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Dog Soldiers: Das Vermächtnis der Bärenfrau
Dog Soldiers: Das Vermächtnis der Bärenfrau
Dog Soldiers: Das Vermächtnis der Bärenfrau
eBook273 Seiten3 Stunden

Dog Soldiers: Das Vermächtnis der Bärenfrau

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Über dieses E-Book

Zwei Grenzläufer finden durch Zufall einen Durchlass zu einem längst vergessenen Ort – eine Höhle, durchzogen von einer enormen Goldader. Nur eine blutjunge Indianerin beobachtet die beiden Männer, von denen nur einer die Höhle wieder lebend verlässt, entschlossen den Fund auf ewig geheim zu halten. Doch von diesem Gold weiß bald schon der gesamte Westen Amerikas, und Glücksritter aus allen vier Erdteilen suchen nach der "Lost Dutchman Mine". Umsonst! Nur "Bärenfrau", die vom eigenen Volk verstoßene Indianerin, kennt fortan das Versteck. Im Sog dieser Goldgräberstimmung möchte eine Gruppe Schausteller die Chance nutzen, reich und bekannt zu werden. Ein Frontiersmann führt sie hinauf in die Berge, wo sie anstatt Ruhm einen grausamen Tod finden. Nur der Seiltänzer Andrew überlebt und Bärenfrau nimmt sich seiner an, doch sie ist wie ihr Land: wild und grausam.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Okt. 2016
ISBN9783738089905
Dog Soldiers: Das Vermächtnis der Bärenfrau

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    Buchvorschau

    Dog Soldiers - Thomas GAST

    Widmung

    „Die Sehnsüchte des Menschen

    … sind Pfeile aus Licht."

    Weisheit der Cheyenne

    Dieses Buch widme ich voll Dankbarkeit meinem Freund Michael, dem „Poesiepiraten." Wir hatten eine schöne Zeit, damals, und der Zauber lebt weiter!

    Vorwort

    Paris, 1901

    Mein Name ist Andrew Morlock-Fontaine. Ich bin zu dem Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, etwa fünfundsechzig Jahre alt. Mein Haar ist grau, ich sehe nicht weiter, als ich einen Stein werfen kann, und laufen gelingt mir nur mühsam am Stock. Vor kurzem fiel mir zu allem Übel beim Urinieren auf, dass mein Strahl nur noch ein erbärmliches Rinnsal war. Wenn ich in den Spiegel sehe, starrt mich ein Monstrum an, doch es gab eine Zeit, in der alles anders war, und von dieser Zeit möchte ich erzählen. Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen!

    Eine Geschichte, die sich in einem fernen, fremden, dunklen Land abspielte, unter fremden und dunkelhäutigen Menschen. Für mich hatte dieses Leben damals tausend Gesichter. Mal war es hart, grausam, absurd und Zeuge von menschlicher Dummheit, dann wieder erschien es mir faszinierend, voller atemberaubender Schönheit, voll mit Wundern, zerbrechlicher Neugier und nie gestilltem Wissensdurst. Mir geht es aber beileibe nicht nur darum, einen Streckenabschnitt im Leben des jungen Mannes zu erzählen, der ich einmal war, und noch weniger geht es mir darum, zu versuchen, eine historische Epoche, wie den Aufbruch in den Westen eines schier unendlichen Kontinents, wieder aufleben zu lassen, nein! Ich will vielmehr ganz unabhängig davon hervorheben, wie dunkel, wie kalt und grausam die tiefen Abgründe der Seele eines Mannes sein konnten, dem das Leben ganz unverhofft all das schenkte, wonach er sich unbewusst immer schon gesehnt hatte, der dann aber ohnmächtig mit ansehen musste, wie das Tier Mensch ihm all dies wieder nahm. Auch wenn meine Erlebnisse von dramatischen Ereignissen überschattet waren und sich für mich die Welt irgendwann mittendrin aufgehört hat zu drehen, auch wenn Zeit und Ort an einem ganz gewissen Punkt meines Lebens ihren Sinn verloren, so kommt nun doch, im Alter, die Erinnerung mit aller Macht zurück.

    Alles begann mit einem Traum …!

