Symbolismus und Jugendstil: Bildkunst des 20. Jahrhunderts
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Buchvorschau
Symbolismus und Jugendstil - Serges Medien
BILDKUNST
SYMBOLISMUS
und
JUGENDSTIL
TABLET ART
Inhalt
Cover
Titel
Bildkunst des 20. Jahrhunderts
Farbtafeln und Bildinterpretationen
Vielfalt der stilkünstlerischen Ansätze um 1900
Verfahren der Bildorganisation in Symbolismus und Jugendstil
Optischer Widerstand und Mehrdeutigkeit
Offene Kompositionsweise und Bevorzugung des Stofflichen
Relationale Bezüge statt attributiver Detailtreue
Ideengeschichtlicher Hintergrund, gesellschaftlich-soziales Umfeld und Rezeption der Bildkunst um 1900
Krisenstimmung und Reformbestrebung
Zusammenschau theoretischer und praktischer Aktivitäten des Jahres 1893
Stilkunst als Erneuerung des Lebensstils
Künstlerische gegen technische Kommunikation
Anmerkungen zum Einführungstext
Nachweis der Zitate zu den Farbtafeln
Literaturhinweise
Kurzbiografien der vorgestellten Maler
Impressum
Bildkunst des 20. Jahrhunderts
mit 73 Farbtafeln der Maler
Farbtafeln
und
Bildinterpretationen
Zuerst verstreut veröffentlicht in bibliophilen Zeitschriften, wie der „Insel, dem „Amethyst
, dem „Hyperion oder den „Opalen
, erregten die Arbeiten des früh verstorbenen Engländers Beardsley auch in Deutschland nicht geringes Aufsehen, so dass seine geschlossenen Illustrationsfolgen, z. B. zu Oscar Wildes „Salome (1896), Alexander Popes „Lockenraub
(1896/97), und seine nachgelassenen Zeichnungen zu Ben Jonsons „Volpone (1896) auch hier in Buchausgaben erschienen. Seine in England verpönten, zupackend-frechen, satirisch-erotischen Illustrationen zur „Lysistrata
des Aristophanes zirkulierten In deutschen Verehrerkreisen.
Eine ganze Generation begabter Zeichner bis hin zu Bühnenbildnern geriet in den Sog des Engländers, in Deutschland insbesondere 0. Eckmann, Th. Th. Heine, Alastair und nicht zuletzt K. Vogeler (→ Bild 69). Beardsley hat die Sentenz seines Landsmanns Wilde, dessen in vielen Fazetten schillernde Dichtung er besonders schätzte, wörtlich genommen: „Tugend und Laster sind dem Künstler das Material für sein Kunstwerk"; Beardsleys künstlerische Mittel dagegen sind die Linie, der scharfe Umriss und die Fläche.
Zum Thema der hl. Rosa von Lima heißt es in einem Novellenfragment „Unter dem Hügel. Eine romantische Erzählung (von Rudolf Alexander Schröder ins Deutsche übersetzt) des doppelbegabten Künstlers: Santa Rosa, die berühmte peruanische Jungfrau; wie sie sich einer ewigen Jungfrauenschaft weihte, als sie vier Jahre alt war (…) und am Hochzeitsmorgen (…) auf einen kleinen Hügel nicht sehr weit außerhalb der Mauern von Lima ging, wie sie da niederkniete und einige Augenblicke zärtlich den Namen Unserer Frau anrief und wie die heilige Maria herniederkam und Rosa auf die Stirn küßte und sie schnell in den Himmel entführte.
1 Aubrey Beardsley
Die hl. Rosa von Lima, 1896
Farblithografie, 23,1 x 16 cm
Die Gestaltung des Isolde-Themas spricht bei dem großen Wagner-Verehrer für sich. Isolde glaubt den Todestrank zu nehmen, der aber ein Liebestrank ist. Dem Künstler geht es bezeichnenderweise nicht etwa um eine Szene des musikalischen Dramas, sondern einzig und allein um die Frauengestalt. Dargestellt ist denn auch lediglich eine Frau in reichen Kleidern, die einen Becher zum Mund führt. Erst durch die Bildinschrift wird diese Darstellung zum Isolde-Bild.
