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Lilli und ihre Geschichten: Die frühen Sechziger Jahre
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eBook206 Seiten3 Stunden

Lilli und ihre Geschichten: Die frühen Sechziger Jahre

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Über dieses E-Book

Die Autorin entführt die Leser mit ihrer erfundenen Romanfigur Lilli Knöppkipperdellinger in eine bewegte Zeit, inmitten der sechziger Jahre. Eine Zeit im Wandel, geprägt von Auflehnung und Protesten.

Lilli Knöppkipperdellinger lebt mit ihrer strengen, autoritären und traditionsgebundenen Familie im Wuppertal der wilden sechziger Jahre.
Sie ist ein rebellisches, eigensinniges und schnell verletzbares Mädchen, dessen abirrendes Selbstgefühl dauernde Kampfansagen mit sich bringt.
Was ihre Eigenwilligkeit betrifft, wagt sie es mit gerade mal vierzehn Jahren, gegen Bevormundung, altväterliche Gebräuche und eiserne Strenge aufzumucken.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Jan. 2021
ISBN9783347243750
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    Buchvorschau

    Lilli und ihre Geschichten - Monika Schäfer

    Lilli erlebt Vaters Autorität

    Bei so einem Mistwetter sollte man echt gezwungen werden liegen zu bleiben. Die Zeit hatte sich längst verabschiedet, in der frühmorgens die Sonnenstrahlen ins Zimmer schienen und meine Nase kitzelten. Der trübe und nasse Novembermorgen zeigte sich erbarmungslos. Die Häuser lagen noch unter geheimnisvollen, diesigen Nebelschleiern, aus denen ein paar Lichter hindurchschimmerten. Es existierte die trübste Zeit des Jahres. Die Ausläufer eines Orkantiefs waren bereits über Deutschland gefegt, hatten etliche Bäume entwurzelt und einzelne Dächer abgedeckt. Die Sturmwinde zeigten sich grausam und schonungslos. Der Herbst hatte mit seinen Unwettern und schaurigen Novemberstürmen schon seit langem alles fest im Griff. Besonders die Knochen ließen einen spüren, dass er in seinen letzten Zügen lag und der Winter vor der Tür stand. Umso quälender war es, pünktlich aus dem molligen Bett zu kommen. Man konnte ihn längst hören, unseren Vater, wenn er in aller Herrgottsfrühe die Treppe hochbullerte wobei sämtliche Fugen knarzten. Noch im Halbschlaf tauchte ich unter mein Kopfkissen und zog es, so fest ich konnte, um meinen Kopf, ehe die Zimmertür aufflog.

    Wie Knecht Ruprecht polterte er in meine Kammer und zog mir die Bettdecke weg, um mich aus dem Schlaf zu holen. „Los, raus aus der Pupshöhle, zack, zack, aufstehen! Es ist Zeit für die Schule! Und mach das Fenster auf, hier müffelt es! „Nur fünf Minuten noch, es ist doch noch so dunkel!, zwängte sich mein klägliches Stimmchen unter dem Kissen hervor. „Das sind die Richtigen, die bis in die Nacht Bravo lesen und morgens nicht aus den Federn kommen! Los jetzt Lilli, raus aus der Koje, ich sag’s nicht noch einmal!"

    An jedem verfluchten Morgen ließ er die Puppen tanzen. Schonungslos und auf gleiche Art und Weise wurden auch meine Schwestern munter gemacht. Dann stapfte er die Treppe wieder nach unten, sodass seine Marschtritte durch das ganze Haus dröhnten. Tagtäglich trat er an wie ein Bataillonskommandeur, der es genoss, seiner Kompanie den Schlaf abzugewöhnen. Halbwach und beduselt vergingen Minuten, bis meine Lebenssäfte begannen zu fließen. Gähnend, wie ein Stubentiger, räkelte und reckte ich mich und hörte, wie es draußen blies und der Regen gegen die Scheibe peitschte. „Als ob irgendwer bei so einem Hundewetter das Fenster öffnet!, sprach ich mit mir selbst. Schläfrig und schwerfällig versuchte ich in die Senkrechte zu kommen, plumpste aber immer wieder zurück auf die Matratze. „Wenn ich doch nur liegen bleiben könnte, einen Winterschlaf halten, von mir aus solange, bis ich zu faulen anfing!, waren meine Gedanken.