    Prolog

    Wiser und Walz

    Wiser stieß zufällig auf die Höhle, ein knorriger, vom Ostwind geduckter Baum wies ihm den Weg. Wie er später zu Walz sagte, hatte er die Nacht zuvor von diesem Baum geträumt. Der Baum war uralt. Auf seinen dicken Stämmen war sterbende Rinde zu sehen, die wie alte ledrige Haut an ihm herunterhing. Wiser kannte diese Art Bäume, und er wusste, dass sie hauptsächlich in wärmeren Gefilden zu finden waren, unten in Arizona oder in den Geröllwüsten Mexikos. Aber hier?

    Walz, ein stämmiger Deutscher, dachte wohl ähnlich. Neugierig trat er näher. »Das ist ein Palo Verde!«, sagte er überrascht.

    »Und ich will verdammt sein, wenn ich daraus schlau werde«, erwiderte Wiser. »Übrigens, wusstest du, dass die Apachen in den Dragon Mountains Mehl aus der Rinde des Palo Verde machen?«

    Walz zog nur die Schultern hoch. »Nein, das wusste ich nicht.«

    »Doch, doch. Sie mischen es mit dem Mehl von Eichen und machen Suppe und Brot draus. Schmeckt gar nicht so übel, das Zeug.«

    Walz’ Gesichtsausdruck verhärtete sich. Er konnte Indianer nicht riechen und weiterhin konnte er es sich auch schwer vorstellen, dass Indianer so etwas Wertvolles wie Mehl oder gar Brot herstellten.

    »Ich hatte da ein Mädchen«, rechtfertigte Wiser sich ohne Grund. »Sie war Chiricahua.«

    Ein Geräusch am Fuße des Baumes ließ ihn aufhorchen. Dort sprang ein fettes Karnickel flink auf den Palo Verde zu. Als es ihn sah, immobilisierte es sich eine schier endlose Sekunde lang und hoppelte schließlich auf die Felswand zu, an welche sich der Baum angelehnt hatte. Dann war es plötzlich spurlos verschwunden.

    Wiser war sofort Feuer und Flamme. »Sag, Walz, wann hatten wir zuletzt ein saftiges Karnickel? Vor einem Jahr, vor zehn Jahren?«

    Walz dicht auf den Fersen, kroch er mit gezogenem Revolver in das Geäst, wo sich urplötzlich eine Höhle vor ihren Augen auftat. Als sie dann eine Stunde später den unterirdischen Raum fanden, in dem das Gold lag, war das Karnickel längst vergessen. Wiser tanzte vor Glück. Er fiel auf die Knie und streckte die Arme weit von sich. »Das … das ist Wahnsinn. Sieh doch, Walz, wir sind gemachte Männer!«

    Er schloss seine Augen, träumte von einer besseren Zukunft, was ein Fehler war, ein Irrtum, den er mit dem Leben bezahlen sollte, denn als er die Augen wieder öffnete, starrte er direkt in die Mündung von Walz’ Revolver.

    »Du warst immer schon ein Dummkopf, Wiser, das wollte ich dir seit Jahren schon sagen.«

    Ohne seinem langjährigen Begleiter auch nur den Hauch einer Chance zu geben, drückte er ab. Wisers Tod bedauerte er keine einzige Sekunde. Ein irres Flackern in den Augen, widmete er sich den wie Arterien verzweigten Goldadern, die so dick waren wie sein Daumen und so rein und pur, wie er es selten gesehen hatte.

    Zwei Dinge jedoch übersah Walz in seinem Rausch. Kaum nämlich war das Echo der Detonation verklungen, bewegte sich eine riesige Gestalt auf den Ausgang der Höhle zu und verließ diese lautlos wie ein Schatten, einen Geruch hinterlassend, der an eine scheußliche Pest erinnerte. Und dann übersah Walz, oder er hörte und spürte es nicht, wie die Höhle sich kaum merklich bewegte, aufächzte, so als ob das Gewicht der hunderttausenden von Tonnen des Berges auf ihr sie bald unter sich begraben würde. Ein Riss in der Felswand hinter ihm hätte auch das stärkste Gemüt in Panik versetzt, doch Walz bekam von alldem nichts mit und war zufrieden, war glücklich, denn er hatte den größten Goldfund gemacht, von dem ein Mensch nur träumen konnte. Bald wusste der gesamte Westen Amerikas davon, und Glücksritter aus allen vier Erdteilen suchten nach der Lost Dutchman Mine: Umsonst! Nur eine einzige Person, eine vom eigenen Volk verstoßene Indianerin, kannte das Versteck. Die Indianer nannten sie Bärenfrau.