Statt eines anatomischen Gesamtplans, statt „Richtigkeit" der Körperzeichnung werden bloß anatomische Anhaltspunkte, wie Gesicht, Hände oder Füße, gegeben; statt plastischer Durchbildung der Figuren, Gewänder oder anderer Accessoires bestimmt der Wechsel von Linienstück und Flächenteil das Bild. Dieses im Sinne jeder realistischen Zeichnung als mangelhaft anzusehende Vorgehen wird von Beardsley zum künstlerischen Organisationsprinzip seiner Arbeiten verfeinert. Peinlich ist er darauf bedacht, jeden individuell-spontanen Duktus des Linienzugs zu vermeiden, indem erden Salinen, Linien und Linienbündeln ein wie aus Dralit gestanztes und den mit dem Lineal gezogenen Geraden ein wie aus technischen Zeichnungen stammendes Aussehen gibt. Diese technische Schärfe und exakte Gleichmäßigkeit der Linie hatte schon William Blake (→ Bild 4) gefordert. Neben dieser realistische Gesichtspunkte außer acht lassenden und damit alltägliche Wahrnehmungsmuster in Frage ziehenden künstlerischen Absicht sehen wir den Aspekt des zeichnerischen Herstellens des Bildes dort hervorgehoben, wo die Entwicklung der Linie aus ihrem Grundelement, dem Punkt, immer wieder vorgeführt wird.
2 Aubrey Beardsley
Isolde, um 1895
Farblithografie, 24,8 x 15 cm
Aus: „The Studio", London 1896
Drapierung und Kostümierung sind je nach Sichtweise von durch Linien gegliederten und organisierten Flächenteilen bestimmt oder durch Flächenteile, die das in den Binnenformen oft haarfeine Lineament betonen. Dabei wird im Prozess des Zeichnens von allen zufälligen Merkmalen, z.B. auf Gesicht oder Kleidung, abgesehen, und zwar so, als ob verschiedene Figuren so lange übereinandergezeichnet wurden, bis das Ergebnis ein typischeres Bild liefert als jede einzelne Zeichnung für sich genommen. Die von wie auf Perlschnüren aneinandergereihten Punkten, Linien und Linienzügen umschlossenen Flächen, die Bewegungs-, Haltungs- und Zustandstypen kennzeichnen, führen zu dekorativen Stilisierungen und zugleich zu unregelmäßiger Flächenornamentik, bei der oft große leere Flächen gegen zeichnerische Fülle ausgespielt werden, unterstützt durch Waagerecht-Senkrecht-Orientierung in gestreckten Hochformaten. Trotz seiner langzügigen, manchmal nahezu musikalischen Linienrhythmen und der genüßlichen Betonung ihrer kalligrafischen Werte wendet sich der Künstler von konkreter Darstellung nicht etwa ab zugunsten der Vielfalt nicht unterschiedener freier Ornamentformen. Im Gegenteil: Beardsleys zeichnerische Klasse und sein künstlerisches Engagement liegen darin, dass er statt Kostümpose ohne Anatomie gerade besondere Teile der menschlichen Anatomie betonende Kostümierungen entwirft, die je nach Einstellung des Betrachters den Sachverhalt des Nackt-Bekleideten bzw. Bekleidet-Nackten entweder reich drapieren und damit verbrämen oder offenkundig machen. Diese Möglichkeit des „Umkippens" der Bildinformation weist ihn nicht zuletzt aus als subtilen Demaskierer der Fin-de-siècle-Gesellschaft, speziell ihrer Einstellung zur Frau.
3 Emile Bernard
Madeleine im „Bois d’Amour" 1888, Öl/Lwd.
