns vor der Nase davon schipperte, würden wir eine Woche lang unfreiwillig die Gelegenheit haben, die Brutstätte der Mafiosi kennenzulernen.

    Regen trommelte frech gegen die Fensterscheibe, als verlangte auch er noch Einlass in die Sardinenbüchse. Auf dem Sitz zum Rand hin zu rutschen und meine Füße nach hinten unter meinen Sitz zu schieben, sodass meine Oberschenkelmuskel sich strecken konnten, blieb Sehnsucht. Vor mir stoppten Armins Knie mein Ansinnen, und unter meinem Sitz lagerten meine eigene Fototasche sowie Gepäckstücke des Reiseteilnehmers hinter mir. Also stellte ich die Beine gerade, als säße ich in der Kirche. Später faltete ich sie auf dem Sitz, als meditierte ich in einem indischen Ashram. Später versuchte ich, mich schräg zu platzieren und die Beine gegen die Wand des Wagens zu stemmen, um vielleicht den Kopf auf den Knie zur Ruhe betten zu können. Später versuchte ich mich auf dem Sitz zusammenzurollen, indem ich die Beine eng anzog und die Arme um sie schlang, mit dem Ergebnis, dass meine Finger zu krampfen anfingen ...

    »Embroynale Pose,« urteilte Armin mit einem Grinsen, als hätte er eine besondere Schwäche für Embryos, »... möchtest zurück in den Mutterleib? Ich kenn das.« Ich brachte meinen Körper in die Ausgangsstellung mit den brav aufgestellten Beinen zurück, verschränkte die Arme, legte den Kopf gegen die Sitzlehne und versuchte, mich durch die Betrachtung der Deckenleuchte, in der Nähe dösender oder plaudernder Mitreisender oder der Wagenwand neben Armins Ohren wachzuhalten, um später so müde zu sein, dass ich – egal, in welcher Position – einschlafen würde. Für diese Nacht war kein Stopp geplant. Wir mussten doch so schnell wie möglich durch Italien fahren, um die Fähre zu erwischen. Allerdings fragte ich mich nunmehr, weshalb Bert den Abfahrtstag nicht vorverlegt hatte, damit es nicht so knapp werden sollte mit der Anreise zur Fähre?

    Mein Sitznachbar wechselte an diesem Abend. Leute von ganz hinten kam nach vorne, um mit ihren Kollegen zu plaudern und die Gruppe aus der Pole-Position zu überblicken. Seltsamerweise hatte niemand den Sitz neben mir exklusiv okkupiert. Er gehörte diversen Gepäckstücken, die von ihren Besitzern sicher scharf im Auge behalten wurden, wenn jemand sie beiseite schob, um für einige Zeit platzzunehmen. So sollte es während der gesamten Reise bleiben. Der Sitz neben mir war Allgemeingut und daher ständig umstrittenes Objekt, wenn er auch – als Sitz direkt gegenüber dem Einstieg – zu recht als der unbequemste galt, weil man auf ihm ständig Ein- oder Aussteigenden ausweichen musste, wollte man nicht hundertmal am Tag von Knien angestoßen oder von nach Halt grapschenden, meist grauenhaft dreckigen, Fingern befummelt werden.

    Ein eisiger Luftzug streifte meine Ohren. Der Wunsch, meine Sitzposition zu verändern, wurde übermächtig. Allein, mir fehlte die Bewegungsfreiheit. Ich bemerkte, dass die anderen, inzwischen bis auf ein paar Flüsterer großteils verstummt, ebenfalls verhalten ächzend mit den Raumverhältnissen auf ihren Sitzen kämpften.

    Die späte Stunde lähmte uns aber gnädig.