    Frankreich 1859

    Wir lebten damals in Le Havre. Meine Mutter, Julie Fontaine, eine rassige Kreolin aus Hispaniola, starb, als ich sieben war, an Syphilis. Mutters Erbe an mich waren der schlanke Körper, eine fast feminine Sensibilität und Zartheit und die katzenhaften Bewegungen, Dinge also, aus denen ich Jahre später ausreichend Kapital zu schlagen gedachte. Mein Vater, Michael Morlock, war ein Flibustier, ein echter Seeräuber, der zeit seines Lebens zunächst seine Frau und danach sein Kind sträflich vernachlässigt hatte, nur um die Gewässer der Karibik bei Jamaika, Maracaibo und Panama unsicher zu machen. Ich hatte diesen Mann nur dreimal in meinem Leben gesehen und jedes Mal kam er mir vor wie der Satan in Person: Ein Prahlhans und ein Angeber, ständig betrunken und auf der Suche nach Streit mit den Behörden oder nach sonstigem Verdruss! Ich denke, es ist schlimm, so etwas von seinem eigenen Vater zu denken oder gar zu sagen, doch die Tatsachen konnte ich nicht wegleugnen. Eines Tages, nachdem Vater mit seinem Schiff aufgebrochen und wir monatelang ohne Nachricht von ihm waren, erreichte uns die vage Botschaft, dass man ihn im Karibischen Meer an Bord einer Schaluppe wegen Meuterei am Galgen aufgehängt hatte. Doch dies geschah zu einer Zeit, in der ich mich längst von ihm und vom Rest meiner Familie losgesagt hatte, und sein Tod war für mich von daher keine Tragödie. Jemand, den ich vage kannte, war gestorben, mehr war es nicht. Auch heute noch, wenn ich zurückdenke, ist mir der Tod dieses Mannes ziemlich gleichgültig. Meine Mutter, so hatte man mir erzählt, hatte ihn abgöttisch geliebt, während er sie in den letzten Monaten, die sie miteinander verbrachten, behandelte wie ein Stück Dreck, und das obwohl er um ihre Gefühle und um ihren Zustand gewusst haben musste. Sie war schwanger! Er hingegen hatte sich anderen Frauen gewidmet, weil ihr runder, weißer Bauch ihn angeblich abgestoßen hatte. Nach Mamas Tod nahm eine Tante mich unter ihre Fittiche und adieu, Le-Havre, denn Tante Martine wohnte in Paris. Ich wuchs in Paris in einer Epoche auf, die von zwei total unterschiedlichen Gesellschaftsschichten geprägt war. Hier die Reichen, die sich ihre Rechte und ihre Freiheit kaufen konnten und dies auch zur Genüge taten, und dort die armen Leute, für welche die Existenz nichts weiter als ein ständiger tagtäglicher Kampf ums nackte und pure Überleben war. Meine neue nette Familie zählte eindeutig zur zweiten Kategorie, und deswegen war mir Hunger kein Fremdwort. Aus der Notwendigkeit heraus, angestachelt von Tante Martine und ihrem Taugenichts von einem ständig betrunkenen Mann, lernte ich schon früh, Brieftaschen, silberne Uhren, Anstecknadeln und sogar Ringe zu mopsen. Ich war sogar richtig gut darin. Die Sachlage war einfach. Je mehr ich heimbrachte, desto öfter ließen sie mich in Frieden und umso mehr konnte ich mir den Wanst vollschlagen. Kam ich dagegen mit leeren Händen, so musste ich hungern, und ich dachte damals wirklich, die Welt bestünde nur aus langen Hungerstrecken und endlosen Überlebenskämpfen. Bis zu jenem Tag, auf den mein neunzehnter Geburtstag fiel.