138 X 163 cm
Paris, SIg. C. Altarriba
Mit seiner theoretischen und zugleich künstlerisch-praktischen Begabung ist Emile Bernard durchaus als Kopf der Künstlergruppe im bretonischen Dorf Pont-Aven zu bezeichnen, zu der für längere oder kürzere Zeit P. Gauguin (→ Bild 14 bis → Bild 16), Gh. Filiger, Ch. Laval, L. Anquetin, P. Seguin und P. Sérusier (→ Bild 55, → Bild 56) gehörten. Bernards Malerei muss mit der Gauguins zum Höhepunkt symbolistischer Bildkunst gerechnet werden, sie liefert allerdings auch eine wesentliche Grundlage für die Jugendstilmalerei.
Unser Beispiel stellt die Schwester des Künstlers dar; siebzehnjährig kam sie 1888 nach Pont-Aven, wo auch Gauguin sie malte.
Groß-wie Kleingliederung des Bildes drängen die realistisch-illusionistische Raumdarstellung zurück sowie jede plastische Durchbildung der Bildgegenstände, einmal durch Einteilung der gesamten Bildfläche in plane, von unten nach oben waagerecht aufgeschichtete Zonen, die im wesentlichen den dargestellten Gegenständen entsprechen: Waldrand, darüber die über die ganze Breite des Bildes gelagerte Figur, dann ein Waldstück mit Baumstämmen, eine schmale Wasserzone und ein Grünstreifen. Zum anderen werden innerhalb dieser flächengerechten Aufschichtung im wesentlichen ungeschwächte Farben mit Hilfe eines farbtrennenden Konturs zu verschieden großen Farbformen angeordnet. Diesen oft schwarz- bzw. blaufarbigen Kontur, der die einzelnen Farbformen umschließt, gleichzeitig innerhalb des durch ihn bestimmten Bildaufbaus einen allseitigen Kontakt der Bildelemente untereinander herstellt, arbeitete Bernard mit Anquetin 1887 zum cloisonnistischen Verfahren aus, das Gauguin aufgriff und berühmt machte.
Als Begründer des Pont-Aven-Stils entwickelte Bernard damit für die von Moreau (→ Bild 38, → Bild 39; vgl. Kapitel Relationale Bezüge statt attributive Detailtreue.) eingeleitete beziehungsreiche Darstellungsweise ein eigenes künstlerisches Verfahren, das er als neue Bildnorm setzte.
4 William Blake
Illustration zum allegorischen Gedicht „The Four Zoas"
Aquarellierte Federzeichnung, Privatsammlung
Schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erlangen Kräfte des irrationalen Seelenlebens überwältigende Stärke; ausgehend vom Humanitätsideal der Aufklärung, werden die Schranken des bloß rationalen Denkens geöffnet, indem man bereit ist, den Menschen in seiner Ganzheit aus Erleben, Fühlen, Denken und Handeln zu sehen. Es erhebt sich ein gärender Gefühlssturm gegen das „tintenklecksende Säkulum" (Schiller).
Ohne den Grafiker, Maler, Dichter, Mystiker und Visionär, den Engländer William Blake gleich zum Symbolisten machen zu wollen, hat er, ein künstlerischer Exponent dieser Umwälzung, zusammen mit dem Schweizer Maler Johann Heinrich Füssli (1741-1825), der seit 1764 in England lebte und arbeitete, das größte Anrecht darauf, als Vorläufer symbolischer Kunst angesehen zu werden.
Wie das hier gewählte Beispiel anschaulich macht, gerade weil es thematisch durchaus konventionell ist, liegt Blakes Vorläuferschaft darin begründet, dass er nicht mehr die sichtbare Welt in Ausschnitten oder die mythologisch-iiterarische als sichtbare darstellen möchte, sondern dass er das Konzept verfolgt, die unsichtbare und ungreifbare Welt des Geistes und der Seele ins Bild zu holen. Damit sieht er sich als Künstler vor das Problem gestellt, die den alltäglich eingeübten Seh- und Darstellungsgewohnheiten verpflichteten Verfahren der Bildorganisation zu unterlaufen und umzupolen. Denn der sinnliche Wahrnehmungsakt hat für Blake seine Vorherrschaft eingebüßt: „Ich sehe nicht mit dem Auge, sondern durch das Auge. Doch wie kann es gelingen, mit sichtbaren und greifbaren „äußeren
Mitteln der Malerei Unsichtbares und Ungreifbares zu gestalten?