    Die gemütskrank machende Dunkelheit am Morgen war quälerisch. Sie lähmte sogar die Zirkulation meiner Blutbahn, sodass ich nicht mal eben elastisch auf die Beine federn konnte. Im Zimmer war es saukalt. Ich fror. Also kroch ich wieder unter mein mollig-warmes Federungetüm, zog es mir bis zu den Ohren und dachte gar nicht daran, bei diesem Mistwetter die Luke aufzureißen. „Besser erstunken als erfroren, fand ich und ignorierte Vaters Appell. „Raus aus den Federn! Erneut hörte man ihn von unten brüllen. Jeden Morgen die gleiche Hölle auf Erden, wie er sein eigenes Fleisch und Blut in Unruhe versetzte. Gerade war unten die Tür ins Schloss gefallen. Vater hatte das Haus verlassen und war jetzt auf dem Weg zur Arbeit. „Endlich ist er weg!, atmete ich auf. „Vielleicht bläst ihm ja der Sturm eine Dachschindel… - sofort verdrängte ich die gemeinen Gedanken wieder. Aber um einen Antreiber mit Napoleon-Syndrom machte man so früh am Morgen besser einen großen Bogen, denn irgendwem hatte er immer auf die Finger zu klopfen. Wie im Schneckentempo bewegten sich meine bleiernen Gliedmaßen aus der warmen Koje in Richtung Lokus. Von unten kamen Flötenzische. Man hörte, wie Mutter versuchte ein Lied zu pfeifen. „So viel Stimmung noch vor dem Morgengrauen ist ja nicht normal, fand ich. Meine Zähne klapperten. Mir grauste vor dem eisigen Wasser, denn der Autogayser hatte mal wieder seinen Geist aufgegeben. Man hörte sogar, wie der Wind eine Melodie durchpfiff. Ich schlotterte. Es sollte endlich ein Klempner herkommen. Aus der Küche hörten wir Mutter melodiös rufen: „Kinder beeilt euch, es gibt Frühstück! „Jeden Morgen die gleichen Antreiber, murmelte ich vor mich hin. Aus dem Waschraum konnte man deutlich das Gurgeln und würgende Ausspucken meiner Schwestern hören und bestimmt auch noch nicht stabil vor dem Waschbecken standen. Sie waren wohl damit beschäftigt ihre Mundhöhlen zu entkeimen, um den nächtlichen faden Beigeschmack loszuwerden. Bleiern betrat ich das Badezimmer und steuerte auf das Klosett zu. „Morgen! Seid ja mal wieder die Ersten, hier kann man ja nie in Ruhe pinkeln! „Ist nix mit stillem Örtchen, war meine Bemerkung. „Morgen!, kamen zwei echoartige Krächzer zurück. Wegen der Kälte hatten sich beide einen dicken Wollschal um den Hals gelegt und Omas selbst gestrickte Kratzesocken an. „Ihr seht komisch aus, lästerte ich. Gähnend ließ ich mich auf dem Lokus nieder und pullerte ungeniert und geräuschvoll mein Morgenpipi in die Latrine. „Kann Madame Stinkgemütlich vielleicht solange warten bis wir hier fertig sind?, empörte sich Marie bereits nervlich verkrampft. „Soll ich mir etwa wegen euch in die Hose machen?, kam es unlustig zwischen meinen Zähnen hindurch. „Pah!, legte Marie los. Vielmehr wurde sowieso nicht geredet. Wir schafften es ohnehin immer nur auf den letzten Drücker, unsere nächtlichen Ausdünstungen mit einer flüchtigen Katzenwäsche zu beseitigen. Mutter wartete in der Küche schon mit dem Frühstück. Fast immer gab es Brot mit Margarine, Mattekäse und Marmelade.

    Wir lebten inmitten der sechziger Jahre. Aufschwung und Wohlstand waren zu spüren und es herrschte Vollbeschäftigung. Die größten Sorgen der Nachkriegsjahre waren vorbei. Kaum jemanden plagte der Hunger. Bei Unzähligen bedeutete das: lebendig sein, Vorwärtskommen und es zu etwas bringen. Der Fortschritt war überall gegenwärtig und betraf alle Bereiche des Lebens, von der Familie über Schule, Mode und Technik. Es war auch das Jahrzehnt der Fernsehwerbung! Was lag da näher als das HB Männchen Bruno. Ihn kannten bereits alle, die einen Fernseher besaßen. Genauso Frau Antje, die holländischen Goudakäse lobpreiste, und Clementine, die mit fleckenloser Wäsche prahlte. „Frauengold schafft Wohlbehagen, wohlgemerkt an allen Tagen!" Den labenden Trunk sollten ausgepumpte Hausfrauen zu sich nehmen, um neue Energie zu tanken, um für die Familie sämtliche lästigen und unbequemen Pflichten zu erledigen. Sogar eine Umfrage an das männliche Geschlecht kam auf, um zu ermitteln, ob man Frauen das Autofahren erlauben sollte was die Herren der Schöpfung generell und ausdrücklich ablehnten. Damals existierte eine Gesellschaftsform, die Frauenunterdrückte, benachteiligte und beispiellos unterbewertete. Was wäre ein Land ohne seine tatkräftigen und emsigen besseren Hälften gewesen?