    »Wenn das da unten deine Fototasche ist –«

    ,Fototasche – wo? Was? Wie?‘ Hellwach war ich mit einemmal. Das magische Wort »Fototasche« sollte noch monatelang die Reaktionen innerhalb der Gruppe im »Alarmstufe-Rot-Modus« bestimmen beim täglichen Kampf um das Wohlergehen unserer persönlichen Schätze wie Fotoausrüstung und Schlafsack. Es galt, auf engstem Raum Ordnung zu halten, selbst auch noch genügend Platz zu finden und überdies die empfindlichen Kameras zu beschützen.

    Wie ahnungslos naiv gingen wir an diesem ersten Abend noch mit unserer Sorge um unsere persönlichen Sachen um! Ein paarmal nachsehen, ob alles richtig lag oder stand und ob der Nachbar genügend Platz hatte, weiterdösen, aufschauen, wenn jemand sich in der Nähe heftig regte, weiterdösen ...

    »… – werd’ ich meine Füße daneben ausstrecken, gut?«

    Ich reckte meine Hals, um den jungen Mann hinter mir anzusehen, der mich doch allen Ernstes über seine Absichten informierte, ehe er seine Füße mit meiner Fototasche Körperkontakt aufnehmen ließ. Karli. Ihn hatte ich schon beim ersten Treffen als recht gesprächigen, freundlichen Burschen kennengelernt. Mathematiker, im Studieren begriffen. Von Beruf Fahrradbote, vorüberfahrend, sozusagen. Blass, blond, kurzes Haar, schmaler, sensibler Mund, ausgeprägte Nase, feinnervige Hände. Der Typ, dem es zuzutrauen war, dass er meine Fototasche wirklich schonen würde, selbst da sie unter meinem Sitz vor seinen Füßen am Boden stand.

    »Ich weiß nicht, wo ich sie sonst hinstellen soll, ...« entschuldige ich mich für seine Mühe. Er neigte sich zum Spalt zwischen meinem Sitz und dem Sitz neben mir, auf dem gerade ein junger Mann saß, der Buffalo Bill verblüffend ähnelte und grinste. Neben ihm lächelte mir eine schwarzhaarige Dame mit weißer Haarsträhne auf dem Scheitel schläfrig zu, da ich meine Augäpfel verdrehte um die Lage hinter meinem Rücken endlich zu erkunden. Der Safarianzug, den die Dame trug, ließ auf ein schrulliges Wesen schließen.

    Er würde schon aufpassen, ich sollte ruhig schlafen, salbte Karli meine Nervosität sanft, und ein Blick in sein freundliches Gesicht ließ wahre Aufrichtigkeit meine Antwort nähren:

    »Dir traue ich das zu.«

    Es sei ihm eine Ehre. Und er freue sich über mein Vertrauen. Erste Konversation kurz vor dem Einschlafen. Dass er mir letzteres wünschte, konnte den Vorgang des Müdewerdens vielleicht magisch beeinflussen. Ich war bereit, es zu hoffen. Mein Gesäß brannte nämlich lichterloh. Gewicht verlagern. Seitlich rutschen. Zurückrutschen, weil die Sitzlehne sich in die Rippen bohrte. Die Beine anziehen. Beine ausstrecken. Den Kopf gegen die Schulter neigen wollen und feststellen, dass bei aufrechter Haltung der Hals zu lang ist, um das zuzulassen. Den Kopf gegen den Sitz lehnen und mitbekommen, wie der eigene Mund beim Dösen aufklappt und Spucke sich in den Mundwinkeln sammelt. Verlegen das Genick steif machen und wieder vollends wach, wenn auch von Schwindelgefühl geplagt werden ... Das Knarren der Sitze bewies, dass auch einige der anderswo Anwesenden soeben derart unerfüllbaren Bedürfnissen wie bequemes Ruhen oder Entspannung wehrten.

    Jemand schaltete das Licht aus.

    Wir waren sicher schon stundenlang unterwegs, und ich stellte mir vor, wie wir an der italienischen Grenze Aufsehen erregen würden ...