    Robbles, ein renommierter Zirkusdirektor, wurde auf mich aufmerksam und nahm mich fortan unter seine Fuchtel. Er hatte ziemlich rasch erkannt, dass das Diebshandwerk bei weitem nicht meine brillanteste Gabe war. Ich hatte das Talent, ein großartiger Artist und Seiltänzer zu werden! Robbles’ Etablissement nannte sich das Théâtre du Merveilleux und es zog die Massen an wie frischer Kot grün schillernde Mistfliegen. Ein treffenderer Vergleich fällt mir nicht ein. Die Menschen kamen herbeigeströmt, weil Robbles ihnen das bot, was sie zu jener Zeit brauchten, ob arm oder reich: Träume und etwas Licht im Schatten des grauen Alltags. Die ganze Truppe war ein Kunterbunt aus Akrobaten, Tänzern, Clowns, Jongleuren und Tierbändigern, aber außerhalb der Zirkuskuppel gab es auch Schießwägen und Schaukeln und natürlich Stände mit allerlei kulinarischen Verköstigungen. Zuckerwatte, kandierte Äpfel, gebrannte Mandeln, gegrillte Makrelen, Orgelmusik und ich erspare mir den ganzen Rest. Die Zeit mit Robbles und seiner Traumfabrik war jedoch nur begrenzt, denn der gute Mann verschwand eines Tages mit den Einnahmen eines ganzen Jahres, und es gab niemanden, der sich zutraute das Ruder in die Hand zu nehmen. Überdies drohte uns allen das Zuchthaus, weil unser Freund auch vergessen hatte, die anfallenden Steuern zu zahlen, und so zerstreute sich die Truppe innerhalb recht kurzer Zeit in alle Winde, wobei jeder mitnahm, an was er Hand legen konnte. Einzig eine kleine Gruppe mit mir an ihrer Spitze blieb nach der Trennung zusammen. Wir wollten wegen Robbles’ krummer Geschäfte unsere Talente und vor allem unsere Freundschaft nicht einfach in den Wind schießen, und so formierten wir uns unter dem Namen Cirque Du Rêve in einem anderen Stadtteil neu. Irgendwann gesellten sich dann langsam andere Künstler zu uns, und aus einem anfänglichen Viermannspektakel formte sich ein Ensemble, das von der Anzahl seiner Mitglieder und von seiner Vielfältigkeit her diesen Namen auch verdiente: Zirkus der Träume!

    Der Erfolg jedoch blieb aus. Es schien gar, als hätte Robbles uns mit einem Fluch belegt, kurz bevor er verschwand. Eines Tages fiel mir dann dieses Buch mit dem Titel The Far West in die Hände. Ich las es an einem Tag und ohne dass ich mich daran erinnern konnte, es auch nur ein einziges Mal länger als eine Minute weggelegt zu haben, und während des Lesens hatte ich urplötzlich eine Idee, die mich nicht mehr losließ.

    Und so hatte alles begonnen ... mit einer verwegenen Idee!

    Paris, November 1859, einen Monat später

    Seit Stunden regnete es ohne Unterlass. Der Wind fauchte wie ein Ungetüm, fuhr in und durch alle Ritzen und legte offen dar, wie unzulänglich wir nach dem letzten Herbststurm die Kuppel und die schrägen, einsam im Wind vor sich hin flatternden Seitenwände des Zeltes ausgebessert hatten. Wir, damit meinte ich Phillip de la Tour und seine Frau Margaret, beide wie ich Hochseilartisten. Dann waren da natürlich Julius Wegener, unser Clown, Mary und Jo Ann, zwei Schwestern aus Schweden, die ohne Ausnahme alle Männer verrückt machten, wenn sie ihre Röcke durch die Luft wirbelten und man ihre nackten Schenkel bewundern konnte. Kenneth, unser Messerwerfer, und Paul Bailey, ein Ire, der von Bordeaux aus zu uns gestoßen war, gehörten ebenfalls dazu, und dann natürlich Carmen, meine über alles geliebte Carmen.

    »Die Niagarafälle? Das ist Selbstmord!«

    Phillip saß auf einem vom Regen feuchten Strohballen und rauchte.

    Wir anderen tranken heißen Kaffee mit einer Spur Cognac darin. Es war kalt. Der Atem wurde zu Eiskristall, sobald er die Lungen verließ, unsere Finger waren klamm und blau, unsere Nasenspitzen rot und mit feinen Adern durchzogen. In den Augen der anderen bemerkte ich ein seltsames Glänzen, das ich nicht nur mit dem Alkohol in Verbindung bringen wollte.