    Noch immer wurden durch den Krieg die massenhaft entstandenen Baulücken nach und nach geschlossen. Die Wirtschaftslage im Bauwesen war bahnbrechend. Die Konjunktur ging eifrig voran. Zugleich waren in den Sechzigern gesellschaftliche Umbrüche und Reformen festzustellen, mit denen vor allem die Eltern und ewig Gestrigen zu kämpfen hatten. Wir bewohnten ein kleines Reihenhaus am Stadtrand von Wuppertal. Mutter hatte es von ihren inzwischen verstorbenen Eltern geerbt. Unser Opa, Karl Pömse, war von Beruf Installateur gewesen und hatte sich damals mit einer Klempnerei selbstständig gemacht.

    So hatten es die Großeltern allmählich zu etwas Wohlstand gebracht, was Opa jeden Abend mit einer dicken Zigarre und einem Gläschen Weinbrand zum Ausdruck brachte. Opa hatte immer daran geglaubt einen Schwiegersohn zu bekommen, der den Betrieb einmal übernehmen würde. Aber Mutter brachte zu seinem Missfallen einen Knauser und Quengler mit nach Hause. „Dieser Mann wird niemals seine Nase in fremder Leute Kloschüsseln stecken oder übelriechende Kloaken analysieren! Den stört doch der kleinste Fliegenschiss an der Wand!", regte Opa sich mehrfach auf. Er war von Anfang an der Meinung, Mutter hätte einen genießbareren und gebefreudigeren Mann verdient und prophezeite ihr, mit ihm noch ihr blaues Wunder zu erleben. Auch der Nachname sei ja wohl ein Scherz. Wer heißt schon Knöppkipperdellinger? Mit dem könne man doch bloß verunglimpft werden. Dabei empfand Mutter, solange sie denken konnte, ihren Nachnamen Pömse auch nicht gerade als ein Prädikat.

    Ich erinnere mich an eine Vorweihnachtszeit als wir noch klein waren. Den Heiligen Abend feierten wir fast immer bei den Großeltern, der früheren Raumknappheit wegen. Unsere Wunschzettel, die wir nach eigenen Ideen mit bunten Bildchen bemalt hatten, waren bereits im Verlauf der Adventszeit von der Fensterbank verschwunden. Auch unsere Puppen waren futsch. Am Heiligen Abend sahen wir sie wieder. Da standen sie nun, unsere Lieblinge, neu eingekleidet und herausgeputzt unter dem Tannenbaum. Die bunten Teller voller Süßigkeiten sowie die ersehnten Spielsachen hatten unsere Gesichter glücklich strahlen lassen. Die ganze Familie saß vor einer mächtigen Blautanne, die mit üppig viel Lametta zugeknallt war. Das weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer funkelte und leuchtete bilderbuchmäßig - samt unserer Kinderaugen.