Blake, der die künstlerisch-schöpferische Tätigkeit insofern radikalisierte, als er sie als wichtigsten Teil seines individuellen Lebensvollzugs verstand, verzichtet auf realistische Dingschilderung, auf attributive Verschönung der Bildgegenstände; er setzt die Farbe weder idealisierend noch als sinnlichen Reiz ein. Dies bringt ihn zu einem brauchbaren Verfahren, das es Ihm erlaubt, eine einheitliche Bildgestalt zu erzeugen, die an der „Wahrheit der Natur" nicht mehr gemessen werden kann.
Die Wirksamkeit seines Verfahrens zeichnet sich durch aperspektivische Raumgefüge aus, die nacn Belieben verschoben werden können, so dass es oftmals zu einem örtlichen Irgendwo der Bildgegenstände kommt. Dem Betrachter wird durch diese bildkünstlerischen Maßnahmen die Möglichkeit der unmittelbaren Identifikation mit der körperlichen wie örtlichen Realität der Figuren genommen, d.h., die vertraute Illusion eines physischen Lebensraums im Bild wird zugunsten eines bildeigenen Flächenraums aufgegeben. Dort ist dann die Linie als Umriss und als Begrenzung der Binnenformen vorherrschend. Erst in diesem bildeigenen Flächenraum kann der Künstler damit rechnen, dass der Betrachter Verzeichnungen der Anatomie und Verzerrungen der Physiognomie hinnimmt und allmählich lernt, ihre Zeichenhaftigkeit zu verstehen.
Wirkung und Nachleben der Malerei Böcklins sind für die Stilkunst um 1900 ebenso bezeichnend wie einzigartig. Denn der Künstler, dessen Ziel es war, „den Geist mehrerer Künste in einer zu umfassen und auszudrükken (R. Much), vermittelt zum einen die Richtung der Kunst, die, den Entwicklungsstrang französischer Impressionismus und Cézanne auslassend, von der Spätromantik über Symbolismus und Jugendstil zum Surrealismus des 20. Jahrhunderts führt. Der die Kunstgattungen übergreifende Charakter Böcklinscher Malerei ist zum andern In den poetischen, malerischen und musikalischen Momenten ihrer Wirkungsweise überraschend zu belegen. In Hofmannsthals „Idylle
(1893) beginnt die Anweisung: „Der Schauplatz im Böcklinschen Stil, in Rilkes „Die weiße Fürstin
(1898) ist Böcklins „Villa am Meer (1878) der Schauplatz, von dem Expressionisten Nolde sind „Böcklin-Studien
(1899) erhalten, 1913 komponierte Reger seine „Böcklin-Suite. Wie populär die Malerei des Schweizers war, zeigt der Hinweis Max Halbes: „Zwischen 1885 und 1900 durften in keinem guten Bürgerhaus die Reproduktionen Böcklinscher Bilder, die Toteninsel, Das Schloß am Meer, Der Frühlingstag… fehlen.
Themen, meistens im Atelier gemalt, sind Villen und Tempel, das Meer mit seinen Phantasie und Mythologie entstammenden Bewohnern, Ruinen mit Zypressen und schwarzen Vögeln, heitere wie trauernde Gestalten unter schlanken Birken und Pappeln, oft symbolisch befrachtete (Selbst-)Porträts - frei kombinierte Bildzusammenhänge aus Teilen der uns vom alltäglichen Umgang, aus Literatur und Bildkunst nicht unvertrauten Welt. Anfänglich kleinfigurige antikische Staffage wird zu bildeigenen. oftmals monumentalen Figuren verselbständigt, die es am ehesten zu gestatten scheinen, „von der langwelligen Erde loszukommen" (Böcklin), indem sie griechische Götter, Nymphen, Pane, Faune, Tritonen, Kentauren präsentieren, die als von außen auf Natur und Menschen zugleich wirkende Kräfte verstanden werden sollen.