    Hatte es vielleicht mit meinen verwegenen Plänen zu tun?

    »Irgendwann wird es jemand wagen, und dieser Jemand wird reich und berühmt werden!«, hielt ich dagegen.

    Phillip sah mich aus müden Augen an. Er kannte meine Ambitionen und wusste, dass meine Worte hauptsächlich an Carmen gerichtet waren, die einige Schritte weiter entfernt den Kopf gehoben hatte und unser Gespräch höchst aufmerksam verfolgte.

    Sie sah mich an, wurde rot und sah schnell wieder weg.

    Plötzlich war Phillip hellwach. Ihm war wohl der Ernst in meiner Stimme erst jetzt aufgefallen.

    »Ich kenne da aber jemanden, der angeblich schon mal dort war«, sagte er aufgeregt.

    »Am Grand Canyon?«, fragte ich sprachlos und mein Herz schlug Stakkato.

    Er blinzelte leicht irritiert.

    Ein kurzer Seitenblick verriet mir, dass, der Kälte zum Trotz, fast alle dem Thema nun ihre vollste Aufmerksamkeit gewidmet hatten, und das war schon mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.

    »Nein, nein, nicht am Grand Canyon«, sagte Phillip. »Wir sprachen doch von den Niagarafällen!«

    Auch er erhob sich. Sein mahnender Blick wirkte ernüchternd auf mich, berührte jedoch einen Stachel, der sehr tief saß.

    »Dieser Jemand«, fragte ich aufgewühlt. »Könnte er uns hinführen?«

    »Zu den Niagarafällen? Die Reise würde Monate dauern! Außerdem«, so fuhr er etwas ernüchtert fort, »ist der Mann, von dem ich spreche, weit über neunzig, bettlägerig und halb blind. Leider, und das ist wohl das Schlimmste an der Sache, spielt ihm seit kurzem auch sein Gedächtnis ab und zu einen Streich. Wenn ich es mir jetzt so richtig überlege, denke ich, ich hätte ganz einfach meinen Mund halten sollen. Also lasst uns die Sache einfach vergessen und …«

    »Und was?«, unterbrach ich ihn entrüstet. Nichts hielt mich mehr auf dem Strohballen, der meinem Hintern eh nur Frostbeulen bescherte. »Sollen wir warten, bis Paris aufwacht und händeringend nach unseren drittklassigen Aufführungen schreit? Sollen wir hier im Dilettantismus versinken, während in der Neuen Welt eine dicke Scheibe vom großen Kuchen auf uns wartet?«

    Ich hatte meine Stimme erhoben und sah, wie sich die anderen neugierig näherten. Carmen stand hinter mir, und so konnte ich den entzückten Ausdruck in ihrem Gesicht nur erahnen. Es gab nun kein Zurück mehr. Euphorisch erklärte ich mich.

    »Gut! Es müssen nicht gleich die Niagarafälle sein. Aber lasst uns zumindest Spektakel machen, großes Spektakel!«

    Ich machte eine weit ausholende Geste, drehte mich langsam um die eigene Achse und blinzelte Carmen zu.

    »Hier kennt uns niemand, warum wohl eurer Meinung nach?«

    Keiner machte sich die Mühe mir zu antworten. Wie eine Herde Schafe, die es gewohnt war, dass man die Antworten auf Fragen gleich mitlieferte, glotzten sie mich nur abwartend an.

    »Herrgott!«, entfuhr es meinen Lippen. Ich war mir dabei der Theatralik des Augenblicks nur allzu sehr bewusst. »Weil es hier Künstlertrupps, wie wir es sind, zu Hunderten gibt. Das Podium ist platt, übersättigt, gelangweilt. Dort aber …«

    Ich deutete mit dem Zeigefinger auf die gegenüberliegende nackte Wand, was Sinn machte, denn dort war Westen. »Dort drüben bauen sie neue Städte. Große Städte, und die Männer und Frauen dieser Städte heischen im Stillen nach Abwechslung. In den vorgeschobenen Forts langweilen sich Soldaten zu Tode. Soldaten, Büffeljäger und Trapper verbringen ihre Tage mit Saufen und …«

    Kurzatmig hielt ich inne und sah kurz zu Carmen hinüber, bevor ich hitzig fortfuhr.