    Plötzlich Gelächter. Ich erschrak ... also war ich wohl tatsächlich ins Dösen abgeglitten. Diese Tatsache gab Anlass zur Hoffnung auf Schlaf.

    »Wisst ihr, wie weit wir jetzt gefahren sind?« fragte jemand. Zweihundert Kilometer, schätzte ich.

    »Knapp sechzig Kilometer. Gerade habe ich eine Tafel gesehen ...«

    Die Discomusik war verstummt. Jedes Flüstern war verstummt. Sogar das Quietschen der Sitze blieb minutenlang aus. Dann erhob sich Raunen wie bei einem zweifelhaften Manöver des Starkickers während eines Fußballspiels. Sechzig Kilometer. Wir würden Tage bis Sizilien brauchen! Der Erboste von vorhin schüttelte den Kopf. Trotz Ohropax hatte er wohl die peinvolle Information mitbekommen. Das Gemurmel erholte sich, schwoll an.

    Mein Gegenüber starrte mir Löcher in die Müdigkeit. Ich konnte diese blitzenden Augäpfel im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos leider genau erkennen. Sicher schaute ich furchtbar aus, bleich, mit vor Müdigkeit winzigen Augen, zerzaust ... das geschah ihm recht, dem Gaffer. In diesen ersten Stunden verfluchte ich mein Schicksal, das mich nicht mit Hexenkräften bedacht hatte. Armin hätte die ersten vierzehn Tage der Reise verschlafen. Oder besser, gleich die ersten Monate.

    Die Müdigkeit ließ mich gerade noch die erste Pinkelpause auf der Autobahn überstehen, zu deren Abhaltung erstmals unser Interkomman-Sprachrohr beitrug. Die Sprechverbindung zum Fahrer sah aus wie ein Elefantenrüssel: ein gerippter Schlauch, der aus der Trennwand zur Fahrerkabine ragte.

    »Bert!« rief Armin, mein Gegenüber, so laut in den Rüssel, dass ein paar Dösende erschrocken Laut gaben. Keine Reaktion aus der Fahrerkabine. Nur Motorenlärm. Das Sprachrohr wurde an Armins Oberlippe und Kinn gepresst. ,Pfui Teufel,‘ dachte ich, ,... wer weiß, woher dieses Rohr stammt.‘

    »Bert!« schrie Armin.

    Nichts. Aber ich war sicher, Gekicher aus der Fahrerkabine zu vernehmen. Hörten die beiden da vorne, Bert und der Reservefahrer Gerry, Radio?

    »Bert!« schrien wir.

    »Ja?« ertönte fast unhörbar Bert’s Stimme aus dem Führerhaus.

    »Pinkelpause!« brüllte Armin in das Rohr, sodass es Berts Trommelfell nahezu zerreißen musste am anderen Ende der provisorischen Telefonleitung. Alfi, der Erboste, schüttelte den Kopf und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

    »Die Heizung funktioniert auch nicht, sag’ ihm das,« murrte er.

    »Sag’s ihm selber!« Armin bot Alfi den frechen, brennenden Blick, mit dem er mich seit Stunden beglückte und das Rohr. Alfi winkte ab.

    »Keinen Bock.«

    »Jetzt schon?« forschte Bert’s Grabesstimme aus dem Führerhaus.

    »Das Bier. Es kommt zurück! Gleich! Auf den Sitz!«

    Immerhin hielt der Wagen ziemlich bald nach der fünften Aufforderung zum Halten. Später sollte Bert uns nicht mehr dermaßen verwöhnen.

    In der eisigen Nachtluft einer Autobahnstation zwischen gähnenden Gestalten und prasselnden Geräuschen umherirrend, geblendet vom Scheinwerferlicht vorüberfahrender Autos, entdeckte ich so schnell keinen Platz, der Blase und Schamgefühl gleichermaßer als passend zur Entspannung erschien. Die Absicht, zu pinkeln zu verwirklichen, war schwieriger, als ich immer geglaubt hatte.