    Nach der Bescherung und ein paar gesungenen Weihnachtsliedern wurde geschmaust. Wie immer an Heiligabend gab es die klassische Weihnachtsgans, die Oma mit selbst gemachten Kartoffelklößen und Rotkohl servierte. Zum Nachtisch gab es Apfelkompott mit Sahnehäubchen. Dem Dessert folgten Gebäck und Bohnenkaffee für die Erwachsenen, wobei der aromatische Duft durch das ganze Haus zog. Zum Abschluss kredenzten sich die Männer einen Weinbrand und Opa rauchte dazu eine Zigarre. Was waren wir doch bürgerlich und hausbacken! Wir Knöppkipperdellingers waren eine Familie aus schlichtem Geblüt sowie aus der Fraktion der Haushälterischen. Wir erlebten die günstige Zeit der Neuordnung, selbst wenn noch keine Sauseschritte möglich waren. Genau genommen waren wir eine Familie Prunklos, aus dem Milieu der Kalkulierenden, die sich mit einem Übermaß an Prasserei und Geaase wohl noch in Geduld üben mussten. Wir sahen noch nicht die Brathühnchen am Horizont schmurgeln. Bescheidenheit und Sparsamkeit war der Leitsatz unserer Eltern und etepetete gab es ohnehin nicht. Mutter Christel kümmerte sich um den Haushalt und die Kindererziehung und Vater Kurt verdiente die Pinkepinke. „Was man nicht hat, kann man auch nicht ausgeben", war seine Auffassung. Und was Knickrigkeit und Knausrigkeit betraf, war unser Vater ne besondere Kanone. Andererseits machte das Zusammenkratzen eines Notgroschens mit Vaters Verdienst auch wenig Sinn. Immerhin hatten wir ein Dach über dem Kopf, eine hübsche, warme Wohnung, wurden satt und liefen auch nicht nackt herum.

    Unsere Eltern hatten sich die Namen Liliane, Marie und Ursula für uns ausgedacht. Wir waren ein Trio von früh pubertierenden Früchtchen, altersmäßig ziemlich nah beieinander, bei denen Kratzbürstigkeiten ebenso stattfanden wie Eifersüchteleien. Nach unserer Geburt hatte Mutter sich jedes Mal einen Lappen um ihr Bein gewickelt und uns Kindern erzählt, dass der Klapperstorch der Mutti wieder ins Bein gebissen hat.

    Mit zahlreichen Frauen unter einem Dach zu leben ist für einen einzigen Mann hin und wieder zum Reißaus nehmen", stöhnte Vater häufig. Er bedauerte des Öfteren sein Schicksal. Er hatte sich die Suppe ja selbst eingebrockt, fand ich. Wir waren aber schon aus dem Gröbsten heraus, was ihn immer wieder auf die Beine brachte. Naturgemäß hätte Vater zumindest einen Stammhalter gehabt, den ihm der Allmächtige leider verwehrte. Die Eltern hatten es dann nicht mehr gewagt, das Schicksal noch einmal herauszufordern, um vermutlich wieder ein Mädchen zu bekommen. Für Vater war nach so viel weiblicher Übermacht die Familienplanung ohnehin abgeschlossen. Die Aufzucht von vier nistenden Frauenzimmern wollte er schlicht nicht riskieren. Die Verhütungspille war noch auf Umwegen.

    Meine Schwestern waren kaum jünger als ich, Lilli, 1955 als erstgeborene. Marie, mit ihren brünetten Locken, war die Zweitgeborene. Von Natur aus still und zurückhaltend konnte sie zugleich auch launenhaft, hinterlistig und gemein sein. Rulla war die Jüngste. Ihr richtiger Name war Ursula. Da sie aber als kleines Kind endlos das Lied „Rulla, rulla, rullala" trällerte, nannten wir sie Rulla und dabei ist es geblieben. Wir wurden alle kurz nacheinander in die Welt gesetzt. Gegenwärtig standen wir inmitten jener Evolution und Zerreißprobe, was Aussehen, Charakter und innere Werte betraf. Ich war beinahe vierzehn und gerade drohte uns die schwierigste Zeit eines aufblühenden Menschen, die sogenannte pubertäre Phase. Immerzu war ich damit beschäftigt, das Gedeihen unserer noch nicht erkennbaren Weiblichkeit abzuwägen. Nahezu manisch beäugte ich die Vorderseiten meiner Schwestern und verglich sie vorsichtig mit meiner. Es war müßig, auf das Anschwellen meiner Brüste zu hoffen. Selbst ansatzweise rundete sich nichts ab. Zeitweise befürchtete ich den totalen Stillstand meiner Hormone und glaubte, einfach schwer durchlässig zu sein. Auch in Bezug auf mein Alter wirkte ich komplett belanglos.