    »Nun ja … Mit Saufen und mit dem nackten Fleisch irgendwelcher Squaws. Nur allzu gern würden sie die Hälfte ihrer Ersparnisse für eine etwas zivilisiertere Zerstreuung ausgeben. Oder stellt euch nur die Goldgräber vor, die unsere Vorstellungen sicherlich mit Goldstaub oder Nuggets bezahlen könnten, oder die Eisenbahnarbeiter, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen würden, nur um Marys und Jo Anns Cancan-Künste zu bewundern, und ...«

    »Ärsche!«, fiel Paul mir laut ins Wort. »Marys und Jo Anns Arsch wollen sie bewundern, weil’s zur Abwechslung mal weiße Ärsche sind und keine braunen der Squaws.« Er lachte.

    Carmen wurde wieder rot, doch Paul legte noch einen drauf.

    »Es heißt ja, dass Indianersquaws nicht so katholisch sind wie unsere prüden Bräute hier in Europa. Ich könnte mir sogar vorstellen ...«

    Mein scharfer Blick ließ ihn augenblicklich verstummen. Innerlich triumphierte ich, denn als ich wieder das Wort übernahm, klebten alle Blicke förmlich an meinen Lippen. Meine Idee hatte alle in ihren Bann gezogen. In allen Augen sah ich mehr als nur ein interessiertes Funkeln. Ich sah endlich Hoffnung!

    Kenneth, die stumpfen Wurfmesser in der Hand, schob sich in den Vordergrund.

    »Und woher weißt du das alles?«

    »Ja«, fragte nun auch Phillip. »Woher weißt du das?«

    »Woher, woher!«, äffte ich sie nach. »Könnt ihr denn nicht lesen? Die Zeitungen sind voll davon, New York, New Orleans, Baltimore. Jeden Monat laufen Schiffe aus. Sie fahren in die Neue Welt, kommen zurück mit Menschen an Bord, die drüben waren. Und die davon erzählen ...!«

    »Ja. Menschen, die zurückkamen und erzählen, dass sie’s nicht geschafft haben!«, warf Phillip erzürnt ein. Er kam mir vor wie jemand, der sogar mitten im Hochsommer beim kleinsten Problem kalte Füße bekam. Sein Mangel an Abenteuerlust, an Mut und an Vertrauen missfiel mir immer mehr. War das der Phillip, den ich vor Tagen noch auf dem Hochseil bei einer waghalsigen Nummer und ohne Netz und doppelten Boden gesehen hatte?

    Mir platzte endgültig der Kragen.

    »Falls ich jedes Mal, wenn ich Angst habe etwas nicht zu schaffen, gleich die Flinte ins Korn werfe, dann sollte ich den Beruf wechseln. Angst lähmt, Angst ist der schlimmste Feind von Zuversicht, Angst hat noch nie dazu beigetragen, irgendwo eine bessere Welt zu schaffen!«

    Ich schrie es fast, worauf alle entsetzt zurückwichen. Ich musste wohl ausgesehen haben wie der Teufel in Person, doch ich sprach aus Überzeugung.

    Die Verwirrung dauerte nur einige Sekunden.

    »Und was ist mit den Niagarafällen?«, erkundigte sich Kenneth.

    »Das ist ein Gerücht, Ken«, erwiderte ich aus dem Bauch heraus, denn ich wusste die Antwort nicht. »Wer sollte schon so etwas Unsinniges gewagt haben wie die Niagarafälle zu überqueren? Niemand!«

    Ich hielt den Atem an.

    »Bis jetzt zumindest. Aber ich werde es tun. Wenn wir erst einmal berühmt sind, dann …«

    »Blondin!«, sagte plötzlich eine laute Stimme hinter mir.

    Ich drehte mich um und sah verwundert, aber auch etwas verärgert in Carmens haselnussbraune Augen.

    »Blondin?«

    Sie nickte, strich sich dabei eine rebellische Strähne aus dem Gesicht. Eine Geste, die ich nur allzu gut kannte. In diesem Augenblick wäre ich für sie sogar die Niagarafälle runtergesprungen, nackt mit einer Feder im Arsch, wenn sie es verlangt hätte!

    »Charles«, sagte sie. »Charles Blondin. Er hat die

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