    Ein wuschelhaariger, bebrillter Mann, einem zornigen Waldkauz gleichend, eingehüllt in Zigarettenrauch, widmete meinen Nöten schielend seine Aufmerksamkeit. Ein verwirrender Kobold ...

    »Suchst du den gestrigen Tag?«

    Ich ließ ihn stehen.

    »Brommel, der Fahrer vom Tarzan« erklärte Anita, eine fröhliche Burgenländerin, vielsagend meinem müden Ohr. Der Mann grummelte tatsächlich vor sich hin, während nun Bert mit ihm sprach. Brommel hielt den Kopf gesenkt, als müsste er eine Standpauke über sich ergehen lassen.

    Anita und ich stapften ins nachtfeuchte Gebüsch.

    Später standen wir etwas besser gelaunt in Uhurus Schlagschatten auf der von der Autobahn abgewandten Seite und beobachteten die anderen beim Rauchen oder Sichstrecken. Kaum ein Gesicht, zu dem ich auch den Namen wusste. Anita fasste mich am fröstelnden Arm und deutete auf den vormals so erbosten Discofeind, der soeben seine hagere Gestalt über das Metallgestänge der kleinen Stiege ins Innere des »Uhuru« schwang.

    »Könnten wir den nicht gleich hier lassen?«

    Schließlich kamen wir überein, dass wir ihn doch erst ein wenig unter die Lupe nehmen und uns eventuell im Dschungel seiner entledigen würden.

    Danach dösten wir unseren ersten, unruhigen, unbequemen Schlaf im »Uhuru«, gegen Sitze gestemmt, zusammengerollt und selbst im Schlaf noch jeder Bewegung des Fahrzeuges gewahr, um uns im Falle einer Notbremsung oder ähnlichem rechtzeitig festhalten oder in eine stabile Sitzposition zurückkehren zu können – eine notwendige Geschicklichkeit, die uns in Fleisch und Blut übergehen sollte. Heute noch verhalte ich mich beim Bahnfahren zuweilen so, sagt man, als könnte der Zug jederzeit durch ein Schlagloch holpern und als müsste ich mich rechtzeitig abstützen, um nicht meine Hirnschale, meine Armknochen oder meine Rippen irreparabel geschädigt zu sehen ...

    Erfahrungsaustausch am nächsten Morgen ergab, dass keiner von uns bislang seine Hinterbacken als so empfindliche Körperteile kennengelernt und seine Rückenmuskulatur für derart unzureichend gehalten hatte, wenn es darum ging, den Körper eines Bipeden auf einem schmalen Sitz aufrecht zu erhalten und dennoch Schlaf zu finden. Beine schrien nach zwei Stunden und dann in immer kürzeren Abständen danach, ausgestreckt zu werden – doch, wohin? Jeder hatte ein Gegenüber oder doch die Lehne des Vordersitzes und darunter das Gepäck des Vordermannes vor sich. Hüftgelenke und Wirbelsäule schienen aus ihren Verankerungen geraten zu sein, wollte man sich endlich bewegen, nach Ewigkeiten des Stillhaltens aus Rücksicht auf den Nebenmann. Gelenke begannen zu knirschen, zu schmerzen, als seien sie mit zersetzendem Gift gefüllt. Dann starben sie einfach ab, oder wir wurden bewusstlos – wer weiß das schon heute noch?

    Eiskalte Nachtluft drang durch die Fensterritzen, und alle gesammelte Körperwärme reichte nicht aus, das Temperaturbedürfnis Schlaftrunkener zu befriedigen. Wir froren.

    Damit hatten wir nicht gerechnet. Vielleicht war es die Ungeheuerlichkeit dieser Erfahrung oder die Hoffnung, der Zustand werde sich im nächsten Moment von selber zum guten kehren – wir beschwerten uns nicht. Kleidungsstücke über uns türmend, die uns beim kleinsten Manöver zur Änderung der Position in Erstickungsgefahr im Ruhen brachten, suchten wir den Schlaf wie Babies die Mutterbrust.