    Ich war in jeder Hinsicht verspätet dran. Es war vergebens und für die Katz, den Allvater deswegen anzuflehen, denn mein Beten und Bitten stieß offenbar bei ihm auf taube Ohren. Als ich noch ein Kleinkind war, beschäftigten mich Mutters Brüste wohl auf ganz besondere Weise. Ich glaubte, sie wären schwer verletzt, weil sie in der Mitte auseinandergingen. Immer wieder tippte ich mit dem Finger zwischen die Ritze und plapperte „Mama aua", während Mama nur verlegen kicherte. Papa hingegen kam mit Mamas Üppigkeit wohl ausgesprochen gut zurecht. Das offenbarten seine interessierten Blicke häufig. Mir war es eindeutig zu viel des Guten, da war ich mir fast sicher. Die traditionelle, klassische Erziehung hatte bei uns zu Hause den höchsten Stellenwert, diese Bravheit und Gefügigkeit war noch tief verwurzelt. Es bedeutete pflichtbewusst, gehorsam, ordentlich und pünktlich zu sein. Besonders aber bedeutete es, in die Hände zu spucken und der Mutter im Haushalt zur Hand zu gehen. Wer bockig oder widerspenstig war, bekam eins hinter die Löffel. Vaters persönlicher Standpunkt hatte oberste Priorität, daran gab es nichts zu rütteln. Geplauder oder Wortergüsse waren ihm stets unbequem und lästig. Das bewiesen fortwährend seine veralteten und längst überholten Handstreiche. Hausarrest, Ohren langziehen, prickelnde Backpfeifen oder satte Kopfnüsse waren seine beliebtesten. Noch viel weniger waren Eltern bereit, ihre Einflussnahme und Autorität gegenüber ihren Kindern in Frage stellen zu lassen. Der starke Drang nach mehr Freizügigkeit und Selbstbestimmung, den die Pubertierenden in wachsendem Maße verspürten, wäre wohl das Letzte gewesen, dem sie zugestimmt hätten. Man hatte gegenüber seinem Nachwuchs schließlich eine Verantwortung. Außerdem waren die Zeiten viel zu gefährlich, sodass es nicht schwer war, auf die schiefe Bahn zu geraten. Dennoch: Bei uns gab es weder Debatten noch Aussprachen. Wir hatten zu parieren, zu kuschen und dem lieben Gott zu danken, dass wir auf der Welt waren.

    Von den neuen, absurden Zeitgeistern mit pädagogischer Besserwisserei, wie man es bereits im Fernsehen wissenschaftlich behauptete, hielten unsere Eltern erst recht nichts. Derartiges hatte bereits vor hundert Jahren schon nichts getaugt. Man hatte den Eltern und Erwachsenen gegenüber gehorsam und gefällig zu sein, anders wäre einem die Hölle heiß gemacht worden. Zeitweilig erklangen sogar Misstöne, wenn wir auf unseren Hinterteilen rhythmisch kuriert wurden. Für Vater war das Verfallsdatum des antiquarischen Erziehungs-Systems noch lange nicht abgelaufen. Er war ebenso der Auffassung, eine Frau müsse unberührt in die Ehe gehen. Da habe ich mal nachgerechnet und gedacht, dass er wohl auch nicht die Katze im Sack gekauft hatte. Immerhin plauderte Mutter eines Tages aus, wie sie Vater einst kennenlernte. Er hatte ihr damals aus der zähen Masse einer Teerdecke geholfen und war seitdem daran kleben geblieben. Er hatte beobachtet, wie sie mit ihren Pfennigabsätzen im warmen Teer versank. Alles Ziehen und Zerren halfen nicht, als er versuchte, sie zu befreien. Die Schuhe steckten zu tief. Auf Strümpfen hüpfte sie am Ende aus der schwarzen Masse heraus. Für Mutter war es auch immer klar gewesen, dass es für eine Frau das Normalste auf der Welt war, ganz und gar nur Hausfrau zu sein. Ohne zu zögern und wie selbstverständlich wählte sie diese Bestimmung auch für sich und Vater war mit ihr einer Meinung. Sie war auch der Auffassung, dass es eigentlich nichts Wichtigeres auf unserem Planeten gäbe, als Kinder charakterfest und lebenstüchtig aufzuziehen. Vorwiegend wurde diese Aufgabe von der Ehefrau gemeistert, vielfach sogar ohne Unterstützung des Ehemannes.

    In den sechziger Jahren waren die meisten Kinder, im Gegensatz zu heute, längst nicht so weich wie Wackelpudding. Selbst Allergien waren unbekannt. Wir erreichten und erledigten alles zu Fuß, ohne Bus und Straßenbahn oder eigenen Chauffeur. Wir hatten zwar kein Auto, aber immerhin ein knatterndes Motorrad.

    Oma und Opa mütterlicherseits waren so, wie man sie sich als Kind wünschte: eben Richtige zum Trost spenden und um sich auf den Lorbeeren

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