    Die grauenvolle Nacht auf der Autobahn hatte erst ein Ende, als wir uns im winterweißen Morgenlicht mit steifen Beinen und bläulich verfärbten Lippen unsicher wie neugeborene Kälber nahe der Kärntner Grenze zu Italien in Arnoldstein an einer Raststätte aus dem Wageninneren befreiten.

    Morgenröte

    Sieben Uhr dreißig des ersten Reisetages

    Die Kunde von der Öllache unter »Uhurus« Bauch machte ihre Runde unmittelbar nachdem wir uns gegenseitig aus den Wagen gedrängt hatten, steif wie erfrorene Heringe. Einige plötzlich Hellwache hatten Philipp, genannt »Brommel«, auf Knien über den Asphalt rutschend Morgenandacht unter »Uhurus« Bauch betreiben sehen.

    »Nichts besonderes«, brummte Brommel, steckte sich mit zitternden Fingern eine geknickte Zigarette zwischen die Lippen und entzündete sie nach fünf, sechs vergeblichen Versuchen mit seinem Feuerzeug, und niemand mochte sich zur frühen Stunde noch eingehender mit einer Lappalie wie etwas, das aussah wie ein Ölfleck befassen. Wir waren auf einer Autobahnraststätte in Arnoldstein, an der Kärntner Grenze zu Italien, gelandet. Meine Füße waren so kalt, dass ich die Zehen nicht bewegen konnte.

    Im Gastraum der Raststätte begrüßten wir den modrigen Geruch nach Rauch, Kaffee und Poliermittel als sei es bereits der Duft der warmen Tropen, den abgetretenen Holzboden und das neugierig, dicke Gesicht der Bedienerin als würden wir einen langersehnten, erholsamen Urlaub bei einer wohlmeinenden Tante antreten dürfen. Unsere Gesichter begegneten einander erstmals im unbarmherzigen Tageslicht, ungewaschen, erschöpft, noch schlafgezeichnet, doch lächelnd vor Erleichterung, das verkrampfte Unbehagen fürs erste ausgestanden zu haben. Wir wussten noch nicht, ob wie einander sympathisch finden sollten, bewegten uns langsam, als umschlichen Raubtiere einander, unschlüssig, ob sie zuerst die Artgenossen beschnuppern oder aus nagendem Hunger auf Jagd gehen sollten.

    Der erboste Musikkritiker vom Vorabend lehnte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, in blauem Anorak etwas abseits an der Theke. Nachdenklich wirkte er nun und ein wenig verlegen.

    »Morgen,« krächzte ich, als ich an ihm vorüber schlich. Halsschmerzen kündigten sich an. Er musterte mich, als könnte er nicht fassen, dass jemand das Wort an ihn richtete. Er antwortete mit einem Heben des Kopfes und einem Lächeln, und dieses Lächeln wärmte mich mehr, als die Aussicht auf eine Tasse heißen, sehr, wirklich sehr heißen Kaffees.

    Eine Frau mit blonden, mausfellkurzen Haaren beobachtete mich. Ich spürte ihren Blick im Rücken, ehe ich ihn sah, folgte ihm wie am Gängelband, augenblicklich einverstanden mit ihrer Art der Initiative. Irgendwann würde ich ohnehin ausforschen müssen, mit wem genau ich mich in ein Boot gesetzt hatte.

    »Ich bin Silvia.« Ihre graublauen Augäpfel hafteten minutenlang an meinen Zügen, ihre Lippen blieben schmal und starr. Als sie mich anlächelte – ich hatte ihr wegen meines Erstaunens über ihren harten Blick nicht zugehört, was sie gesagt hatte –, zwangen ihre scharfen, weißen, fast bedrohlich gebleckten Schneidezähne mich dazu, mich fröstelnd abzuwenden. Eine Lehrerin, wusste ich aus ihren Reiseunterlagen.

    Erleichtert entdeckte ich Anita in meiner Nähe. Sie war mir vertraut, als würde ich sie schon lange kennen. Vielleicht war es ihre muntere Aufmerksamkeit für alles und jedes und ihre unbefangene Art, sich unter den fremden Leuten zu bewegen, die mich ermutigte und zugleich beruhigte. Jeder von uns hatte bereits einen Mitreisenden an der Angel, zu dem er – und sei es nur durch die Sitznachbarschaft – einen stabileren Draht hatte als zu den anderen. Nur drei, vier der mitreisenden Burschen kannten einander privat schon länger, und die beiden Pärchen, Inga und Rudi und Dunja und Paul bildeten jeweils ihre eigene kleine Gruppe.

    Inga und Rudi pflegten ihre Beziehung auffällig intensiv. Sie agierten, so weit ich das bislang beobachten hatte können, kaum jemals mehr als ein paar Meter voneinander getrennt. Auch während der Pinkelpausen. Inga streichelte Rudi den Rücken, fuhr ihm mit den Fingern durch die strubbelige Frisur. Rudi rieb Ingas Hände, hängte ihr die Jacke um. Ein wenig abseits im Restaurant blieben die beiden doch ständig in Blickkontakt mit dem Rest des Rudels, als wollten sie in stillem Einvernehmen vermeiden, uns den Rücken zuzuwenden.

    Eine hübsche, zarte Frau um die vierzig, mit schulterlangem, glatten, dunklen Haar, hatte ihren Platz im »Uhuru« neben dem »Erich, dem jüngeren« (es gab auch einen »älteren«, hatten Anita und ich bereits herausgefunden) gewählt. Auch falls es umgekehrt gewesen sein sollte – die beiden blieben im Restaurant weiter beisammen und unterhielten sich angeregt. Dreister um mich blickend entdeckte ich weitere Gesichter, die mich ebenso neugierig betrachteten, wie ich sie, als versuchten sie, Gesichtszüge, Kleidungsstücke und Namen der neuen Bekannten auswendig zu lernen.

    »Ach Gott,« seufzte die Lady im Safarianzug, die im Wagen hinter mir den Platz neben Karli innehatte, im Vorübergehen. Sie lächelte mich an, ein wenig leidend wie die Madonna, hob schwach die Hand und sang, gesenkten Hauptes, leise vor sich hin. Ihre weiße Haarsträhne auf dem Scheitel leuchtete.

    »Hallo! Ich bin Dunja!« Ein blonder Lockenschopf umrahmte ein ausgesprochen hübsches, rundliches Gesicht. Von einem dicken Turnschuh auf den anderen hüpfend, ruderte die kleine Mollige mit den Armen und warf die Locken. Sie hatte sicherlich recht, sich durch Turnübungen aufzuwärmen, aber mir fehlte das Selbstbewusstsein, mich zum Amüsement der anderen auszutoben, »... scheußliche Nacht, was?« Der slawische Akzent klang allerliebst. Ehe ich antworten konnte, jubelte sie »Ach, da ist Milan! Kennst du Milan schon? Ach ja, klar kennst du Milan!« Sie fischte sich einen grinsenden, verblüffend attraktiven jungen Mann von seinem Thekenplatz her an ihre Seite und nahm ihn ins Schlepptau durch die morgendliche Versammlung. Ihr Lachen plätscherte unaufhörlich durch Tassenklirren und Gemurmel. Und Paul, seinem Namensvetter Newman nicht unähnlich, folgte ihr geduldig. Ilse schaute ihm versonnen nach. Keiner von uns sollte es je schaffen, der wahren Natur dieser seltsamen Ehebeziehung zwischen der polnischen Architekturstudentin Dunja und dem frischgebackenen Arzt Paul, vielleicht war er ebenfalls Pole, auf die Spur zu kommen. Sicher ist jedenfalls, dass die beiden

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